Ely, Juni 1070

Cædmon war unwillig gewesen, Helmsby zu verlassen, und hatte seinen Aufbruch so lange wie möglich hinausgezögert. Er wartete Hylds Niederkunft ab. Zwei Tage, nachdem der König aufgebrochen war, brachte sie wiederum einen gesunden Jungen zur Welt. Ihre Mutter hatte sie entbunden, und die Geburt war reibungslos verlaufen. Hyld hatte ihren Sohn wieder Olaf nennen wollen, aber Erik fürchtete, es könne ein schlechtes Omen sein. Sie verständigten sich auf Harold, nach dem letzten englischen wie auch dem letzten norwegischen König. Cædmon fand, sie hatten schlecht gewählt, denn in einem normannischen England würde jeder Mann an diesem Namen schwer zu tragen haben.

»Aber nicht im Norden«, hatte Erik auf seinen Einwand erwidert.

Es war Cædmon auch schwerer als sonst gefallen, sich von Gytha und dem kleinen Ælfric zu trennen. Schließlich hatte er ihr gestanden, was der König von ihm verlangte. Gytha nahm es weitaus gelassener als er. Nur weil er heirate, müsse sich doch nichts ändern, hatte sie angeführt. Cædmon war sich da keineswegs sicher. Er fand, zwei Frauen machten sein Leben kompliziert genug. Eine dritte, noch dazu eine Ehefrau, war wirklich das letzte, was ihm fehlte. Bevor er aufgebrochen war, hatte er mit einer kurzen, undramatischen Bekanntmachung in seiner Halle offiziell gemacht, was ohnehin alle wußten: Vor seinem versammelten Haushalt hatte er die Vaterschaft von Gythas Sohn anerkannt. Alle außer Marie hatten ihm Beifall gezollt und auf das Wohl des kleinen Ælfric angestoßen.

Erst als sein Gewissen ihm schließlich keine Ruhe mehr ließ, war er aufgebrochen. Ein halber Tagesritt brachte ihn zu einem kleinen Fischerdorf am Rande des großen Sees, der, durchzogen von Untiefen, Sümpfen und Wasserläufen, die Klosterinsel umgab. Die Fischer sagten, nach dem nassen Frühjahr seien die Wege durchs Moor noch tückischer als gewöhnlich, also ließ Cædmon Widsith in ihrer Obhut zurück und zahlte einem der Fischer einen halben Penny, damit er ihn mit seinem Boot hinüberbrachte.

 

Kein Mönch, sondern ein angelsächsischer Goliath öffnete auf sein hartnäckiges Klopfen die Klosterpforte. Er musterte Cædmon von Kopf bis Fuß und stemmte die Hände in die Seiten. »Und?«

»Mein Name ist Cædmon of Helmsby, ich möchte zu meinem Bruder.« Das finstere Gesicht hellte sich augenblicklich auf. »Helmsby?!« Eine Pranke krallte sich um Cædmons Arm und zog ihn über die Schwelle, während eine zweite auf seine Schulter eindrosch. »Komm rein, komm rein, Mann! Den Namen hören wir hier gern! Hat der verfluchte normannische Bastard dich endlich aus seinen Klauen gelassen, ja?«

»Na ja, ich …«

»Oh, wie wird dein Bruder sich freuen, dich zu sehen! Das muß ja Jahre her sein.«

Die unglaublich kräftige Hand schob Cædmon durch den einstmals so ordentlichen Innenhof der großen Klosteranlage, wo jetzt wenigstens zwei Dutzend Zelte wild durcheinander standen. Cædmon kapitulierte willig und ließ sich um die Kirche herum in einen zweiten, grasbewachsenen Hof und weiter zu einem kleinen, aber aus Stein erbauten Haus führen, das, so entsann er sich, den Kapitelsaal der Mönche beherbergte. Niemand war dort. Die dämmrige Kühle war äußerst angenehm nach der schwülen Hitze im Moor. Cædmon atmete tief ein und fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn.

Der Goliath lachte dröhnend, und die Pranke landete schon wieder auf seiner Schulter. »Verflucht heiß, was? Ich lass’ dir was zu trinken bringen und schick’ nach deinem Bruder. Warte hier. Meine Güte, wenn er hört, wer hier ist …«

Cædmon blieb allein in balsamweicher Stille zurück und fühlte sich, als sei er mit knapper Not einem Orkan entronnen. Es verwunderte ihn, daß dieser grölende Hüne so große Stücke auf Guthric hielt, der doch so gar nichts von einem Krieger an sich hatte und sich für nichts als fromme Bücher und deren Herstellung interessierte. Und es befremdete ihn ein wenig, daß Guthric sich offenbar auf Herewards Seite geschlagen hatte, denn noch im Winter, als Cædmon auf seiner Flucht hier haltgemacht hatte, hatte Guthric gesagt, gegen den gesalbten König zu rebellieren hieße, sich gegen Gott aufzulehnen. Er hatte Cædmon keine Vorhaltungen gemacht, daß er unerlaubt aus den Diensten des Königs geschieden war, denn wie jeder Engländer war auch Guthric entsetzt gewesen über das, was William in Northumbria getan hatte. Doch er hatte auch keinen Hehl daraus gemacht, daß seiner Meinung nach Männer wie Hereward und der Wilde Edric, der die Aufstände im Westen angeführt hatte, ebensoviel Schuld an den Ereignissen trugen wie der König selbst. Also was in aller Welt war passiert, daß Guthric seine Ansichten so grundlegend geändert hatte?

Ratlos trat Cædmon an das Lesepult in der Saalmitte, wo ein aufgeschlagenes Buch lag. Vier Spalten in einer säuberlichen, gleichmäßigen Handschrift. Er fragte sich, was wohl dort stehen mochte. Er hatte nur eine vage Ahnung, was Mönche sich bei ihren täglichen Versammlungen vorlasen. Heiligengeschichten vermutlich. Am oberen linken Rand der rechten Seite war ein sehr kunstvoll gemaltes, aber schauriges Bild: eine junge, barbusige Frau, die sich im Tanz wiegte, und in den über dem Kopf ausgestreckten Händen hielt sie eine Schale mit einem blutenden, bärtigen Kopf. Er mußte Guthric fragen, was es zu bedeuten hatte …

Schritte erklangen, und Cædmon wandte sich um. Gleißendes Licht fiel durch die geöffnete Tür, und er konnte nur drei Silhouetten ausmachen. Blinzelnd trat er ihnen entgegen.

»Welch unerwartete Ehre«, sagte der mittlere der drei Schattenrisse. »Der Thane of Helmsby.« Die Stimme klang rauh und leise, als litte der Mann an einer bösen Halsentzündung.

Cædmon spürte, wie die Haare in seinem Nacken sich aufrichteten. Plötzlich hatte er eine Gänsehaut auf den Armen. Die Stimme mochte heiser sein, aber er erkannte sie trotzdem. Er trat einen Schritt auf die hohe, lichtumflutete Gestalt zu.

»Dunstan …«

Ein rauchiges, leises Lachen. »Cædmon.«

Er trat noch einen Schritt näher, war endlich nicht mehr geblendet und konnte ihn deutlich erkennen. Energisch schüttelte er das leise Grauen ab und packte seinen totgeglaubten Bruder bei den Armen.

»Dunstan! Oh, Gott sei gepriesen.«

Dunstans Hände streiften seine Unterarme nur für einen Augenblick, dann ließ er ihn los und trat einen Schritt zurück. Der schlaksige Knabe, den Cædmon zuletzt vor über sechs Jahren gesehen hatte, war ein Mann geworden, aber davon abgesehen, war Dunstan unverändert. Nur der einstmals so kümmerliche Schnurrbart war dichter und dunkler, ein Kinnbart war hinzugekommen, der zum Teil seinen Hals und auch die Narbe des Pfeiles verdeckte, der ihn bei Hastings getroffen und seine Stimme entstellt hatte. Die eisblauen Augen waren so flink, funkelten so mutwillig wie eh und je. Cædmon erkannte, daß dieses Wiedersehen keine ungetrübte Freude sein würde.

»Du hinkst nicht mehr«, bemerkte Dunstan. »Welches Wunder hat das bewirkt?« Er schien wirklich neugierig.

»Ein normannisches Wunder«, antwortete er trocken. »Eine Roßkur. Aber wirksam.«

»Und dafür bist du so dankbar, daß du dich auf ihre Seite geschlagen hast«, stellte Dunstan fest.

Cædmon ging nicht darauf ein. »Vater sagte, ein Pfeil habe dich in den Hals getroffen. Er war sicher, du seiest tot.« Und im selben Moment dachte er: Rechtfertige dich nicht! Dazu besteht kein Grund, und er wird nur Kapital daraus schlagen.

Dunstan grinste breit. »Das dachte ich auch. Nachdem König Harold gefallen war, trug mich ein anderer seiner Housecarls vom Feld. Ein guter Freund. Er war in Hastings zu Hause und brachte mich zu seinen Leuten. So entkamen wir dem Gemetzel nach der Schlacht. Seine Großmutter hat den normannischen Spielzeugpfeil aus meinem Hals gezogen und mir mein eigenes Blut zu saufen gegeben. Deswegen bin ich durchgekommen.«

»Warum bist du nicht nach Hause gegangen? Wenn Mutter gewußt hätte …«

»Oh, ich war zu Hause, Cædmon. Doch ich fand die Halle meines Vaters verlassen. Eine halbe Meile weiter erhob sich eine normannische Burg. ›Da wohnt der Thane of Helmsby‹, hörte ich die Leute sagen. ›Der normannische Bastardkönig baut ihm eine Burg für seine treuen Dienste. Damit er das seine dazu beitragen kann, sein Volk zu unterdrücken.‹ Und als ich das nächste Mal nach Hause kam, um Eadwig zu holen und wenigstens ihn vor dieser normannischen Seuche zu bewahren, fand ich das Tor von normannischen Wachen versperrt.« Cædmon hob in vorgetäuschter Gleichmut die Schultern. »Sie standen dort, um nach mir Ausschau zu halten. Der König und ich hatten … Differenzen.«

Dunstan verzog den Mund zu einem verächtlichen Lächeln. »Ich bin überzeugt, ihr habt sie beigelegt.«

Cædmon nickte. »Vorläufig, ja.«

»Das wundert mich nicht. Man munkelt, der Bastard bevorzugt Knaben in seinem Bett. Auf deinen Arsch konnte er sicher schlecht verzichten.«

Cædmon seufzte. »Ich wünschte, Engländer und Normannen hätten in allen Dingen so viel gemeinsam wie in der Wahl ihrer bevorzugten, wenig einfallsreichen Beleidigungen.« Er unterbrach sich und betrachtete die beiden Männer, die links und rechts von Dunstan standen, unbewegt wie Götzen. Der eine war ein englischer Soldat in einem eisenbeschlagenen Lederpanzer – vielleicht der einstmalige Housecarl eines englischen Thane oder Earl, jetzt ganz gewiß einer von Herewards Getreuen. Der zweite war ein rundlicher, junger Mönch, der ehrfurchtsvoll an Dunstans Lippen hing.

