Winchester, September 1070
Wider Erwarten hatte Etienne seinen Vater auf den Kontinent begleitet. Seit der Eroberung hatte er England nicht verlassen, denn hier lagen seine Ländereien, und außerdem mied er jede Kanalüberquerung, weil ihm vor nichts so graute wie vor dem Tod durch Ertrinken. Der Seneschall des Königs und Earl of Hereford verfuhr wie die meisten normannischen Adligen: Den Stammsitz der Familie in der Normandie überließ er der Obhut seines ältesten Sohnes, Guillaume, während er seine jüngeren Söhne, Roger und Etienne, mit in dieses neue Land gebracht hatte, damit sie sich hier ihre Sporen und eigene Güter verdienen und eine Existenz aufbauen konnten. Wie in den meisten Fällen war diese Rechnung auch für die fitz Osberns aufgegangen: Etienne, sein Bruder Roger und vor allem sein Vater waren zusammen die größten Landeigner in Westengland.
So war Etienne nicht besonders erbaut davon, nach Flandern verschleppt zu werden, wie er es ausdrückte, aber natürlich entsprach er dem Wunsch seines Vaters, der Roger hier zurückgelassen hatte, um die Interessen der Familie zu verwalten, seinen Jüngsten aber an seiner Seite haben wollte, weil er bei diesem neuerlichen normannischen Wagnis verläßliche Begleiter brauchte.
Der König konzentrierte seine schier unerschöpflichen Energien derweil darauf, Lanfranc auf den Bischofsstuhl von Canterbury zu setzen, und Ende August endlich war es vollbracht: Der Bischof von London und acht weitere Bischöfe führten Lanfranc in einer höchst feierlichen Zeremonie – wenn auch in einer teilweise niedergebrannten Kathedrale – in sein hohes Amt ein.
»Ich frage mich nur, was daran so lange gedauert hat«, bemerkte Prinz Richard, als sie wenige Tage nach ihrer Rückkehr aus Canterbury wie so oft auf der Wiese neben der großen Halle saßen und über England und Politik redeten. Es war immer noch mörderisch heiß. Seit Mitte Juli war kaum ein Tropfen Regen gefallen, und die Bauern stöhnten, weil sie die Ernte bei dieser Gluthitze einbringen mußten und das Korn großteils verdorrt war. Es war äußerst fraglich, ob die magere Ernte das Land über den Winter bringen würde. Die Preise für Mehl und Korn stiegen bereits, und Cædmon war in Sorge.
»Es war nicht so einfach, Lanfranc zu überreden, das Amt anzunehmen«, antwortete er Richard. »Der König und Lanfranc sind sich einig, daß die englische Kirche vieler Reformen bedarf, aber selbst bei so frommen Angelegenheiten steckt der Teufel eben oft im Detail. Sie haben hart verhandelt.«
»Ich verstehe nicht, was an der ganzen Sache so verdammt wichtig sein soll«, brummte Rufus. »Das Maine schlüpft meinem Bruder Robert durch die Finger – er scheint nicht fähig, dort für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Flandern wackelt, und in den Sümpfen deiner schönen Heimat hockt das englische Rebellenpack und sammelt seine Kräfte. Ich begreife nicht, warum mein Vater sich nicht lieber dieser Probleme annimmt.«
»Vielleicht fragst du ihn mal«, schlug Leif vor, und alle außer Rufus lachten.
»Vielleicht werde ich das«, gab der jüngere der beiden Prinzen hitzig zurück. »Warum nicht? Er mag der König sein, aber er ist nicht Gott!« Cædmon ging nicht direkt auf diesen wenig ratsamen Vorschlag ein. Der König war den Empfehlungen seiner Vertrauten immer aufgeschlossen, aber selbst seine Brüder, Guillaume fitz Osbern und Lanfranc mieden es, seine Absichten oder Methoden zu kritisieren.
»Du solltest die Wichtigkeit dieser Reformpläne nicht unterschätzen, Rufus«, sagte er statt dessen.
Rufus winkte ungeduldig ab – die Geste machte ihn seinem Vater für einen Moment sehr ähnlich. »Wieso? Was ist so wichtig daran, ob die englischen Priester verheiratet sind oder nicht? Die meisten normannischen sind es doch auch. Und wenn sie’s mit ihren Schafen und Ziegen treiben würden, wär’s mir auch gleich …«
»Rufus!« rief Richard erschrocken aus.
