Helmsby, April 1064
Der Frühling war gekommen, die dunklen Monate der Untätigkeit und des Eingesperrtseins endlich vorbei und alle Felder bestellt. An einem für die Jahreszeit ungewöhnlich warmen Tag kurz nach Ostern ritt Ælfric mit Dunstan und zwölf seiner Männer nach Metcombe zum Gerichtstag, der regelmäßig alle vier Wochen dort abgehalten wurde und wo dieses Mal die Bauern des Dorfes durch Eid ihr Land dem Thane of Helmsby übereignen sollten. Cædmon hatte ebenfalls mitkommen sollen, doch er hatte behauptet, sein Bein schmerze heute zu stark für den weiten Ritt. Es war gelogen. Er hatte längst keine Schmerzen mehr. Aber es war ihm zutiefst zuwider, wenn seinetwegen alle langsam ritten. Ebenso war ihm zuwider, wie betont fröhlich selbst die bärbeißigsten der Housecarls neuerdings mit ihm redeten, wie geflissentlich sie vermieden, sein Bein anzusehen. Nein, Cædmon blieb viel lieber zu Hause. Er saß mit seinen jüngeren Geschwistern im sonnenbeschienenen Hof vor der Halle auf der Wiese. Der Vormittag war still und friedvoll. Im nahen Viehstall stampfte eine Kuh. Eine durchdringende Geruchsmischung aus Stroh und Mist drang aus dem geöffneten Tor. Eine junge Magd kam mit zwei schweren Milcheimern heraus und trug sie zur Halle hinüber. In dem kleinen Wäldchen jenseits der Hecke rief ein Kuckuck.
Guthric lag lang ausgestreckt auf dem Rücken und sah blinzelnd in den blauen Himmel hinauf. Hyld hatte ihre Spindel mit nach draußen gebracht; genau wie ihre Mutter schien sie unfähig, einfach einmal gar nichts zu tun. Der siebenjährige Eadwig hatte Guthrics Messer stibitzt und zerlegte einen Frosch.
»Eadwig, muß das sein?« schalt Hyld. »Das ist eklig.«
Eadwig stückelte unbeirrt weiter und fragte Guthric: »Warum ist Vater mit so großem Gefolge nach Metcombe geritten?«
»Wenn ein Eid vor dem Gericht einer Hundertschaft rechtskräftig sein soll, muß er vor zwölf Zeugen geleistet werden. Wer klug ist, bringt sich seine Zeugen selber mit.«
»Was ist eine … Hundertschaft?«
»Ein Distrikt. Ganz England ist in Grafschaften unterteilt und die Grafschaften in Distrikte, die Hundertschaften heißen.«
»Northumbria nicht«, widersprach Hyld.
Guthric schnitt eine Grimasse. »Ich sprach von England. Nicht von dem nördlichen Ödland, wo die Wilden leben.«
»Und warum heißt eine Hundertschaft eine Hundertschaft?«
»Weil jeder Distrikt aus etwa einhundert Hufen besteht. Sollte er jedenfalls.«
Eadwig hielt ein Froschbein gegen das Licht. »Was ist ein Huf?«
»Nein, nicht ein Huf. Es heißt eine Hufe.«
»Also? Was ist eine Hufe?«
Guthric stöhnte. »Sieh her, Eadwig. Siehst du das Loch in meinem Bauch?«
»Eine Hufe ist ein Stück Land. Ein großes Stück Land, ausreichend, um eine große Familie zu ernähren. Früher, als alle Brüder und Vettern und so weiter zusammen einen Hof bewirtschafteten und zusammen in einem Haus lebten, war eine Hufe das Land, das sie zusammen bestellten. Nach der Hufe wird heute noch die Höhe der Steuerpflicht bemessen.« »Und warum wohnen wir nicht mit all unseren Vettern zusammen? Und mit Onkel Athelstan?«
Guthric und Hyld lachten. »Ja, das wäre herrlich«, meinte Hyld. »Dann wäre es hier sicher niemals langweilig.«
»Ich weiß es nicht, Eadwig«, antwortete Guthric kopfschüttelnd. »Die Zeiten haben sich einfach geändert. Frag Cædmon, vielleicht kann er dir sagen, wie es gekommen ist.«
Cædmon zuckte mit den Schultern. »Nein, keine Ahnung.«
Guthric bedachte ihn mit einem Stirnrunzeln und wandte sich dann wieder an seinen jüngsten Bruder. »Ich denke, jetzt sollten wir darüber reden, daß auch Frösche Geschöpfe Gottes sind, und was denen in der Hölle bevorsteht, die arme, wehrlose kleine Frösche in Stücke hacken.«
Eadwig sah mit großen Augen zu ihm auf, offenbar nicht sicher, wie ernst Guthric das meinte, aber immerhin ließ er von seinem Opfer ab. »Was denn?« fragte er zögernd, hin und her gerissen zwischen Neugier und Furcht.
»Nun, ich kann nur raten. Wir müssen Vater Cuthbert fragen. Aber ich könnte mir vorstellen, daß sie von Hunderten kleiner Teufel in Hunderte kleiner Stückchen geschnitten werden. Und dann …«
»Hör auf, Guthric«, unterbrach Hyld. »Du erschreckst ihn.« Sie strich Eadwig über die blonden Locken.