Cædmon sah seinem Bruder wieder ins Gesicht. »Was grämt dich, Dunstan? Daß ich deinen Platz eingenommen habe? Nun, ich dachte, du seiest gefallen. Aber ich will dir nicht vorenthalten, was dir zusteht. Komm zurück, mach deinen Frieden mit dem König, und ich werde dir Helmsby überlassen.«

Dunstan schnaubte. »Ja, ich wette, daß dieses Angebot von Herzen kommt. Aber sei unbesorgt. Ehe ich meinen Frieden mit einem normannischen König auf dem englischen Thron mache, friert die Hölle ein.«

Cædmon unterdrückte eine bissige Erwiderung. Er betrachtete seinen Bruder und schüttelte langsam den Kopf. »Dunstan. Ich bin so froh, daß du lebst. Mein Weg war ein anderer als deiner. Du weißt genau, daß es nicht meine Wahl war, in die Normandie zu gehen. Aber ganz gleich, wo ich heute stehe und wo du heute stehst, wir sind immer noch Brüder.«

Dunstan blinzelte beinah unmerklich. Für einen Moment schien er zu schwanken. Aber er hatte sich sofort wieder unter Kontrolle. »Wo ist Eadwig?« Seine heisere, beinah tonlose Stimme war eine unmißverständliche Drohung.

»In Winchester. Als Knappe am Hof des Königs.«

Dunstan wandte angewidert den Kopf ab. »Und wo ist der König?« »Soweit ich weiß, auf dem Weg in die Normandie.«

»Und was suchst du hier?«

»Guthric.«

Dunstan trat einen Schritt auf ihn zu. »Ah ja? Ist das wirklich der einzige Grund für dein plötzliches Auftauchen in Ely? Oder hat dein geliebter König dich hergeschickt, uns auszuspionieren, nachdem er die Dänen bestochen hat, uns zu verraten und zu verschwinden?«

Cædmon sah ihm in die Augen und log ohne besondere Mühe. Wenn er eines als des Königs Übersetzer gelernt hatte, dann das. »Ich bin hier, um Guthric zu sehen.«

Dunstan zeigte ein überhebliches Grinsen, das Cædmon von früher nur zu vertraut war, und nickte. »Nun, mir würde nicht einfallen, deine Wünsche zu mißachten, Thane.« Er pfiff leise durch die Zähne, und mit eingezogenem Kopf trat der Goliath durch die Tür.

Dunstan wies auf Cædmon. »Bring ihn zu meinem frommen Bruder. Aber laß ihn nicht entwischen.«

Cædmon wandte sich argwöhnisch zu dem Hünen um, gerade rechtzeitig, um dessen massige Faust auf sich zufliegen zu sehen. Sie traf seine Schläfe, und die Welt wurde finster.

 

Er wachte mit einer fahlen Übelkeit auf, die er mit Jehan de Bellême in Verbindung brachte. So hatte er sich jedesmal gefühlt, wenn er einen harten Schlag auf den Kopf eingesteckt hatte. Aber er wußte, daß er Jehan schon lange entronnen war, er wußte auch, daß er sich in England befand und heute morgen Gytha in seinem Bett zurückgelassen hatte, um für den König irgend etwas zu erledigen.

Er richtete sich auf, befühlte seinen Kopf und kniff die Augen zusammen.

»Cædmon? Gott sei Dank. Ich konnte dich nicht wecken.«

»Guthric …«

»Wie fühlst du dich?«

Die Erinnerung kam zurück. Cædmon hielt seinen dröhnenden Schädel zwischen den Händen. »Dunstan …«

Eine Hand legte sich auf seinen Arm. »Alles in Ordnung?«

Cædmon sah blinzelnd auf. Guthric kniete direkt vor ihm, die dunklen Augen waren angstvoll geweitet. Sie befanden sich in einem dämmrigen, großen Gewölbe. Ein Talglicht brannte in einer Schale am strohbedeckten Boden. Gleich daneben lag eine reglose Gestalt. »Wo sind wir?«

»In Ely«, antwortete Guthric.

»Ja, das weiß ich selbst.«

»Das hier war einmal der Weinkeller. Aber den Wein haben die Dänen und Herewards Männer getrunken. Jetzt ist es das Verlies.«

Cædmon stöhnte. »Großartig. Sie ziehen mich magisch an …« Er richtete sich weiter auf und stellte fest, daß er dicht an einer Wand aus kühlen Steinquadern saß. Er lehnte sich mit dem Rücken dagegen. »Aber was tust du hier?«

Guthric wies wortlos auf den schlafenden oder bewußtlosen Mann am Boden. Cædmon rutschte näher. »Bruder Oswald!« rief er erschrocken. Der Bruder wirkte im schwachen Licht aschfahl, und er hatte aus Mund, Nase und Ohren geblutet. Cædmon nahm seine Hand. Sie war kalt und klamm.

»Ich glaube, er stirbt«, sagte Guthric leise.

Cædmon sah auf. »Was ist passiert?«

Guthric zog die Knie an, seine Kutte raschelte leise. Cædmon hatte sich immer noch nicht so recht an die Tonsur und die kurzgeschnittenen Haare seines Bruders gewöhnt.

»Ely war schon seit langem der Zufluchtsort für all jene, die sich normannischer Herrschaft nicht unterwerfen wollten oder konnten«, begann Guthric.

Cædmon nickte. Das wußte er so gut wie jeder andere Engländer. Es gehörte zu den vielen Dingen, die er vor dem König geheimhielt.

»Abt Thurstan war ein enger Freund von König Harold«, erklärte Guthric. »Und Ely ist ein Haus Gottes. Es war nur recht, daß wir denen Asyl boten, die in der Welt draußen Verfolgung litten.«

»Ja.«

»Aber dann kamen die Dänen und fast gleichzeitig kam Hereward mit Dunstan und seinen übrigen Männern. Plötzlich war Ely keine Zufluchtsstätte mehr, sondern ein Rebellennest. Doch die meisten der Brüder haben sich ihnen angeschlossen. Sie haben mit Herewards Männern zusammengehockt und gezecht und sich Waffen besorgt … Es war schändlich. Und der Abt hat nur zugeschaut. Als sie Peterborough überfielen, wollte Oswald einschreiten. Er ist unser Prior – ein wichtiger Mann. Und du weißt, wie er zu reden versteht.«

»Allerdings.«

»Er hat die Brüder beschämt. Wirklich beschämt. Er hat ihnen vor Augen geführt, daß Peterborough ein gottgeweihtes Kloster ist und kein Mensch das Recht hat, es zu überfallen, schon gar nicht mit der Begründung, den rechtmäßig eingesetzten Abt vertreiben zu wollen, nur weil er Normanne ist. Ein Abt sei ein Abt, ganz gleich ob Normanne oder Angelsachse.« Guthric hob eine seiner großen, knochigen Hände. »Und so weiter. Er hat ihnen mächtig eingeheizt, bis nicht nur die Brüder, sondern auch Hereward und ein paar seiner Männer ganz betretene Gesichter machten und nicht mehr wagten, ihm in die Augen zu sehen.« Guthric unterbrach sich kurz und schüttelte mit einem traurigen Lächeln den Kopf. »Du hättest es sehen sollen, Cædmon. Ein kleiner, schmächtiger Mönch in Sandalen und Kutte vor einem Haufen bewaffneter Haudegen. Aber seine Zunge war das Schwert Gottes, und die mächtigen Krieger standen vor ihm wie ein Häuflein gescholtener Novizen. Als Oswald und ich wenig später zum Refektorium gingen, kam Gorm und sagte, Dunstan wolle Bruder Oswald sprechen. Ich nehme an, du bist Gorm schon begegnet?«

»Ungefähr zwanzig Fuß groß, breit wie ein Scheunentor, stark wie ein Ochsengespann und etwa ebenso gescheit? O ja.«

Guthric nickte. »Er hat Oswald so zugerichtet.«

»Auf Dunstans Geheiß?«

»Ich bin sicher, ja. Als ich Dunstan zur Rede gestellt und verlangt habe, daß er mich sofort zu Bruder Oswald bringt, hat er so gelacht wie früher, bevor er einen in die Brennesseln stieß oder sonst einen seiner Streiche spielte, und Gorm schaffte mich hierher und sperrte mich zu ihm.« Cædmon rechnete. »Vor der Plünderung von Peterborough? Das muß zwei Wochen her sein.«

Guthric hob die Schultern. »Möglich. Ich hab’ die Tage nicht gezählt.« Cædmon stand auf, ging zu Bruder Oswald hinüber und betrachtete ihn genauer. »Und seitdem ist er in diesem Zustand?«

»Anfangs hat er sich noch bewegt und gesprochen, aber jetzt ist er seit vielen Tagen bewußtlos.«

»Wir müssen versuchen, ihm Wasser einzuflößen. Sonst verdurstet er.« Guthric hob mutlos die Schultern. »Er wird so oder so sterben.«

»Sei nicht so sicher.«

Cædmon suchte sich einen sauberen Strohhalm vom Boden und blies hinein, bis die Luft widerstandslos hindurchströmte. Dann schob er ihn dem Bruder zwischen die Lippen, tauchte einen Finger in den Wasserkrug und ließ einen Tropfen auf den Strohhalm fallen.