Sein Bruder warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Was?«
»Richard hat recht, Rufus«, sagte Cædmon scharf. »Ich dulde keine vulgären Reden in meinem Unterricht, sie sind eines Prinzen nicht würdig. Außerdem sind es Gottesmänner, über die wir hier sprechen, und du wirst ihnen gefälligst Respekt erweisen.«
Rufus schnaubte und entschuldigte sich nicht.
Cædmon rang einen Moment mit sich und beschloß dann, sich nicht provozieren zu lassen. »Es geht nicht allein um die Frage der Priesterehe, sie ist im Grunde nebensächlich. Es geht darum, eine funktionsfähige Verwaltung aufzubauen. Der König ist durchaus gewillt, das angelsächsische Rechtssystem mit den Provinzgerichten in Hundert- und Grafschaften beizubehalten, aber sowohl er als auch Lanfranc streben nach einer Trennung von weltlichem und Kirchenrecht. Verwaiste Klöster müssen neu belebt werden, die schlecht geführten brauchen neue Äbte, damit die kirchlichen Ländereien vernünftig bewirtschaftet werden und sie ihre Verpflichtungen gegenüber der Krone erfüllen können. Das heißt, hierbei geht es um Geld und Kontingente von Soldaten. Was für die Klöster gilt, gilt ebenso für die Diözesen. Ihr müßt bedenken, daß die Bischöfe und Klöster in England etwa ein Viertel des Landes halten. Der König und Lanfranc wollen dieses Land von fähigen, königstreuen Männern verwaltet wissen. Außerdem wollen sie ein Schulsystem aufbauen – dessen Notwendigkeit mir allerdings auch nicht so recht klar ist.« Seine Schüler lachten. »Bevor diese Reform nicht durchgeführt ist, kann das Lehenssystem, das der König eingeführt hat, nicht richtig funktionieren, und das bedeutet, daß der Krone Einkünfte entgehen und weniger kampffähige, voll ausgerüstete Ritter zur Verfügung stehen, als es der Fall sein sollte. Das kann der König sich nicht leisten. Darum ist es richtig, daß er dieses Reformwerk wenigstens auf den Weg bringt, ehe er sich um das Maine oder auch um Hereward den Wächter kümmert.«
»Und um deinen Bruder Dunstan«, fügte Rufus vielsagend hinzu.
Cædmon war verblüfft und bestürzt zugleich. Er hatte den König und dessen Berater, die seinen Bericht über Ely mit angehört hatten, gebeten, nicht nach außen dringen zu lassen, daß Dunstan Herewards rechte Hand war. Weil er sich seines Bruders schämte und weil er wußte, daß es gewisse Männer am Hof gab, wie Warenne oder Lucien de Ponthieu zum Beispiel, die versuchen würden, Kapital daraus zu schlagen. »Und um Dunstan, völlig richtig«, sagte er langsam. »Verrätst du mir, wie du davon erfahren hast?«
Nach einem kurzen Schweigen sagte Eadwig: »Ich hab es ihm erzählt, Cædmon.«
»Ah ja? Hatte ich dich nicht gebeten, es für dich zu behalten?«
Eadwig senkte den Blick. »Es tut mir leid.«
»Warum sollte es dir leid tun?« fragte Rufus. An Cædmon gewandt fuhr er fort: »Eadwig ist mein Freund. Er war bekümmert über den Verrat seines Bruders und hat sich mir anvertraut. Was ist dagegen einzuwenden, daß ich die Wahrheit weiß? Oder sonst irgendwer? Es sei denn, du versuchst, Dunstan zu decken, dann ist es natürlich etwas anderes. Ich hoffe doch nicht, daß du es dem König verschwiegen hast?«
Cædmon erhob sich langsam. »Steh auf, William Rufus. Komm her. Die anderen verschwinden.«
Beklommen kamen die Jungen auf die Füße und wandten sich ab. Nur Eadwig zögerte. »Cædmon …«
Sein älterer Bruder fuhr zu ihm herum. »Ich sagte, du sollst gehen, Eadwig«, herrschte er ihn an. »Tu es lieber. Wir sprechen uns später.« Eadwig hatte seinen Bruder noch nie so wütend gesehen. Er hatte nicht gewußt, daß Cædmon so sein konnte, es machte ihm angst. Aber er beherrschte seine Furcht und blieb, wo er war, um für Rufus einzustehen. »Du weißt doch genau, daß Rufus das nicht ernst gemeint hat«, sagte er leise.
Cædmon trat langsam auf ihn zu, und Eadwig mußte sich zusammenreißen, um nicht zurückzuweichen.