Guthric kam näher. »Da hast du dir viel vorgenommen.«

Cædmon zuckte lächelnd mit den Schultern. »Wir haben Zeit, oder?« Er wiederholte die Prozedur des Einträufelns in kurzen Abständen und behielt Oswalds Adamsapfel im Auge, um festzustellen, ob er schluckte. Noch tat sich nichts. »Erzähl mir von Hereward. Nach dem, was du sagst, scheint Dunstan gefährlicher zu sein als der große Held selbst.« Guthric schüttelte nachdrücklich den Kopf, nahm den Wasserkrug in die Hand und hielt ihn Cædmon hin. »O nein. Hereward ist ein Krieger vom alten Schlag. Er erinnert mich immer an die Geschichten, die Vater uns früher von Urgroßvater Ælfric Eisenfaust erzählt hat. Hereward ist nur glücklich, wenn es Schädel zu spalten und Leiber aufzuschlitzen gibt. Er hat so etwas wie ein Gewissen, falls du das meintest. Er hatte einmal Ländereien in der Gegend von Peterborough und war im Kloster kein Fremder. Darum war ihm nicht recht wohl dabei, es zu überfallen. Aber er ist grausam und gerissen. Und er ist ein erfahrener Kämpfer. Ich kann schon verstehen, warum seine Männer ihn so verehren, er ist verwegen und sehr mutig.«

»Und welche Rolle spielt Dunstan? Wieso glaubst du, er hat diesen Gorm auf Bruder Oswald gehetzt?«

»Weil Gorm immer auf Dunstans Geheiß handelt. Dunstan hat ihm beim Fall von Lincoln das Leben gerettet und …«

»Dunstan war in Lincoln?« fragte Cædmon entgeistert. »Nur gut, daß wir uns nicht begegnet sind.«

»Dunstan war überall dort, wo es Aufstände gegen den König gegeben hat, Cædmon. Er ist besessen von dem Gedanken, die Normannen aus England zu verjagen. Es ist das einzige, was ihn wirklich interessiert.«

»Und er ist Herewards rechte Hand?« tippte Cædmon.

Guthric dachte einen Augenblick nach. »Eher so etwas wie der Oberste seiner Housecarls. Gorm ist nicht der einzige, der ihm blind ergeben ist. Dunstan ist ein begnadeter Anführer, aber er braucht einen Herrn, dem er dienen kann.«

»Einen Ringgeber«, murmelte Cædmon.

Guthric sah verblüfft auf und nickte dann. »Du hast recht. Dunstan träumt von der Welt der alten Lieder. Von einer Halle voll trinkfester Kerle, die einem Kriegsherrn dienen, der ihre Tapferkeit mit Gold und Ringen belohnt.«

Cædmon schüttelte seufzend den Kopf. »Ich frage mich, ob die Welt je wirklich so einfach war.«

»Weißt du, die Welt ist immer nur in dem Maße kompliziert, wie man in der Lage ist, sie zu begreifen.«

»Oh, Guthric. Wie du mir gefehlt hast. Niemand hätte schöner sagen können, daß unser Dunstan noch nie der Allerhellste war.«

Sie lachten. Die Deckenwölbung warf den Klang ihrer jungen, kräftigen Stimmen zurück und verstärkte ihn, und Cædmon glaubte für einen Moment, er habe aus dem Augenwinkel eine Bewegung erhascht. »Bruder Oswald?« Er legte die Hand auf die Schulter des bewußtlosen Mönchs und sah Guthric an. »Hat er sich gerührt?«

»Ich weiß es nicht. Aber sieh nur.« Guthric zeigte mit dem Finger. »Er schluckt.«

Mit neuem Eifer nahmen sie ihre Bemühungen wieder auf. »Soll ich ihn aufrichten?« fragte Guthric.

»Nein, lieber nicht. Er sollte möglichst ruhig liegen, bis er aufwacht. Dazu ist Bewußtlosigkeit da, damit der Körper stilliegt und sich selbst heilt.«

»Ich habe nie gewußt, daß du so viel von Mutter gelernt hast.«

»Hab’ ich auch nicht. Das hat mir alles ein normannischer Feldscher beigebracht. Alles in einer Nacht.«

 

Gorm, der Goliath, erschien am nächsten Vormittag, winkte Cædmon mit einem Finger zu sich und führte ihn ins Refektorium, den Saal des Klosters, der einer Halle am ähnlichsten war, denn dort wurden die Mahlzeiten der Brüder zubereitet und eingenommen. Jetzt waren allerdings keine Mönche dort. Vielleicht zwei Dutzend Männer saßen an den langen Tischen oder standen in kleinen Gruppen zusammen und redeten. Trotz der schwülen Hitze draußen brannte ein Feuer, über dem ein gewaltiger Kessel hing. Helles Sommerlicht fiel durch die kleinen Fenster auf staubige Holzdielen. Zwei halbwilde Köter rauften knurrend um einen Knochen.

Hinter dem Tisch an der Stirnseite, an dem Platz, der für gewöhnlich dem Abt vorbehalten war, stand ein vielleicht fünfundzwanzigjähriger Mann mit einem dichten Schnurr- und kurzen Kinnbart. Er trug ein beinah blankes Kettenhemd, aber keinen Helm – seine schulterlangen, dunkelblonden Haare waren unbedeckt. Er war fast einen Kopf kleiner als Dunstan, der an seiner rechten Seite stand, ein wenig untersetzt und vierschrötig, er wirkte massig. Eine längliche Narbe begann knapp über dem linken Augenwinkel und verschwand unter dem Haaransatz. Ein unauffälliges, eher bäuerlich derbes Gesicht. Doch als Cædmon ihm in die Augen sah, verstand er, warum ausgerechnet dieser Mann zum Anführer des englischen Widerstands geworden war, warum so viele Männer ihm so willig in seinem heldenmütigen, aber doch wenig aussichtsreichen Kampf beistanden, ohne daß er ihnen Land und Gold versprechen konnte. Es waren fesselnde Augen, die man nie vergaß, wenn man sie einmal gesehen hatte. Ihr Blick war scharf und durchdringend, es war nicht leicht, ihm lange standzuhalten. Aber das eigentlich Unvergeßliche war ihre Farbe: eins grün, eins blau. Feenaugen.

Cædmon nickte höflich. »Hereward der Wächter.«

Nur die Feenaugen zeigten den Anflug eines Lächelns, das Gesicht blieb unbewegt. »Wißt Ihr, warum sie mich so nennen?«

»Weil Ihr über das englische Volk wacht, nehme ich an.«

Hereward verzog einen Mundwinkel. »Ein rührendes Bild. Nun, in gewisser Weise tue ich das, Ihr habt nicht unrecht. Aber tatsächlich gab man mir den Namen, als ich vor drei Jahren aus Flandern heimkehrte. Über dem Tor der Halle fand ich den Kopf meines Bruders auf eine Lanze aufgespießt, in der Halle eine Bande grölender Normannen. Ich bezog Posten vor dem Tor und erschlug jeden, der herauskam. Das war meine Nachtwache.«

Cædmon nickte. »Und am nächsten Morgen thronten zwei Dutzend normannischer Köpfe über dem Tor, ich habe davon gehört.«

Er dachte, es sei vermutlich ratsam, nicht darauf hinzuweisen, daß Herewards Bruder, der in der Geschichte immer als geschlachtetes Unschuldslamm dargestellt wurde, zuvor die Tochter eines normannischen Kaufmanns vergewaltigt hatte. Und vermutlich war es ebenso ratsam, nicht daran zu erinnern, daß Hereward überhaupt nur deshalb auf dem Kontinent gewesen war, weil er sich in seiner Jugend als ein so zügelloser Rabauke und Unruhestifter gebärdet hatte, daß sein Vater schließlich verzweifelte und ihn verbannte …

Hereward schnalzte mit der Zunge. »Es waren nur vierzehn Köpfe.« »Immerhin.«

Der Blick der ungleichen Augen durchbohrte ihn regelrecht. »Ich nehme an, der Bastardkönig schickt Euch, um uns auszuspionieren.«

Cædmon erwiderte seinen Blick. Man gewöhnte sich schnell an diese gruseligen Feenaugen, stellte er fest. »Der König hat ganz andere Sorgen. Er bereitet einen Feldzug in die Normandie vor. Er hat nur mäßiges Interesse an Ely. Ihm lag vornehmlich daran, die Dänen nach Hause zu schicken.«

Dunstan konnte nicht länger an sich halten. »Du willst sagen, wir sind nicht bedeutend genug, um ihm Sorgen zu machen, ja?« flüsterte er. »Ich bedaure, wenn dich das kränkt, aber ich fürchte, genau so ist es.« Dunstan machte einen langen Schritt auf ihn zu – eine Drohgebärde, die er schon als Junge perfekt beherrscht hatte. »Du bist ein gottverdammter normannischer Spion!«

»Nein, Dunstan, ich bin kein gottverdammter normannischer Spion.« Er hoffte jedenfalls, daß er noch nicht endgültig verdammt war.

»Du …«

Hereward hielt ihn mit einer kleinen Geste zurück und sagte: »Dann seid Ihr doch sicher bereit, Eure Unschuld durch ein Gottesurteil zu beweisen?«

Cædmon traute seinen Ohren kaum. Und er war ganz und gar nicht bereit dazu. Nicht nur, weil Dunstans Anschuldigung den Tatsachen gefährlich nahekam. Auch unschuldige Männer hatten bei einem Gottesurteil keine besonders guten Chancen. Wer auf diese Weise seine Unschuld unter Beweis stellen sollte, wurde etwa gefesselt in einen Fluß oder Teich geworfen. Stieg er wieder auf und trieb er an der Oberfläche, bedeutete dies, daß das Wasser ihn nicht haben wollte, und seine Schuld war erwiesen. Wer unterging, galt als unschuldig, war aber nicht selten ertrunken, ehe man ihn wieder herausfischen konnte. Noch grausiger war die Feuerprobe. Der Beschuldigte mußte ein glühendes Eisen in der Hand halten oder – je nach Wunsch des Klägers – seine Hand in einen Kessel mit kochendem Wasser stecken und einen Stein herausfischen. Waren die Brandwunden nach drei Tagen verheilt, galt seine Unschuld als erwiesen, wurden sie brandig, war er schuldig. Cædmon hatte so manches Gottesurteil mit höchst zweifelhaftem Ausgang erlebt und immer gedacht, daß Gott der Angelegenheit schon seine volle Aufmerksamkeit schenken müsse, damit es zu einem gerechten Urteil kam. Ausnahmsweise teilte der König in diesem Punkt seine Auffassung und hatte dieses Mittel der Rechtsfindung verboten. Freilich nur, soweit es die in England lebenden Normannen betraf …

»Ich bin ein englischer Thane und habe es nicht nötig, mich einem Gottesurteil zu unterziehen«, versetzte er kühl.