»Warte, Cædmon«, bat Rufus plötzlich, aller Hochmut war aus seiner Stimme verschwunden. »Vergiß nicht, auf wen du es abgesehen hast. Laß ihn zufrieden. Es ist schon gut, Eadwig. Verschwinde lieber.«
Cædmons Zorn verrauchte. Diese beiden Bengel standen zu einander wie Roland und Olivier im Chanson – es war entwaffnend. Er gab sich die größte Mühe, nicht zu zeigen, daß er gerührt war, verschränkte die Arme vor der Brust und nickte Eadwig zu. »Wärst du jetzt so gut?« brummte er. Eadwig wandte sich mit hängendem Kopf und einem letzten, vorwurfsvollen Blick in Cædmons Richtung ab.
Als sie endlich allein waren, sagte er: »Und was nun, Rufus?«
Der Prinz lachte verblüfft. »Das fragst du mich? Tja, wenn du Lucien de Ponthieu wärest, könnte ich dir genau sagen, wie es jetzt weiterginge. Aber bei dir? Ich weiß es nicht.«
Er hatte offenbar nicht lange gebraucht, um zu seiner Unverfrorenheit zurückzufinden. Mehr um ihm einen Dämpfer zu verpassen, denn weil es ihm ernst damit war, sagte Cædmon: »Ich fürchte, ich werde deinem Vater sagen müssen, daß ich dich nicht weiter unterrichten kann.« Rufus’ Reaktion überraschte und erschreckte ihn. Das sonst so rotwangige Gesicht wurde aschfahl. Er blinzelte, als habe er Sand in den Augen, dann schlug er plötzlich eine Hand vor den Mund und floh hinter die nahe Waffenkammer. Cædmon lauschte dem erstickten Würgen, das gar kein Ende nehmen wollte, setzte sich wieder unter den Baum und schämte sich. Er hatte nicht die Absicht gehabt, den Jungen in diesen Zustand zu versetzen. Natürlich hatte er gewußt, daß die Prinzen in ständiger Furcht vor ihrem Vater lebten. Das galt für Robert in der fernen Normandie ebenso wie für Richard und Rufus, und auch Henry würde es sicher nicht anders ergehen, wenn er größer wurde. In Gegenwart des Königs hielten seine Söhne die Köpfe gesenkt, sprachen nur, wenn es unvermeidlich war, und dann auch nur das Nötigste. Richard stotterte manchmal. Im Gegensatz zu manch anderem hatte Cædmon nie viel Komisches daran entdecken können. Er hatte Verständnis für ihre Angst. Es war schließlich leicht genug, den König zu fürchten, selbst wenn man nicht sein Sohn war. Aber er hatte nicht geahnt, wie schlimm es offenbar war.
Als Rufus wieder zum Vorschein kam, war sein Gesicht grau, und zwei feuerrote Flecken brannten auf den Wangen. Seine Knie schienen weich zu sein; er taumelte ein wenig.
»Cædmon …«
»Nein, warte. Setz dich. Und beruhige dich. Ich denke, wir müssen eine andere Lösung finden.«
Der Junge ließ sich neben ihm ins Gras fallen und lehnte den Kopf mit geschlossenen Augen an den rauhen Stamm. Er wirkte vollkommen erschöpft. »Und zwar?«
»Du könntest damit anfangen, daß du dich bei mir entschuldigst.«
»Ich entschuldige mich bei dir.«
»Weißt du, ich kann mir nicht helfen, aber das überzeugt mich irgendwie nicht.«
Rufus zeigte ein müdes Lächeln. Seine Augen waren immer noch geschlossen.
»Glaubst du wirklich, ich wolle meinen Bruder Dunstan decken, Rufus?« fragte Cædmon schließlich.
»Warum sagst du es dann? Und warum tut dir nicht leid, was du gesagt hast? Was habe ich dir getan, daß du dir immer solche Mühe gibst, mich in Verlegenheit zu bringen oder mich sogar zu beleidigen?«
Rufus öffnete die Augen und sah ihn kopfschüttelnd an. »Es hat nichts mit dir zu tun. Ich bin zu allen so. Ich … kann nichts dagegen tun.« »Doch, das mußt du. Was immer der Grund für deine üblen Launen ist, du mußt lernen, sie zu beherrschen. Denn auf diese Weise schaffst du dir wirklich keine Freunde, weißt du, und früher oder später wird dein Vater davon erfahren.«
»Ja. Ich weiß.« Es klang erstickt.