Hereward musterte ihn abschätzend. »Ihr pocht auf Euer Standesrecht? Nun, dann seid Ihr sicherlich gewillt, einen Unschuldseid zu leisten.« »Das bin ich nicht. Dies hier ist kein Gericht. Weder Ihr noch sonst irgendein Mann hier hat das Recht, mich eines Vergehens zu beschuldigen und mir einen Eid abzuverlangen.« Abgesehen davon wäre ein falscher Unschuldseid eine so unverzeihliche Sünde, daß selbst die miserablen Chancen eines Gottesurteils das weitaus geringere Übel zu sein schienen. »Ich bin ein freier Engländer und nach Ely gekommen, um meinen Bruder Guthric in einer Familienangelegenheit aufzusuchen. Wie kommt Ihr dazu, über mich zu richten? Woher nehmt Ihr das Recht?«

Hereward wies auf die Männer im Raum, unter denen sich ein leises, bedrohliches Murmeln erhoben hatte. »Seht Euch um. Ich habe insgesamt etwa zweihundert Männer auf dieser Insel. Jeden Tag werden es mehr. Ich glaube, man nennt es das Recht des Stärkeren.«

Cædmon sah in die Feenaugen und lächelte. »Und Ihr nennt William einen Tyrannen?«

Herewards vielgerühmtes, ungezügeltes Wesen brach sich Bahn, er fuhr wütend auf und schlug Cædmon links und rechts ins Gesicht. Cædmon zuckte entsetzt zusammen, zu Tode beleidigt, und seine Rechte glitt wie von selbst an seine linke Seite, wo natürlich kein Schwert mehr hing. Im selben Moment packte Gorm ihn von hinten und drückte ihm ohne die geringste Mühe mit einem seiner Keulenarme die Luft ab.

»Dunstan«, sagte Hereward, ohne Cædmon aus den Augen zu lassen, »ich habe den Eindruck, wir haben mit diesem Mann einen ausgesprochen glücklichen Fang gemacht. Stell fest, wozu er wirklich hier ist und was er weiß.«

Er nahm ein eisernes Kruzifix auf, das auf dem Tisch gelegen hatte. Es war nicht größer als die Hand eines Kindes. Viele der Brüder trugen solche Kreuze am Gürtel. Hereward wandte sich um und warf es ins Feuer.

»Wenn er die Wahrheit sagt, wird Gott es uns zeigen.« Dann ging er mit langen Schritten hinaus.

 

Die Nachricht verbreitete sich schneller, als das Eisen heiß wurde. Viele Neugierige strömten ins Refektorium; bald war der Saal gut gefüllt. Cædmon sah in ein paar Gesichter. Junge und Alte, Thanes, Bauern, Handwerker, Priester und Mönche – Herewards Truppe war eine zusammengewürfelte Schar. Die Mehrzahl Engländer, nur ein paar sahen dänisch aus. Sie saßen an den Tischen oder standen dahinter, hielten hölzerne Becher in den Händen und redeten. Tatsächlich erinnerten sie ihn an die Männer, die früher die Halle seines Vaters bevölkert hatten. Anständige, einfache Leute. Vermutlich hätten sie sich niemals träumen lassen, daß sie einmal zu Rebellen, zu Gesetzlosen werden würden. Aber sie alle hatten sich gegen die neue Ordnung aufgelehnt, viele wahrscheinlich deshalb, weil die Normannen ihnen irgendein Leid zugefügt, ihr Land genommen, ihr Dorf verwüstet, ihre Familien ermordet hatten. O William, du gottverfluchtester aller Bastarde, du bist es wirklich nicht wert, daß ich das hier für dich auf mich nehme …

Er sah zu seinem Bruder. Dunstan hatte einen Fuß auf die Herdeinfassung gestellt und stocherte mit einem Schürhaken im Feuer herum. Ely war ein wohlhabendes Kloster; hier wurde mit Holzkohle gefeuert, wie sie auch die Schmiede verwendeten, denn sie brannte heiß und raucharm. Zwischen den glimmenden, schwarzen Kohlen erahnte Cædmon eine rötliche Kreuzform.

Dunstan spürte seinen Blick, hob den Kopf und grinste. »Ist gleich soweit, Cædmon.«

Cædmon nickte stumm. Er schwitzte. Das letzte Mal hatte er sich so gefürchtet, als der König Lucien befohlen hatte, ihm die Hand abzuhacken. Aber dieses Mal würde es kein Entrinnen geben. Dunstan hatte noch nie geblufft. Gott, wenn du wirklich auf Williams Seite stehst, er der von dir erwählte König ist, wie er so gern und häufig behauptet, dann wäre jetzt genau der richtige Moment, das durch ein Wunder kundzutun und mich aus dieser wahrlich mißlichen Lage zu befreien, dachte er ohne viel Hoffnung.

Mit einer langen, schmalen Kohlenzange holte Dunstan das Kreuz aus dem Feuer und hielt es hoch, so daß jeder es sehen konnte. Ein Raunen erhob sich. Das Kreuz glühte leuchtend rot.

Gorm hatte einen flachen Stein herbeigeschafft und auf den Tisch des Abtes gelegt. Behutsam ließ Dunstan das Kruzifix darauf gleiten.

»Wir brauchen einen Priester«, murmelte er. Er wandte sich an die Versammlung. »Wynfrith, du bist Priester, oder?«

»Stimmt.«

»Komm her.«

Ein rundlicher, kleiner Kerl mit schütterem, schulterlangem Haar trat vor. Er begutachtete das Kruzifix eingehend, schlug effekthalber ein Kreuzzeichen darüber, faltete fromm die Hände und murmelte ein sehr kurzes Gebet. Dann nickte er Dunstan zu. »In Ordnung.«

Dunstan sah erwartungsvoll zu Cædmon und machte eine auffordernde Geste. »Also dann. Leg die Hand darauf.«

Cædmon rieb sich das Kinn an der Schulter. »Ich …« Er räusperte sich. »Ich habe euch gesagt, ich unterziehe mich keinem Gottesurteil.«

Dunstan verzog amüsiert den Mund. »In dem Fall muß ich es für dich tun.«

»Dann laß dich nicht aufhalten, Dunstan. Leg die Hand auf das Kreuz.« Er fand wenig Trost in dem beifälligen Gelächter.

Auf ein Nicken von Dunstan stellte Gorm sich hinter Cædmon und packte seine Arme. Dunstan nahm das Kruzifix mit der Zange vorsichtig wieder auf und trat auf ihn zu.

Cædmon biß sich auf die Zunge. Wie kannst du das tun, Dunstan? Herrgott noch mal, du bist mein Bruder. Du bist mein Bruder …

Instinktiv hatte er die Fäuste geballt, aber Dunstan hatte es gar nicht auf seine Hand abgesehen. Mit der Linken umfaßte er Cædmons Ausschnitt und zog mit einem kräftigen Ruck. Das Gewand zerriß, Dunstan zielte mit zusammengekniffenen Augen, drückte Cædmon das Kreuz mitten auf die Brust, und es zischte wie Regentropfen im Feuer.

Gott hielt sich erwartungsgemäß aus der Sache heraus.

Cædmon schrie.

 

Er lag am Boden. Er war nicht ganz sicher, wie er dorthin gekommen war. Vermutlich hatte Gorm ihn losgelassen, und seine Beine waren einfach weggeknickt. Er hatte den Kopf in den Armen vergraben und die Augen zugekniffen, und als das Tosen in seinen Ohren abebbte, stellte er fest, daß er keuchte. Er versuchte, flach und langsam zu atmen, versuchte, den Schmerz unter Kontrolle zu bringen, sich nicht davon beherrschen zu lassen, sich an all das zu erinnern, was Jehan de Bellême ihm darüber beigebracht hatte. Aber er hatte große Mühe, zusammenhängend zu denken. Der widerwärtige Gestank seines eigenen verbrannten Fleisches hüllte ihn ein. Die neunhundert Normannen, die die Northumbrier im Bischofspalast von Durham verbrannt hatten, kamen ihm in den Sinn. Je verzweifelter er sich bemühte, das Bild zu verdrängen, um so übermächtiger wurde es.

»Steh auf«, grummelte Gorm über ihm und zerrte ihn auf die Füße. Cædmon blinzelte. Hereward war zurückgekehrt, lehnte mit der Schulter an der Wand neben dem Herd und betrachtete ihn mit distanziertem Interesse. Dunstan stand mit verschränkten Armen an seiner Seite, die Zange in der Hand. Das Kreuz lag im Feuer, und Cædmon erkannte, daß dieses Ritual in Wahrheit nicht das geringste mit einem Gottesurteil zu tun hatte, daß Dunstan keineswegs gewillt war, drei Tage zu warten, um festzustellen, ob sein Bruder die Wahrheit gesagt hatte oder nicht. Geduld war noch nie seine Stärke gewesen. Cædmon wurde sterbenselend.

Dunstan betrachtete ihn mit einem gönnerhaften Grinsen. »Das stehst du nicht lange durch, Brüderchen«, prophezeite er flüsternd. »Besser, du machst das Maul auf. Was hat der Bastard vor? Wozu hat er dich hergeschickt?«

Cædmon fuhr mit der Zunge seine Zähne entlang. »Ich weiß nicht, was er vorhat, Dunstan.«

»Und wenn du es wüßtest, könntest du es mir nicht sagen, richtig?« höhnte Dunstan.

Cædmon sah ihn stumm an.

Dunstan winkte ab. »Mir ist vollkommen egal, ob du ihm einen Eid geleistet hast. Du bist ein Verräter.«

»Du irrst dich.« Die Übelkeit war abgeklungen, er konnte wieder sicher stehen. Aber es brannte immer noch grauenhaft. Ist so die Hölle? fuhr es ihm durch den Kopf. Er fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis es nachließ. »Die Verräter seid ihr. William ist … der rechtmäßige König.«

»Harold war der rechtmäßige König!« Ein eigentümlich verzweifelter Unterton lag in Dunstans wütendem, tonlosen Zischen.

»Aber Harold ist tot, Dunstan.« Er war müde, völlig erschöpft, und er fror. Doch er zwang sich, weiterzureden. »Wer, denkst du, soll König von England werden, wenn ihr Erfolg habt und die Normannen aus England vertreibt? Ich kann nicht glauben, daß ihr dieses feige, hinterhältige kleine Ungeheuer Edgar Ætheling auf den Thron setzen wollt.« Dunstans Augen verrieten seine Gedanken, sie glitten für einen winzigen Augenblick nach links.

Cædmon sah zu Hereward. »Ihr habt große Pläne.«

Hereward hob gelassen die Schultern. »Wenn William gestürzt ist, werden die Witan entscheiden, wer König wird. Nach englischer Sitte und englischem Recht.«

Cædmon nickte. »Nach dem neuen englischen Recht?« fragte er leise. Seine Stimme klang eigentümlich kraftlos, aber jeder im Saal hörte ihn, es war geradezu unheimlich still geworden. »Dem Recht des Stärkeren? Welcher der englischen Witan, die noch übrig sind, hätte schon zweihundert Männer, die er gegen Eure aufbieten könnte?«

Hereward fuhr zu Dunstan herum. »Mach endlich weiter. Wenn du zimperlich wirst, weil er dein Bruder ist, dann tu ich es! Mal sehen, ob er in einer Stunde immer noch so große Worte führt.«

In einer Stunde …

Dunstan schüttelte entrüstet den Kopf und holte das Kruzifix aus der Glut. Cædmon schloß die Augen, als Gorm ihn wieder packte. Er bildete sich ein, das leise Knistern schon hören zu können, mit dem die spärlichen Haare auf seiner Brust verbrannten, noch ehe das Eisen ihn berührte. Er erinnerte sich jetzt, daß dieses Knistern dem Zischen vorausgegangen war, und er fragte sich, wie in aller Welt er das noch einmal durchstehen sollte, als er die mörderische, warnende Hitze plötzlich im Gesicht spürte. Er riß entsetzt die Augen auf. Das glühende Eisen war weniger als eine Daumenlänge von seiner rechten Wange entfernt.

Nein …

»Nein!«

Einen irrsinnigen Moment lang glaubte er, sein Grauen habe durch irgendeinen Zauber Stimme erlangt, doch der laute Ruf klang eher wie ein Befehl denn ein Protestschrei. Und er wirkte. Dunstan zauderte. Ein großer Krieger in Kettenpanzer und Helm kam mit langen Schritten auf sie zu, packte Dunstans Ellbogen und zog ihn zurück. Das glühende Kruzifix glitt aus der Zange und landete auf der hölzernen Tischplatte. Kleine, dunkle Rauchkringel stiegen auf.

Hereward legte die Hand an das Heft seines Schwertes. »Was fällt Euch ein? Wer seid Ihr?«

Der Mann zog den Helm vom Kopf und entblößte ein Gesicht nicht älter als Herewards, schulterlange, glatte dunkle Haare und die gewaltige Raubvogelnase, für die schon sein Großvater berühmt gewesen war.

»Morcar …«, brachte Cædmon fassungslos hervor und dachte voller Verwirrung, daß Gott mit der Wahl des Zeitpunktes für dieses kleine Wunder in gewisser Weise doch ein Urteil gefällt hatte. Ein geradezu salomonisches Gottesurteil, wenn man so wollte. Er spürte ein hysterisches Kichern in seiner Brust aufsteigen und preßte einen Augenblick den Handrücken gegen den Mund, um es niederzukämpfen.

Morcars Blick fiel auf seine Brust, und er verzog angewidert das Gesicht. Dann wandte er sich um. »Seid Ihr Hereward? Meine Güte, es ist tatsächlich wahr, Feenaugen …«

Selbige hatten sich ungläubig geweitet. »Morcar? Von Mercia?«

»Oder von Northumbria, das ist Ansichtssache.«

»Earl Leofrics Enkel?«

»Ja.«

»Earl Edwins Bruder?«

»Ja doch. Meine Schwester, sollte es Euch entfallen sein, heißt Aldgyth.«

Ein leises Lachen plätscherte durch den Saal.

Hereward nahm sich zusammen und reckte angriffslustig das Kinn vor; er gehörte offensichtlich nicht zu denen, die in ein Lachen auf ihre Kosten einstimmen konnten. Dann besann er sich und verneigte sich. »Eine große Ehre, Mylord.«

Morcar betrachtete ihn kühl. »Ich bin hergekommen, um mich Euch anzuschließen, Hereward. Aber eins wollen wir vorher klarstellen: Wenn es je gelingen sollte, William zu stürzen, dann wird mein Bruder Edwin König von England und niemand sonst.«

Hereward verneigte sich wiederum. Er stammte aus Mercia; Morcars Großvater, der berühmte, gefürchtete Leofric, war der Lord seines Großvaters und Vaters gewesen. Ganz gleich, was seine Ambitionen sein mochten, Hereward glaubte an angelsächsische Traditionen und fand es nicht leicht, so alte Treuebande zu mißachten. »Ich würde mir niemals anmaßen, die Vorrechte Eures Hauses in Frage zu stellen, Mylord. Ihr solltet nicht glauben, was dieser Mann …«

»Dieser Mann ist für mich über jeden Zweifel erhaben. Laß ihn los, du … Ochse.«

So groß war Morcars Selbstsicherheit und Herewards Verehrung so offenkundig, daß Gorm augenblicklich von Cædmon abließ. Ein herbeigewunkener Diener brachte zwei große Becher mit Bier. Morcar reichte einen davon Cædmon.

Cædmon nickte dankbar und nahm einen tiefen Zug. Selbst als sie auf dem Kanal gekentert waren und er beinah ertrunken wäre, war er nicht so durstig gewesen. »Danke, Mylord. Ich dachte …«

»Was? Ihr glaubtet mich in Rouen, ja?«

Cædmon nickte und trank noch einmal. Das Bier war süß und herrlich kühl.

»Da war ich auch«, erklärte Morcar. »Doch als ich hörte, daß sich in Ely der englische Widerstand formiert, bin ich geflohen. Ich bin sicher, William hätte mich umbringen lassen, sobald er in die Normandie kommt. Er weiß genau, daß jeder englische Widerstand gefährlich ist, solange noch irgendwer aus dem Haus Mercia oder Godwinson lebt. Ich habe Wulfnoth beschworen, mit mir zu kommen. Aber er wollte nicht.«

Cædmon schloß die Augen, und sofort wurde ihm schwindelig. Der Becher glitt ihm aus den Fingern, und er taumelte.

Morcar stützte ihn und warf Hereward und Dunstan einen finsteren Blick voller Verachtung zu. »Ihr seid tief gesunken, Hereward.«

»Aber Mylord … Dieser Mann ist ein Verräter.«

»Er ist kein Verräter! Er hat seinen Weg gewählt, Ihr den Euren. Wie es jeder Mann in England tun muß. Habt Ihr eigentlich eine Ahnung, was er tut? Wie viele Engländer er vor Williams Zorn bewahrt hat? Daß er jeden gottverdammten Tag seinen Kopf in die Schlinge steckt, indem er beim König für sein Volk einsteht?«

»Auf welcher Seite steht Ihr?« zischte Dunstan wütend.

»Dunstan!« fuhr Hereward ihn an.

»Ich will dir sagen, auf welcher Seite ich stehe, du tollwütiges … Augenblick mal. Ich kenne dich! Du warst Harold Godwinsons Laufbursche damals im Zweischlachtenmonat, kurz vor der Eroberung. Du bist zu Edwin und mir gekommen und wolltest uns in Godwinsons Namen Vorschriften machen, wir hätten gefälligst nach Süden zu marschieren. Du bist Dunstan … of Helmsby.« Er sah ungläubig von Dunstan zu Cædmon und wieder zurück. Eine so abgrundtiefe Abscheu stand in seinem Gesicht, daß Dunstan leicht errötete und sichtlich schluckte.

Morcar trat angewidert von ihm zurück und richtete seinen geballten aristokratischen Hochmut und Unwillen auf Hereward. »Ich verlange, daß Ihr ihn auf der Stelle freilaßt.«

Hereward fühlte sich sichtlich unwohl, aber er schüttelte den Kopf. »Das ist ausgeschlossen, Mylord. Es hieße, daß wir Ely aufgeben müßten, und nirgendwo sind wir so sicher wie hier. Er hat zuviel gehört und gesehen.«

Morcar wandte sich an Cædmon. »Würdet Ihr William berichten, was Ihr gehört und gesehen habt?«

Cædmon nickte.

»Dann werdet Ihr hierbleiben müssen, bis Hereward sich entschließt, von Ely abzuziehen, Cædmon.«

Er hob gleichmütig die Schultern. Er hatte mit weitaus Schlimmerem gerechnet. Und es bedeutete immerhin, daß es ihm vorläufig erspart blieb, Roland Baynards Schwester heiraten zu müssen, wie immer sie heißen mochte …

Morcar nickte Hereward knapp zu. »Ich verlange, daß er anständig untergebracht wird.« Er warf einen vernichtenden Blick in Dunstans Richtung. »Und laß dich nicht dabei erwischen, daß du ihm noch einmal zu nahe kommst, du … widernatürliches Monstrum.«

Man hätte darüber streiten können, ob der leergetrunkene Weinkeller ein »anständiges« Quartier war oder nicht, aber Cædmon zog es auf jeden Fall vor, dort mit Guthric und Oswald zusammenzusein, als anderswo allein. Er hatte Glück – die Brandwunde auf seiner Brust entzündete sich nicht. In den ersten Tagen litt er noch unter heftigen Schmerzen, vor allem nachts, aber es verging. Der junge Novize, der ihnen das Essen brachte und sie, vermutlich auf Morcars Geheiß, mit allen möglichen Annehmlichkeiten wie beispielsweise Decken versorgte, verband die Wunde mit halbwegs sauberen Leinenstreifen und gab Cædmon ein neues Gewand, dem noch recht deutlich anzusehen war, daß es einmal eine Benediktinerkutte gewesen war. Einen Tag später brachte er ihm sein eigenes zurück, der lange Riß von geschickten Händen sorgfältig ausgebessert.

Auch Bruder Oswald machte Fortschritte. Die tiefe Bewußtlosigkeit wich einem natürlichen Schlaf. Schon mehrfach hatte er die Augen aufgeschlagen und leise vor sich hingemurmelt. Er war keinmal ganz zu sich gekommen, doch als Cædmon etwa zehn Tage in Ely war, wachte er schließlich auf.

»Guthric.«

»Bruder Prior.«

»Und … Cædmon!«

»So ist es. Willkommen im Diesseits, Bruder Oswald.«

Der schmächtige, kleine Bruder wollte sich aufrichten, aber Cædmon legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sachte. Was macht der Kopf?« Oswald blinzelte konzentriert. »Nichts Besonderes. Er steckt voll neugieriger Fragen, wie üblich. Zum Beispiel: Was in aller Welt hast du hier verloren? Oder: Was muß ich tun, um einen Schluck Bier zu bekommen? Oder auch: Was war, ehe Gott Himmel und Erde erschuf?«

Cædmon half ihm lächelnd, sich aufzusetzen. »Der König hat mich hergeschickt, und nun sitze ich hier fest. Bier ist in dem Krug gleich neben Euch. Und was die dritte Frage anbelangt, sie wird wohl warten müssen, bis Ihr sie Gott persönlich stellen könnt.«

Hinter dem Rand des Kruges verzogen Oswalds Lippen sich zu dem breiten Lächeln, an das Cædmon sich so gut erinnerte. Dann setzte er ab.

»Sei nicht so sicher. Vielleicht können wir es doch irgendwie selbst ergründen … Aber ich denke, vorher müßte ich mich rasieren. Und waschen.«

Sie lachten.