»Herrgott noch mal, Rufus, sag mir, was mit dir los ist. Wenn du so große Stücke auf Eadwig hältst, kannst du nicht versuchen, auch ein bißchen Vertrauen zu mir zu haben? Wie soll ich dir sonst helfen?« Rufus wandte den Kopf und sah ihn an. »Willst du das denn, Cædmon? Ich bin dir in Wahrheit doch völlig gleich. Du liebst doch nur Richard. Den zukünftigen König von England. Genau wie alle anderen.«
So, dachte Cædmon, das ist es also. »Wie kommst du darauf?« fragte er neugierig.
Rufus lachte unglücklich auf. »Du brauchst es nicht zu leugnen, ich weiß, daß es so ist. Man merkt es an hundert kleinen Dingen. Daran, wie du ihn ansiehst, wie du ihm zuhörst, wie du mit ihm sprichst. Wegen ihm bist du zurückgekommen. Weil du in ihm die Hoffnung für Englands Zukunft siehst. Du träumst von dem Tag, da der grausame Eroberer endlich Platz macht für den sanftmütigen Richard, dessen Herz wahrhaft für England schlägt.«
Das traf den Nagel so genau auf den Kopf, daß Cædmon einen Moment sprachlos war. Ehe ihm eine überzeugende Erwiderung eingefallen war, fuhr Rufus fort:
»Alle denken so. Lucien de Ponthieu, Etienne fitz Osbern, sogar Lanfranc und meine Onkel, Odo und Robert. Sie alle setzen auf Robert für die Zukunft der Normandie und auf Richard für die Zukunft Englands. Sie bewundern Robert für die Tatkraft und Weitsicht, mit der er in Vaters Abwesenheit in Rouen herrscht, sie lieben Richard für seinen Anstand, seine Aufrichtigkeit und seine noble Gesinnung, und sie alle behandeln mich, als sei ich überhaupt nicht vorhanden. Mein Vater ist im Grunde genauso. Nicht daß er Robert und Richard liebt – er liebt niemanden. Außer meiner Mutter vielleicht. Aber er beachtet sie. Kritisch, selten mit Wohlwollen, aber er beachtet sie. Er beachtet sogar Henry, weil er so niedlich ist, daß nicht einmal der eiserne William davon unberührt bleibt. Mich ignoriert er. Vollkommen.«
Cædmon ließ ein paar Augenblicke verstreichen und ordnete seine Gedanken. Er wußte, vieles von dem, was Rufus gesagt hatte, war nicht von der Hand zu weisen. Trotzdem … »Das ist nicht wahr, Rufus. Er ignoriert jede deiner Schwestern, aber nicht dich. Er hat Pläne mit dir, sei versichert.«
»Welche?« fragte Rufus skeptisch.
»Das weiß ich nicht. Vielleicht nimmst du irgendwann einmal deinen Mut zusammen und fragst ihn. Da er dich bislang in kein Kloster gesteckt hat, nehme ich nicht an, daß du Erzbischof von Rouen oder Canterbury werden sollst. Vermutlich wird er dir soviel Land hinterlassen, daß du der mächtigste unter Richards Magnaten wirst, so daß du deinem Bruder, dem König, tatkräftig zur Seite stehen kannst. Wenn er sich nicht doch noch dazu entschließt, die englische Krone Robert zu überlassen, in dem Falle müßtest du dir die Rolle des mächtigen Prinzen im zweiten Glied mit Richard teilen. Wie auch immer, du kannst nicht dein ganzes Leben damit hadern, daß du nicht der erst- oder zweitgeborene Sohn deines Vaters bist.«
»Doch. Ich glaube, das kann ich durchaus.«
»Dann wirst du immer nur unglücklich sein und weder dir noch England oder der Normandie von Nutzen.«
Rufus schnaubte. »Ja, Cædmon, du hast leicht reden. Dein älterer Bruder hat sich freundlicherweise auf die Seite der Verräter geschlagen und somit Platz für dich gemacht, so daß du nachrücken konntest. Jetzt bist du Thane of Helmsby, nicht er.«
»Du hast recht, Rufus, so betrachtet habe ich Glück gehabt. Auch wenn es mir alles in allem lieber wäre, mein Bruder wäre kein Verräter, aber Helmsby gehört jetzt unumstritten mir. Trotzdem ist meine Situation nicht so anders als deine, und darum weiß ich genau, was du empfindest.«
»Wie meinst du das?«
Cædmon rang mit sich. Er spürte ein heftiges Widerstreben, ausgerechnet vor diesem Jungen seine Seele zu entblößen. Er sah ihn an. Die Wangen waren wieder so apfelrot wie eh und je, und die blauen Augen hingen beinah flehentlich an seinen Lippen. Er hatte gesagt, er wolle ihm helfen. Also gab er sich einen Ruck.