Mit Bruder Oswalds Erwachen änderte sich ihre Situation dramatisch. Er brauchte nicht lange, um herauszufinden, daß Cædmon praktisch kein Wunsch verwehrt blieb, und so scheuchte Oswald ihre Wärter, daß sie ins Schwitzen gerieten: Warmes Wasser und ein Rasiermesser waren nur der Anfang. In Windeseile bekamen sie einen Tisch und Schemel, Oswalds Katze Griselda, die ihnen die Ratten und Mäuse vom Leib hielt, Räucheraal, eine gebratene Gans, frisches, dunkles Brot, einen Krug Met und … Bücher.

»Bücher?« fragte Cædmon ungläubig.

Oswald nickte nachdrücklich. »Und ich werde endlich tun, wozu es mich schon vor sechs Jahren gelüstete, Cædmon: Ich werde dich das Lesen lehren.«

Cædmon hob entsetzt die Hände. »Nein, vielen Dank, Bruder Oswald, ich habe keineswegs die Absicht, lesen zu lernen. Ich nehme nicht an, es gibt eine Laute an diesem Ort ernsthafter Gelehrsamkeit, oder?« Oswalds Augen funkelten. »Gorm, du zu groß geratenes Rindvieh!« brüllte er.

Der riesige Schädel erschien in der Tür. »Was?«

»Lauf zum Bruder Sakristan und borg seine Laute. Ein bißchen plötzlich, wenn ich bitten darf!«

Cædmon bekam seine Laute und war selig. Oswald und Guthric lauschten ihm fasziniert, und Guthric bestürmte ihn, ihm die Texte der normannischen Lieder beizubringen. Im Gegensatz zu Cædmon hatte Guthric keine Rabenstimme, sondern einen gut geschulten Benediktinertenor. Bald sang er all die Balladen, die Cædmon im vergangenen Frühjahr immer für Aliesa gespielt hatte, aber ebenso die alten, angelsächsischen Lieder, die sie beide von den Spielleuten kannten, die gelegentlich in die Halle ihres Vaters gekommen waren, um ihre gesungenen Geschichten von vergessenen Schlachten und fernen Ländern vorzutragen.

Doch Cædmon konnte nicht von früh bis spät spielen, und die Langeweile wurde bald die schlimmste Qual seiner Gefangenschaft. So gab er Bruder Oswalds hartnäckigem Drängen schließlich nach und willigte ein, wenigstens die Buchstaben zu lernen, aus denen sein Name bestand.

»Es sind sechs«, eröffnete Oswald ihm.

Cædmon nickte. »Das ist zu ertragen.«

»Der erste ist ein C. Siehst du, ganz einfach, wie ein offener Kreis.« »Ein C. In Ordnung.«

»Auch das Wort Christus beginnt mit einem C.«

»Wir sprachen aber von dem Wort Cædmon.«

»Du solltest deinen Namen wirklich nicht über den des Herrn stellen, weißt du.«

»Bruder Oswald …«

Der pfiffige Prior hob ergeben die Hände. »Na schön. Der zweite ist ein Buchstabe, der eigentlich aus zweien besteht.«

»Dann sind es ja schon sieben. Du willst mich übers Ohr hauen!«

»Cædmon, ich muß doch sehr bitten. Hör mir zu.«

»Meinetwegen.«

»Er heißt Æsk, was ›Esche‹ bedeutet. Aber man spricht ihn Ä.«

»Ich glaube, das reicht mir.«

»Komm, komm. Stell dich nicht dümmer als du bist, das kannst du dir nicht leisten …«

So lernte Cædmon also, seinen Namen zu lesen, und trotz seiner Proteste lernte er am folgenden Tag die Wörter »Oswald« und »Guthric«. Er erfuhr auch, daß drei Buchstaben des angelsächsischen Alphabets uralte Runen waren, die ihre heidnischen Vorfahren schon benutzt hatten, lange bevor die Missionare nach Britannien kamen und ihre Buchstaben mitbrachten. Die Vorstellung faszinierte Cædmon auf eigentümliche Weise, aber er verbarg sein Interesse sorgsam. Er wußte, wenn er Oswald auch nur den kleinen Finger reichte, würde ihn nichts mehr vor dem missionarischen Eifer des Priors retten.

»Die Welt wandelt sich, Cædmon«, erklärte Oswald mit belehrend erhobenem Zeigefinger. »Es wird nicht mehr lange dauern, bis jeder Mann von Stand das Lesen erlernen muß, wenn er in ihr bestehen will.«

»Ja, und das Sticken vermutlich auch«, brummte Cædmon verächtlich.

Bruder Oswald machte ein Gesicht, als habe er nicht übel Lust, seinen uneinsichtigen Schüler zu ohrfeigen. Ohne es zu merken setzte Cædmon sich gerade auf, als wolle er sie beide daran erinnern, daß er einen guten Kopf größer als Oswald war, und wandte ein: »Warum sollte ein Mann von Stand lesen lernen müssen, der sich doch einen Kaplan halten kann, der es für ihn tut? Wenn ich mich plötzlich entschließen würde, Lesen und Schreiben zu lernen und beispielsweise meine Bücher selbst zu führen, würden die Leute sagen, ›Nun seht euch das an, der Thane of Helmsby ist arm wie eine Kirchenmaus, nicht einmal mehr einen Schreiber kann er sich leisten.‹«

Oswald fegte den Einwand ungeduldig beiseite. »Wissen, Cædmon. Darum geht es. Und Wissen steht in Büchern, es wird nicht mehr von Mund zu Ohr weitergegeben wie in den Tagen der Druiden. Die Welt ist zu groß geworden dafür. Schau dich selbst an. Früher wurde der Thane of Helmsby in Helmsby geboren, lebte in Helmsby und starb in Helmsby, zog bestenfalls mit dem Fyrd zur nächsten Küste, um die Dänen zurückzuschlagen, oder bis an die walisische Grenze. Und heute? Du bist in der Normandie gewesen, andere Engländer gehen nach Haithabu oder Bremen, um Handel zu treiben, wieder andere nach Byzanz zu den Warangern, und ich sage dir, es wird jetzt nicht mehr lange dauern, bis die Kriegerscharen der Christenheit ins Heilige Land ziehen, um es von den Mauren zu befreien. Und je größer die Welt ist, um so schwieriger wird es, sie zu begreifen, und vor allem, sie zu beherrschen. Das Wissen, das dazu vonnöten ist, kann der Vater nicht mehr an den Sohn vermitteln. Dieses Wissen gibt es nur in Büchern. Die Heiden haben das längst erkannt. Sie sind gebildet. Sie sind uns um Längen voraus. Und darum wird es auch nicht so einfach sein, sie zu vernichten, wie der Papst uns alle gern glauben machen will. Nein, ich sage dir, der Tag ist nicht mehr fern, da ein Illiteratus auf dem Thron nichts weiter sein wird als ein gekrönter Esel!«

Es war nicht einfach, Bruder Oswalds feurigen Worten etwas entgegenzusetzen – jetzt verstand Cædmon, was Guthric gemeint hatte, als er sagte, Oswalds Zunge sei das Schwert Gottes.

»Man hat William schon schlimmer betitelt«, bemerkte er schließlich mit einem verschämten kleinen Grinsen. »Mag sein, daß du recht hast, Bruder Oswald, vielleicht wird es so kommen, wie du sagst. Aber das ändert nichts an meiner Ansicht: Einem Mann, der nicht Mönch ist, steht das Lesen nicht an. Es ist vollkommen überflüssig.«

Oswald nickte. »Etwa so überflüssig wie das Lautespiel.«

»Aber …«

Gorm ersparte Cædmon die endgültige, schmachvolle Niederlage in diesem Wortgefecht, weil er genau diesen Moment wählte, die Tür zum Weinkeller aufzustoßen. Er riß sie beinah aus ihren alten, rostigen Angeln. Gorm öffnete jede Tür mit dem gleichen Übermaß an Kraft wie Jehan de Bellême. Jedesmal fand sich Cædmon an ihn erinnert.

Gorm blinzelte dümmlich im Dämmerlicht und zeigte dann mit dem Finger auf Cædmon. »Komm mit.«

Angst durchzuckte Cædmon. Zögernd stand er vom Tisch auf. »Wohin?«

»Komm schon.«

 

Er führte ihn hinaus in den sonnendurchfluteten Innenhof, und jetzt war es an Cædmon zu blinzeln. Beinah hatte er vergessen, daß Sommer war. Es roch nach Staub und Hitze und dem Schweiß vieler Männer, überlagert von einem schwächeren, aber betörenden Duft, der vom Kräutergarten herüberwehte.

Und dorthin führte ihn der Goliath. Cædmon stieg über das niedrige Spalier und atmete tief durch. Nicht Dunstan hatte nach ihm geschickt. Morcar of Mercia saß auf einer niedrigen Holzbank neben einer dicht berankten Laube und sah ihm entgegen.

»Ich dachte, Ihr wäret vielleicht froh, einmal für eine Stunde die Sonne zu sehen«, bemerkte er, als Cædmon zu ihm trat.

»Danke, Mylord.«

»Setzt Euch.«

Cædmon ließ sich neben ihm nieder, pflückte ein winziges Blatt von einem nahen Strauch, rieb es zwischen den Fingern und roch daran. Der Duft erinnerte ihn an Lammbraten.

»Was ist es?« fragte Morcar.

Cædmon hob die Schultern. »Thymian? Ich habe keine Ahnung.« Er ließ das Blättchen achtlos fallen, und es trudelte lautlos ins Gras.