»Denkst du wirklich, es ist so leicht, als Engländer an einem normannischen Hof in einem besiegten England zu leben? Glaubst du vielleicht, es macht mir nichts aus, daß Warenne und Lucien de Ponthieu und einige andere mich hinter meinem Rücken einen angelsächsischen Schweinehirten nennen? Daß jeder Normanne sich mir überlegen fühlt, vor mir an der Reihe ist, wenn Ländereien zu verteilen sind, und daß ein Normanne Sheriff von Norfolk ist, das Amt bekleidet, das vor der Eroberung mein Vater ausgeübt hat?«
Rufus starrte ihn mit offenem Mund an und schüttelte langsam den Kopf. »Ja, das habe ich geglaubt. Wenn mich jemand gefragt hätte, hätte ich gesagt, es ist dir völlig gleich.«
Cædmon nickte. »Weil ich will, daß die Welt das glaubt.«
»Warum?« fragte der Junge verständnislos. »Wieso wehrst du dich nicht? Schlägst zurück?«
»Weil es an meiner Situation nichts ändern würde. Es würde sie höchstens verschlimmern. Mir zusätzlich zu Warennes Verächtlichkeit und Luciens Feindseligkeit noch ihren Hohn eintragen und, was noch schlimmer wäre, es würde mir meine Freunde entfremden. Das ist die Lektion, die ich gelernt habe, als ich ganz allein in die Normandie kam – ich war genauso alt wie du jetzt. Besser für dich, du lernst sie auch bald, Rufus. Sonst gehst du vor die Hunde.«
Rufus stützte das Kinn auf die Faust. Schließlich schüttelte er den Kopf und sagte leise: »Ich bin nicht sicher, ob ich das kann.«
»Natürlich kannst du. Du brauchst es nur zu tun. Die Entscheidung liegt allein bei dir.«
Rufus zeigte das schwache, skeptische Lächeln, das so typisch für ihn geworden war. »Danke, Cædmon. Kann ich gehen? Es wird Zeit für den verfluchten Bücherunterricht.«
Cædmon winkte auffordernd. »Das will ich dir auf keinen Fall vorenthalten. Verschwinde schon.«
Er hatte im Grunde wenig Hoffnung gehabt, daß Rufus sich seine Vorhaltungen zu Herzen nehmen würde, aber zu seiner Überraschung war der Prinz seit ihrer Aussprache wie ausgewechselt. Seine Bitterkeit schien ebenso verflogen wie sein rebellisches Verhalten, und er wirkte glücklicher und ausgeglichener als seit vielen Monaten. Cædmon war ebenso erleichtert wie Richard und die übrigen Knappen und Lehrer, aber er wagte nicht zu hoffen, daß diese wundersame Wandlung von Dauer sein würde. Er glaubte nicht, daß seine Worte allein eine so heilsame Wirkung haben konnten. Helfen konnte dem Jungen letztlich nur der König. Aber das würde wohl niemals geschehen.
William war unterdessen mit innenpolitischen Angelegenheiten beschäftigt. Gemeinsam mit Lanfranc und seinem Bruder Odo erörterte er geeignete Kandidaten für den Erzbischofsstuhl von York, denn Aldred, der unmittelbar nach der Eroberung und auch seither eine so wichtige Vermittlerrolle gespielt hatte, war im vergangenen Herbst gestorben. York war die größte und mächtigste Diözese nach Canterbury; die Entscheidung war dementsprechend wichtig.
Sie hörten wenig Nachrichten aus Flandern. Fitz Osbern und Etienne waren unbeschadet dort eingetroffen, und Herzogin Richildis hatte sie erwartungsgemäß warm empfangen, aber Robert le Frison, der Bruder des verstorbenen Herzogs, genoß große Sympathien unter der Bevölkerung. Alles sprach dafür, daß es auf eine militärische Konfrontation hinauslaufen würde.
Während der September ins Land ging und die magere Ernte eingebracht wurde, nutzten Cædmon und Aliesa Etiennes Abwesenheit beinah jeden Tag zu einem heimlichen Treffen, während Cædmon Beatrice Baynard, die immer noch in Winchester weilte, mehr pflichtschuldig als feurig den Hof machte. Je besser er seine zukünftige Braut kennenlernte, um so mutloser wurde er. Beatrice war ein hübsches Mädchen und besaß formvollendete Manieren, sie gab sich sogar Mühe, Interesse an ihm zu heucheln. Aber Cædmon spürte deutlich, wie groß ihre Abneigung gegen England, seine Traditionen und vor allem seine Bewohner war. Ihre Vorstellungen waren von Vorurteilen geprägt, und sie schien nicht gewillt, sich eines Besseren belehren zu lassen. Vielleicht konnte sie einfach nicht. Aus ihrer Unfähigkeit, selbst die einfachsten Rätsel zu lösen, hatte Cædmon geschlossen, daß seine Erwählte nicht die Allerhellste war… »… und Baynard sagte mir, daß Ihr seine Tochter für ein paar Tage mit nach Helmsby nehmen wollt?« hörte er den König sagen.
Cædmon kehrte mit seinen Gedanken schleunigst in die Gegenwart zurück. Sie befanden sich in einem Wald etwa zehn Meilen südlich von Winchester. Heute waren keine Damen mit von der Partie, denn sie machten Jagd auf Rot- und Damwild.
»Das ist richtig, Sire. Ich müßte ohnehin nach Hause, um zu sehen, wie es mit der Ernte steht, und da dachte ich mir, es wäre eine gute Gelegenheit, ihr Helmsby zu zeigen.«
»Hm«, machte der König. »Meinetwegen. Aber seid vor Mitte Oktober zurück und überbringt Eurer Mutter meine Einladung, Euch an den Hof zu begleiten.«
Cædmon fiel aus allen Wolken. »Meiner Mutter?«
William runzelte mißfällig die königliche Stirn. »Ihr werdet doch nicht schwerhörig, Thane?«
»Ähm … nein, Sire. Keineswegs.« Gott, wie reizbar er in letzter Zeit war. Jedes Wort mußte man auf die Goldwaage legen. Wenn der König so weitermachte, würde bald jeder Angehörige des Hofes in seiner Gegenwart so einsilbig und verschreckt sein wie seine Söhne.
»Die Königin ist guter Hoffnung«, vertraute William ihm unvermittelt an.
Cædmon lächelte. »Meinen Glückwunsch, Sire.«
William nickte knapp. »Als Henry zur Welt kam, gab es Komplikationen. Ich weiß, Eure Mutter ist eine Dame und keine Hebamme, aber … Ihr erwähntet irgendwann einmal, daß dank ihrer Hilfe in Helmsby weniger Frauen im Kindbett sterben als andernorts, also wäre ich beruhigt, wenn sie sich die Königin einmal ansähe.«
Cædmon dachte an Aliesa und kamzu dem Schluß, daß er ausnahmsweise einmaleiner Meinung mit dem Königwar: Es wäreeine wirklichgute Idee, seine Mutter über den Winter an den Hof zu holen. »Ich werde es ihr ausrichten, Sire. Ich bin überzeugt, sie wird sich sehr geehrt fühlen.« Sie würde in Wahrheit wohl eher Feuer spucken. Aber sie würde kommen. William hatte keine andere Antwort erwartet und wechselte das Thema. »Den halben Tag haben wir hier vertan und immer noch kein Stück Wild erlegt«, knurrte er.
»Es ist zu heiß«, mutmaßte Cædmon. »Bei diesem Wetter zieht sich das Wild zu tief in die Wälder zurück.«
»Mag sein. Wir haben diesen Sommer jedenfalls nicht genug erlegt, um die vielen Mäuler am Hof zu stopfen.«
Cædmon hob lächelnd die Schultern. »Es kann nicht daran gelegen haben, daß wir zu selten zur Jagd geritten wären, Sire. Wir hatten einfach kein Glück.«
»Ja, Ihr nehmt es auf die leichte Schulter. Aber ich muß ständig neues Vieh kaufen, um meinen Hof zu ernähren. Das gilt auch für Euch! Und das können wir uns nicht leisten.«
Cædmon überdachte das Problem mit größerem Ernst. »Aber was sollen wir tun, wenn wir kein Wild finden?«
»Die Wälder, die mir zur Verfügung stehen, sind einfach nicht groß genug«, grollte der König leise. »Und das muß ein Ende haben. Ich brauche mehr Wild für diesen Hof, sonst kann ich ihn nicht ernähren. Und wenn ich meinen Hof nicht ernähren kann, fällt mein Reich auseinander.«
Cædmon erkannte, daß es wirklich ein ernstes Problem war, das einer Lösung bedurfte. Trotzdem wurden seine Hände feucht, und er spürte einen heißen Druck auf dem Magen. Er kannte seinen König. Wenn William sich schon rechtfertigte, ehe er überhaupt gesagt hatte, welche Teufelei er wieder ausheckte, dann wurde es schlimm.