Morcar nahm den Weinschlauch, der neben ihm lag, und reichte ihn Cædmon. »Hier. Trinkt, ich hatte schon mehr als genug. Seit ich hier bin, hat mich eine seltsame Gier nach Wein und Met gepackt. Wenn ich mich nicht zusammenreiße, bin ich schon mittags betrunken.«

»Warum?« fragte Cædmon überrascht. »Ich hätte gedacht, Ihr wäret froh und glücklich, William entkommen zu sein. Und seid Ihr nicht hergekommen, weil Ihr glaubt, daß Hereward die letzte Hoffnung für ein angelsächsisches England ist?«

»Vielleicht. Was denkt Ihr?«

»Ich denke, er wird scheitern«, antwortete Cædmon offen. »Aber ich mag mich irren.«

Morcar nickte nachdenklich. »Ihr habt schon recht. Deswegen bin ich hergekommen. Aber froh und glücklich? Wißt Ihr, ich habe William einen Eid geleistet, genau wie Ihr.«

Cædmon winkte ab. »Mit seinem Schwert praktisch an Eurer Kehle. Darüber solltet Ihr Euch keine Gedanken machen.«

Morcar betrachtete ihn verwundert. »Warum sagt Ihr das? Es ist weiß Gott schwer auszumachen, wo Ihr steht.«

Cædmon trank. Es war ein guter, fruchtiger Weißwein, vom Rhein oder der Mosel vielleicht; er kannte sich mit Wein kaum besser aus als mit Kräutern. »Dasselbe könnte ich von Euch sagen«, entgegnete er dann. »Als wir uns das letztemal gesehen haben, kurz nach der Krönung in Westminster, habt Ihr mich, wenn ich mich recht entsinne, einen Verräter und gottverdammten Normannenfreund genannt. Vor ein paar Tagen hingegen habt Ihr mich davor bewahrt, daß mein Bruder mich Stück für Stück röstete, habt mir vermutlich das Leben gerettet und noch dazu die schmeichelhaftesten Dinge über mich gesagt.«

Morcar lächelte schwach. »Vielleicht habe ich inzwischen ein paar Dinge dazugelernt. Wenn man ein paar Jahre in der Normandie gelebt hat, sieht man England und den Rest der Welt mit anderen Augen.« »O ja.«

»Und es war natürlich Wulfnoth, der mir klargemacht hat, welche Rolle Ihr an Williams Hof spielt.«

Cædmon schnitt eine Grimasse. »Das hätt’ ich mir denken können. Ihr solltet nicht alles glauben, was Wulfnoth sagt. Er neigt zu Übertreibungen, wißt Ihr.«

Morcar lächelte nicht. »Er ist ein bewunderswerter Mann, Cædmon. Der beste aller Godwinsons. Warum konnte er nicht an Harolds Stelle sein?«

»Vielleicht aus genau dem Grund. Weil er der beste aller Godwinsons ist. Er hätte König Edwards Wünsche hinsichtlich seiner Nachfolge niemals mißachtet. König von England zu sein ist das letzte, was Wulfnoth sich wünscht. Das weiß auch William, deswegen denke ich, daß Eure Sorge um Wulfnoths Sicherheit unbegründet ist. Ihr hingegen seid ehrgeizig, darum war es sehr klug von Euch, Rouen zu verlassen, ehe der König dort eintrifft. Wo ist Euer Bruder, Morcar?«

»Das weiß ich nicht. Und wenn ich es wüßte, bin ich nicht sicher, ob ich es Euch verraten würde, denn Ihr würdet es vermutlich dem König sagen, wenn Ihr Gelegenheit dazu bekämt, nicht wahr?«

Cædmon nickte nachdenklich. »Ja, wahrscheinlich.« Er hatte das Gefühl, er müsse es Morcar erklären. »Ich hatte nie große Illusionen, was William anbelangt, und die wenigen, die ich hatte, habe ich letzten Winter verloren. Aber er ist der König. Das einzige, was ich tun kann, ist zu versuchen, ihn und England miteinander auszusöhnen. Vielleicht ist das ein hoffnungsloses Unterfangen, das ist durchaus möglich. Aber er hat Söhne. Söhne, die beinah schon Engländer sind.«

»Ja, ich verstehe und billige Eure Haltung, Cædmon. Aber sie ist nicht die meine. Ich denke immer noch, Edward hatte kein Recht, William die Krone anzubieten, ebensowenig hatte Harold Godwinson das Recht, sie an sich zu reißen. England sollte einen englischen König haben, und mein Bruder Edwin wäre der beste Mann dafür. Und ich bin sicher, daß ich Hereward dafür gewinnen kann. Er ist kein so übler Bursche, wißt Ihr.«

»Vielleicht nicht. Hereward ist ein Mann vom gleichen Schlag wie Euer berühmter Großvater Leofric oder mein nicht ganz so berühmter, aber unter den Dänen weithin gefürchteter Urgroßvater Ælfric Eisenfaust. Doch die Welt hat sich verändert. Sie und ihre Vorstellungen gehören der Vergangenheit an, und das nicht erst seit der Eroberung. Ihre Zeiten waren schon lange vorher vorbei.«

Morcar dachte darüber nach. Dann fragte er: »Denkt Ihr, der König wird Ely belagern?«

Cædmon hob kurz die Schultern. »Durchaus denkbar.«

»Aber es ist Wahnsinn. Man kann Ely nicht aushungern, die Flüsse und der See könnten zehnmal so viele Männer ernähren. Und keine Armee kann diese Sümpfe durchqueren.«

»Tja. All seine Ratgeber werden ihm genau das sagen, und William wird nicht auf sie hören.«

Morcar lächelte freudlos. »Ich habe meinen Bruder Edwin nicht mehr gesehen, seit er vorletztes Jahr vom Hof geflohen ist«, sagte er leise. »Ich weiß nicht einmal mit Gewißheit, ob er noch lebt. Er war die ganze Zeit im Norden – er könnte Williams Todesreitern in die Hände gefallen sein, unerkannt womöglich, oder er könnte einfach verhungert sein, wie so viele im Norden. Aber wenn er noch lebt, dann sollte er hier sein. Ich will ihn suchen, und ich muß bald aufbrechen. Morgen oder übermorgen oder am Tag danach.«

Cædmon nickte. »Verstehe.« Er stand auf. »Es war sehr freundlich von Euch, mich vorzuwarnen.«

Morcar erhob sich ebenfalls, zog sein Jagdmesser aus der Scheide am Gürtel und reichte es ihm. »Hier, das wird Euch vielleicht dienlich sein. Viel Glück, Cædmon.«

Cædmon ließ die mörderisch scharfe Waffe unter seinem Gewand verschwinden. »Danke. Und ich hoffe, daß Ihr Euren Bruder findet, Mylord. Obwohl er ein gefährlicher Feind ist und wir auf unterschiedlichen Seiten stehen werden, falls wir uns wiedersehen.«

Morcar hob ergeben die Hände. »Dann müssen wir einander bei unserem Wiedersehen eben aus dem Wege gehen.«

Nachdem Morcar gegangen war, machte Cædmon eine gemächliche Runde durch den Kräutergarten. Es stimmte, er verstand wirklich nicht viel von diesen Dingen, aber er war schließlich auf dem Land aufgewachsen und hatte als Junge Dunstans Schwäche für boshafte Streiche geteilt. Darum war er durchaus in der Lage, einige Pflanzen auf Anhieb zu erkennen. Als er gefunden hatte, was er wollte, pflückte er ein paar Zweige, versteckte sie ebenfalls in seinem Hosenbund und ging pfeifend Richtung Weinkeller zurück.

 

Oswald und Guthric sprangen von ihren Hockern auf, als Gorm die Tür öffnete und Cædmon hineinstieß. Angstvoll sahen sie ihm entgegen. »Was ist passiert?« fragte Guthric atemlos, als sie wieder allein waren. Cædmon hob beruhigend die Rechte. »Gar nichts. Alles ist in Ordnung. Na ja, fast alles ist in Ordnung. Ich habe mit Morcar gesprochen. Er verläßt Ely. Sehr bald.«

Guthric legte entsetzt eine Hand auf den Mund, und Oswald sagte, was Guthric dachte: »Sobald Morcar Ely den Rücken kehrt, wird Dunstan dich töten.«

Cædmon nickte. »Und ich wette, daß deine offenkundige Gelassenheit ob dieser Aussicht dir abhanden kommt, sobald du weiterdenkst.«

»Ich bin ganz und gar nicht gelassen!« protestierte Oswald empört. »Und wovon redest du?«

»Wenn Dunstan damit liebäugelt, mich mit dem Leben dafür zahlen zu lassen, daß ich noch einen König habe und er nicht – und ich bin sicher, daß er das tut –, dann darf Morcar natürlich nichts davon erfahren. Darum wird er Morcar sagen wollen, ich sei aus Ely geflohen. In dem Fall kann Dunstan sich keine Zeugen leisten, die Morcar berichten könnten, daß Gorm mich hier rausgeschleift hat. Das heißt, er wird uns alle drei umbringen. Denk ja nicht, dein Abt könnte euch retten.« »Mein Abt würde mich auch dann nicht retten, wenn er könnte«, gab Oswald bissig zurück. »Er ist Hereward voll und ganz ergeben. Weitaus ergebener als Gott. Seit Hereward und seine Raufbolde hier sind, hatten Abt Thurstan und ich ein paar heftige Auseinandersetzungen. Was glaubst du wohl, wie es kam, daß ich mit eingeschlagenem Schädel im Weinkeller landete? Und ich fürchte, Guthric hat sich in seinem jugendlichen Ungestüm verleiten lassen, sich ebenso unbeliebt zu machen … Oh, Cædmon, wie kannst du dastehen und grinsen? Was tun wir denn jetzt?«

»Wir verschwinden. Und zwar bevor Morcar aufbricht.«

»Verschwinden? Aber wie? Glaub nicht, ich wolle deine Kriegskunst und deinen Heldenmut in Abrede stellen, aber nicht einmal zu dritt können wir es mit Gorm aufnehmen.«

Triumphal zog Cædmon seine Kräuterernte hervor. »Für Gorm ist gesorgt.«

Guthric trat näher. »Eisenhut!« Er fing an zu lachen. »Oh, armer Gorm.«

 

Es war nicht besonders schwierig, Gorm das Gift unterzujubeln. Sie wußten längst, daß er alles vertilgte, was die drei Gefangenen von ihren üppigen Rationen zurückgehen ließen. Also verzichteten sie am Mittag des folgenden Tages kurzerhand auf den Großteil ihres Biers, rührten die zerstoßenen Eisenhutblätter in den Krug und harrten der Dinge. »Wird er nichts schmecken?« fragte Bruder Oswald nervös.

Cædmon hob gleichmütig die Schultern. »Möglich, daß er das Bier ein bißchen bitterer als gewöhnlich findet, aber saufen wird er es trotzdem, darauf wette ich.«

»Und was wird mit ihm passieren? Wenn er stirbt, dann …«

»Meine Güte, Bruder Oswald, dieser Kerl hat dich um ein Haar umgebracht! Spar dir dein Mitgefühl für jemanden, der es wert ist.«

»Wem ich mein Mitgefühl zuteil werden lasse, entscheide ich doch immer noch ganz gern selbst, vielen Dank«, entgegnete Oswald spitz. Cædmon wandte den Blick zur Decke. »Nein, sei unbesorgt, er wird nicht sterben. Ihm wird schlecht. Unbeschreiblich elend – er wird kotzen, bis er wünscht, er wäre tot. Und wenn er glaubt, daß es schlimmer nicht mehr werden kann, dann kriegt er Krämpfe. Böse Krämpfe. Und Durchfall. Vielleicht einen Ausschlag, so daß er aussieht wie ein Aussätziger, aber alles vergeht innerhalb von ein, zwei Tagen wieder. Beruhigt?«

Oswald schüttelte seufzend den Kopf und murmelte: »Vergib mir, o Herr, daß ich mich der Sünde der Rachsucht hingebe und diese Vorstellung mich erfreut. Was hat dieses Teufelszeug in unserem Kräutergarten zu suchen?«

»Richtig angewendet, senkt es Fieber«, erklärte Guthric.