Doch der König sah ihn lediglich an – versonnen, so schien es – und wechselte dann unerwartet das Thema: »Es wird gemunkelt, der Papst sei krank, Cædmon.«
»Oh. Munkelt man auch, wie schlimm?«
William hob kurz die Schultern. »Die einen sagen dies, die anderen das.«
»Ich werde für ihn beten, Sire. Alexander ist ein guter Papst.«
»Ja, vor allem für England. Es kann nie schaden, wenn der Erzbischof von Canterbury der ehemalige Lehrer des Papstes ist, solch alte, persönliche Bande sind mit nichts zu ersetzen.«
Cædmon nickte zustimmend. Auf dieses Rezept hatte William gesetzt, seit er als siebzehnjähriger Knabe begonnen hatte, sich die Macht in der Normandie zu erkämpfen. Viele derer, die ihm damals beigestanden hatten, waren heute noch an seiner Seite – sie oder ihre Söhne. Und er hatte dafür gesorgt, daß sie es nicht bereuten. Er hatte England erobert und an sie verteilt …
»Und angenommen, Alexander sei so ernstlich erkrankt, daß bald ein Nachfolger gefunden werden müßte, wer könnte das sein, Sire?«
Der König sah konzentriert auf die Bäume, die sich vor ihnen wie eine undurchdringliche grüne Mauer erhoben. »Habt ihr je von Hildebrand von Soana gehört?« fragte er beiläufig.
»Nein.«
»Nun, das werdet Ihr noch. Er ist Benediktiner, genau wie Lanfranc. Und sie nennen ihn die Geißel Gottes.«
»Tatsächlich? Dann würde dieser Hildebrand sicher ein Papst nach Eurem Geschmack, Sire.«
Das schallende Gelächter des Königs hallte durch den stillen Wald, und die Vögel schreckten flatternd aus den Bäumen auf.
Cædmon erfuhr erst einige Tage später, was William getan hatte. Am Abend vor seinem Aufbruch mit Beatrice nach Helmsby saß er zusammen mit ihr, ihrem Bruder und Prinz Richard im Schatten hinter der Apsis der Kapelle, und sie plauderten. Nach kurzer Zeit gesellte Aliesa sich zu ihnen, den kleinen Henry an der Hand wie so oft in letzter Zeit. Cædmon spürte eine köstliche kleine Hitzewelle wie immer, wenn er sie sah. Zusammen mit Roland und Richard erhob er sich, als sie nähertrat, und bot ihr seinen Platz auf dem Mauervorsprung der Kapelle an, damit sie sich in ihrem guten mandelfarbenen Kleid nicht ins verdorrte Gras setzen mußte.
»Vielen Dank, Cædmon.« Sie lächelte freundlich, aber unverbindlich und ohne Augenkontakt mit ihm herzustellen, so wie sie es immer tat, wenn sie sich vor Zeugen begegneten. Dann nahm sie den angebotenen Platz ein und zog den kleinen Prinzen auf ihren Schoß, der prompt zu zappeln begann.
»Oh, kannst du denn niemals stillsitzen, Henry?« schalt sie seufzend, und er strahlte sie an und schüttelte den Kopf.
Richard zauberte ein zusammengeknotetes Tuch aus seinem Beutel hervor, das kandierte Früchte enthielt. »Komm her, Brüderchen. Ich werd’ dich füttern, damit du Ruhe gibst.«
Henry kletterte von Aliesas Knien, tapste zu Richard hinüber, kniff die Augen zu und sperrte den Mund auf. Richard wählte eine kleine, von Zucker glänzende Kirsche aus und ließ sie hineinfallen. Offenbar fand die Kirsche Gnade vor Henrys Augen, denn er ließ sich vor Richard nieder, schmiegte sich an sein Knie und hoffte auf mehr.
Sie beobachteten ihn lächelnd.
»Ist es wahr, daß der König halb Hampshire zum königlichen Forst erklärt hat?« erkundigte sich Aliesa.