Oswald brummte: »Also, da hätte ich doch lieber Fieber …«

Geräusche drangen nur gedämpft durch die massive Tür zum Weinkeller, aber das jämmerliche Stöhnen, das sich nach einiger Zeit auf der anderen Seite erhob, vernahmen sie trotzdem. Nach einer Weile wurde es still. Sie vermuteten, daß Gorm sich zum Abort verkrochen hatte, um sich seinen diversen Leiden zu ergeben. Und tatsächlich war es ein anderer von Herewards Männern, der kurz vor Einbruch der Dunkelheit die Tür aufsperrte und den Novizen hereinließ, der ihnen das Nachtmahl brachte. Cædmon erkannte den kleinen Mann mit dem schütteren, wirren Haar sofort wieder. Er war der Priester, der das glühende Kruzifix gesegnet hatte. Cædmon schauderte unwillkürlich, als er sich daran erinnerte, und der Schmerz, der fast völlig verebbt war, flammte kurioserweise wieder auf.

Guthric erkannte ihn ebenfalls. »Wynfrith! Welch eine Erleichterung, einen wahren Christenmenschen zu sehen. Wo ist Gorm?«

»Krank«, antwortete der streitbare Priester.

»Oh, das tut mir leid.« Guthrics Unschuldsmiene hätte selbst den Papst getäuscht. »Aber wo du schon einmal hier bist, würdest du mir die Beichte abnehmen?«

Wynfrith blinzelte verblüfft. »Was?«

»Die Beichte«, wiederholte Guthric. »Du bist doch Priester, oder?« »Ähm, schon.«

»Ich bin seit Wochen hier eingesperrt und habe weder die Kommunion empfangen noch gebeichtet. Es ist mir ein Bedürfnis, du würdest mir einen wirklich großen Gefallen tun.«

»Ja, aber …«

»Wenn du die lateinischen Formeln nicht kannst, helfen wir dir«, bemerkte Bruder Oswald mit sorgsam verborgenem Spott.

Wynfrith trat zögernd über die Schwelle. »Na ja, ich schätze, es ist wohl meine Pflicht, obwohl ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr …« Ehe er den Satz beenden konnte, war Cædmon hinter ihn geglitten, hob einen der dicken Folianten, die auf dem Tisch lagen, mit beiden Händen und ließ ihn auf Wynfriths Schädel niedersausen. Der Priester brach lautlos zusammen. Gleichzeitig hatte Guthric den verdatterten Novizen am Arm gepackt und stieß ihn gegen die rückwärtige Wand. »Besser, du rührst dich nicht«, riet er.

Cædmon tippte Wynfrith mit der Fußspitze an. Nichts. »Der schläft ein Weilchen.«

Bruder Oswald bedachte Cædmon mit einem Kopfschütteln. »Der arme Boethius. Es ist sein Werk, das du mißbraucht hast. Der Trost der Philosophie. Du solltest dich schämen, weißt du.«

Cædmon zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. »Wenn die Schlagkraft seiner geballten Weisheit uns hier herausbringt, dann liegt wahrlich Trost in seiner Philosophie. Und jetzt kommt.«

Er zückte Morcars Dolch, schlich zur Tür und spähte hinaus. »Die Luft ist rein«, raunte er über die Schulter.

Die beiden Mönche folgten ihm, und Guthric warf dem verstörten Novizen, der immer noch das Tablett in den Händen hielt, einen reumütigen Blick zu. »Tut mir leid, Eandred, aber du wirst hier mit Wynfrith bis morgen früh ausharren müssen. Verhungern werdet ihr sicher nicht. Nutze die Zeit, um darüber nachzusinnen, wem du in Wahrheit Loyalität schuldest, Hereward oder Gott und deinem Orden.«

»Ja, Bruder Guthric«, murmelte der Junge kleinlaut.

»Und sprich deine Gebete.«

»Ja, Bruder Guthric.«

»Guter Junge.« Guthric trat als letzter über die Schwelle, schloß die Tür und drehte so geräuschlos wie möglich den Schlüssel um.

Cædmon schob Morcars Dolch behutsam in seinen linken Ärmel, glitt aus dem Vorratshaus und sah sich wachsam um. Der Hof lag schon fast im Dunkeln. Er wartete, bis seine Augen sich darauf eingestellt hatten. Als er sich vergewissert hatte, daß niemand in den Schatten lauerte, winkte er den anderen, ihm zu folgen.

»Der Zeitpunkt ist günstig«, flüsterte Oswald. »Sie sind alle beim Essen. Das versäumt keiner von ihnen gern.«

»Hoffentlich vermissen sie Eandred nicht«, murmelte Guthric nervös. »Schsch«, mahnte Cædmon. »Seid still und horcht auf Schritte. Kein unnötiges Wort.«

Er verschmolz mit dem tiefen Schatten der Klostermauer, und die beiden Mönche stellten verwundert fest, daß er sich vollkommen lautlos bewegte. Sie folgten ihm auf möglichst leisen Sohlen, spitzten die Ohren und warfen nervöse Blicke über die Schulter zurück.

Aber sie kamen unbehelligt in den Kräutergarten. Cædmon hatte beschlossen, die Pforte zu meiden. Sie war todsicher bewacht, und niemand konnte wissen, wie viele Männer sich dort herumtrieben. Sie hatten bessere Chancen, wenn sie über die Mauer gingen. Die berankte Laube, neben der er am Tag zuvor mit Earl Morcar gesessen hatte, würde ihnen das Klettern erleichtern. Falls sie nicht zusammenbrach.

Sie stiegen über die niedrige Obsthecke und huschten durch den Garten zur Mauer.

Cædmon sah daran hoch. Dann nickte er seinem Bruder zu. »Du zuerst. Dann Oswald. Ich komme zum Schluß.«

Guthric stellte eine Sandale auf eine der bedenklich schwachen Holzlatten der Laube und griff mit beiden Händen in die dichten Ranken. Gerade als er sich hochziehen wollte, fiel ein großer Schatten auf seinen. Wie aus dem Nichts war eine dunkle Gestalt aus der Laube geglitten, packte Guthrics Habit, zog ihn zurück, und Stahl blinkte matt im letzten Licht.

Guthric stieß einen halb erstickten Laut der Überraschung aus und verstummte, als er eine Klinge an der Kehle spürte.

»Hab ich’s doch geahnt«, wisperte eine heisere Stimme.

Cædmon hatte ihn schon erkannt, ehe er sprach. »Dunstan …«

»Für wie dumm hältst du mich, Cædmon? Dachtest du wirklich, ich würde nicht erkennen, was mit dem armen Gorm los ist? Hast du geglaubt, du kannst mir weismachen, daß du hier einfach geduldig ausharrst, bis wir dich laufen lassen?«

»Und was willst du jetzt tun, Dunstan?« fragte Guthric ruhig. »Zwei deiner Brüder und einen Mönch töten?«

Dunstan lachte sein schauderhaftes, heiseres Lachen. »Das wird wohl nicht nötig sein. Ich bin überzeugt, Cædmon und der ehrwürdige Bruder Prior werden ganz freiwillig dahin zurückgehen, woher sie gekommen sind, wenn ich drohe, nur dich zu töten. Weil sie wissen, daß es mir ernst mit der Drohung ist. Nicht wahr, Cædmon, das weißt du doch?«

»Natürlich weiß ich das, Dunstan. Wer könnte besser wissen als ich, daß es keine Abscheulichkeit gibt, zu der du nicht herabsinken würdest? Daß du bei Hastings nicht nur deinen König und deine Stimme, sondern auch jeden Funken Anstand verloren hast, den du je besessen haben magst.«

Dunstan schnaubte belustigt. »Und davon erhoffst du dir, daß ich Guthric loslasse, mich auf dich stürze und du mich mit dem Messer abstechen kannst, das du im Ärmel versteckt hältst, ja? Du bist so leicht zu durchschauen wie eh und je. Aber du kannst mich nicht mehr beleidigen als ein räudiger Köter den Mond, den er anbellt. Du bist derjenige, der tief gesunken ist. So tief, daß ich kaum hören kann, was du sagst.«

»Du warst immer schon unübertroffen darin, nicht zu hören, was du nicht hören willst«, murmelte Guthric.

»Du sei lieber still. Deine frömmelnde Normannentreue ist mir genauso zuwider. Ich könnte dich ebenso leicht abstechen wie ich einen Käfer zertrete«, drohte Dunstan und stieß ihm das Knie in die Nieren. Guthric stöhnte, taumelte und sackte zusammen, nahm in Kauf, daß Dunstans Dolch ihm die Haut am Hals einritzte, gefährlich nah an der Schlagader.

Cædmon erkannte sofort, was Guthric tat. Dunstans Kopf und Oberkörper waren plötzlich für einen Angriff offen, nicht länger durch Guthrics Körper gedeckt. Cædmon traf keine bewußte Entscheidung, dachte keinen klaren Gedanken, aber er zog nicht den Dolch aus dem linken Ärmel, sondern ließ den großen Stein, den er im rechten verborgen hatte, in die Hand gleiten, nahm Maß und warf. Seine Treffsicherheit ließ ihn auch dieses Mal nicht im Stich. Der runde Stein schnellte aus seiner Hand wie aus einer Schleuder, zog einen exakten, kleinen Bogen und traf Dunstan an der Schläfe, ehe er den Kopf wegreißen konnte. Dunstan erstarrte, ganz allmählich verdrehten sich seine Augen, bis nur noch das Weiße sichtbar war, dann klappten sie zu, und er ging ebenso lautlos zu Boden wie Wynfrith vor ihm.

Cædmon würdigte ihn keines weiteren Blickes. Er trat zu Guthric, der taumelnd zur Seite gewichen war, als Dunstan stürzte. »Laß sehen. Ist es schlimm?«

Guthric hatte die Fingerspitzen auf die Wunde am Hals gepreßt. »Glaub’ nicht.«

»Kannst du klettern?«

»Natürlich.«

Guthric war immer schon ein geschickter Kletterer gewesen. Mühelos erklomm er die Mauer. Dann half er Bruder Oswald und Cædmon hinauf.

Als sie sicher auf der anderen Seite standen, atmete Cædmon erleichtert auf. »Jetzt müssen wir nur noch durch diese verfluchten Sümpfe.«

Bruder Oswald und Guthric tauschten ein Grinsen und sagten wie aus einem Munde: »Nichts leichter als das.«

Das zweite Königreich
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