Cædmon, der gänzlich in die Betrachtung des kleinen Prinzen versunken gewesen war, hob den Kopf. »Wie bitte?«
Sie machte eine unbestimmte Geste. »Gerüchte, wie üblich.«
»Doch, es stimmt«, wußte Richard zu berichten. »Eine Fläche von fast hunderttausend Acres.«
Roland pfiff vor sich hin. »Ein wahrhaft königliches Revier.«
»Wo in Hampshire?« fragte Cædmon.
»Ihr wart doch letzte Woche ein paar Meilen südlich von hier zur Jagd, nicht wahr?« fragte der Prinz.
»Erfolglos, wie man hört«, bemerkte Roland trocken.
»Mag sein, aber der Wald hat es dem König offenbar trotzdem angetan«, erklärte Richard. »Das ganze Gebiet südlich von Romsey, von der Küste bis nach Ringwood. Das meiste ist ohnehin unbesiedelte Wildnis.«
»Das meiste, aber nicht alles«, sagte Cædmon. Er kannte die Gegend, weil Robert, der Bruder des Königs, Ländereien in Dorset besaß. Cædmon hatte gelegentlich Nachrichten zwischen William und Robert überbracht und auf dem Weg dieses riesige Waldgebiet durchquert. »Ein rundes Dutzend Dörfer liegt im westlichen Teil. Vielleicht auch zwei Dutzend.«
Richard schlug die Augen nieder und nickte unglücklich. »Des Königs Förster nennt sie ›eine Handvoll armseliger Weiler‹.«
»Und was soll damit geschehen?« fragte Aliesa stirnrunzelnd.
»Sie werden niedergebrannt, die Menschen müssen fort«, sagte Richard.
Cædmon erhob sich abrupt, wandte ihnen den Rücken zu und entfernte sich ein paar Schritte. Nimmt es denn nie ein Ende? fragte er sich bestürzt. Wann hast du genug, William, wann wirst du endlich aufhören, unschuldige Menschen ins Elend zu treiben? In beinah jeder Stadt in England ließ der König seine Burgen errichten, und bei der Auswahl der Standorte spielten lediglich strategische Erwägungen eine Rolle, nie die Frage, ob auf dem ausgewählten Gelände zufällig Häuser standen, in denen Menschen wohnten. Soldaten traten ihre Türen ein, trieben die Leute aus ihren Häusern und machten die meist erbärmlichen Holzhütten dem Erdboden gleich. Und wer nicht gleich verschwand oder gar protestierte, bekam noch ein paar Beulen und gebrochene Knochen mit auf den Weg …
Cædmon atmete tief durch, um die Fassung wiederzufinden. Schließlich wandte er sich wieder zu den anderen um. »Aber wo sollen sie hingehen? Was soll aus ihnen werden? Die meisten sind Köhler, oder sie bewirtschaften die winzigen Felder, die sie dem Wald abgerungen haben. Und jetzt kommt der Herbst, und das Land steht ohnehin vor einem Hungerwinter …« Er brach ab, als seine Stimme zu kippen drohte.
»Gott, William, warum kannst du nicht auf das bißchen Land dieser armen Kreaturen verzichten, wo dir doch ganz England gehört«, murmelte Aliesa.
Richard nickte unglücklich. »Er sagt, wenn er sie ließe, wo sie sind, würden sie früher oder später anfangen, in seinem Wald zu wildern. Lieber vertreibe er sie jetzt, als sie später alle kastrieren und blenden zu lassen.«
»Ah, er tut ihnen also im Grunde einen Gefallen«, höhnte Cædmon bitter. »Ich habe doch immer geahnt, daß er in Wahrheit ein Menschenfreund ist.«
»Ja, ich finde auch, der König tut ihnen einen Gefallen«, sagte Beatrice.
Alle starrten sie ungläubig an, dann begann Roland zu lachen. »Oh, was bist du nur für ein Schaf, Schwester.« Er wurde wieder ernst und wandte sich an Cædmon. »Und du solltest ein bißchen vorsichtiger sein mit dem, was du sagst. Und vor wem.«
Es war keine Drohung, nur eine Warnung, und er warf einen vielsagenden, kurzen Blick auf Beatrice. Roland Baynard war immer der Kluge und Bedächtige unter ihnen allen gewesen, die mahnende Stimme der Vernunft.
Cædmon nickte. »Du hast völlig recht. Ich werde irgendwohin gehen, wo mich niemand hört.« Er verneigte sich knapp vor den Damen und eilte mit langen Schritten davon. Die anderen sahen ihm nach, Roland und Richard besorgt, Aliesa voller Mitgefühl und Beatrice pikiert.