Eadwig umfaßte verstohlen den Saum ihres Kleides. »Und was wird mit denen, die in der Sonne rumliegen, statt die leeren Ställe gründlich auszumisten, wie Vater gesagt hat?«
Guthric grinste in den Himmel. »Selig die Geknechteten, denn sie werden getröstet werden.«
Dieses Mal lachte sogar Cædmon. »Für einen, den es ins Kloster zieht, bist du ein ziemliches Lästermaul.«
»Außerdem heißt es: ›Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden‹«, bemerkte Hyld.
Guthric hob seine schmalen, langfingrigen Hände und wischte die Einwände beiseite. »Wer weiß, wie es wirklich heißt. Was Vater Cuthbert uns über die Bibel lehrt, ist so verläßlich wie Sonnenschein im April, darauf wette ich.« Dann setzte er sich seufzend auf. »Trotzdem sollte ich mich lieber an die Arbeit machen, sonst bin ich schon wieder in Schwierigkeiten. Wie wär’s, wenn du mir ein bißchen zur Hand gehst, Eadwig?«
Der Kleine rümpfte die Nase. »Das kann Ine ebensogut.«
Guthric packte ihn am Ärmel und zog ihn auf die Füße. »Du bist ein wahrer Faulpelz. Komm schon.«
Sie waren gerade im Stall verschwunden, als auf dem Pfad vor dem Tor Hufschlag erklang. Cædmon hob verwundert den Kopf. Sein Vater konnte es kaum sein, dazu war es noch zu früh.
Durch die Hecke ritt eine Gruppe von fünf Reitern in den Hof und hielt geradewegs auf die Halle zu. Der vordere war ein großer, breitschultriger Mann um die Vierzig mit einem riesigen silbrigblonden Schnurrbart und einem gewaltigen Schwert an der Seite. Er trug einen kostbaren Mantel und ritt ein Pferd, wie Cædmon es nie zuvor gesehen hatte. Er kannte sie nur aus Erzählungen. In der Sprache seiner Mutter nannte man solche Pferde Destrier. Schlachtrösser. Es war ein erschreckend großer, kraftvoller, aber feingliedriger Hengst mit glänzend schwarzem Fell, einem edlen Kopf und einem üppigen, gewellten Schweif, und sowohl der Sattel als auch das Zaumzeug waren verschwenderisch mit Silber verziert. Die anderen Männer waren unauffälliger gekleidet und ritten schlichte Kaltblüter. Sie verblaßten neben ihrem Anführer, doch waren sie bis an die Zähne bewaffnet und trugen matte Helme mit Nasenschutz. Housecarls, schloß Cædmon.
Vor der Halle hielten sie an und saßen ab.
Cædmon kam auf die Füße, humpelte eilig herbei und verneigte sich höflich vor dem feingekleideten Mann. »Seid willkommen, Mylord. Cædmon of Helmsby, zu Euren Diensten.«
Der Besucher lächelte und zeigte zwei Reihen ebenmäßiger, gesunder Zähne. Das Lächeln machte sein Gesicht freundlich, beinah übermütig, hatte aber gleichzeitig etwas eigentümlich Beunruhigendes. Es schien seine hellblauen Augen nicht zu erreichen. Sie sahen ihn durchdringend an.
»Wo ist dein Vater, Junge?«
»Zum Folcmot in Metcombe, Mylord. Wir erwarten ihn erst heute abend zurück. Wenn Ihr auf ihn warten wollt, tretet ein.«
Der Fremde verschränkte die Arme und legte den Kopf zur Seite. »Ich weiß, daß die Leute in East Anglia für ihre Gastfreundschaft berühmt sind, aber denkst du nicht, es ist gefährlich, einen Mann in die Halle deines Vaters zu bitten, dessen Namen du nicht einmal kennst?«
Cædmon biß sich nervös auf die Unterlippe, senkte den Blick und nickte verlegen. »Ich wußte nicht so recht, wie ich danach fragen sollte.«
Der Mann lachte leise. »Ist deine Mutter daheim?«
»Ja, Mylord.«
»Dann geh und sag ihr, Harold Godwinson bittet ergeben um einen Bissen Brot und einen Schluck Bier.«
Cædmons Herz machte einen Satz. Aber in seinem Gesicht regte sich nichts, er blinzelte nicht einmal. Er verneigte sich nochmals. »Sofort, Mylord.«
Hastig wandte er sich ab und stieg die drei Stufen zum Eingang der Halle hinauf, konzentrierte sich darauf, das linke Bein so wenig wie möglich nachzuziehen. Vor der Tür blieb er stehen und rief zum Pferdestall hinüber: »Guthric, wir haben Gäste! Kümmere dich um die Pferde!«
Dann eilte er hinein. Marie kam ihm schon in der Halle entgegen. »Cædmon? Ich habe dich rufen hören. Wer ist es denn?«
Er schüttelte fassungslos den Kopf. »Er behauptet, er sei Harold Godwinson.«
Maries Augen weiteten sich für einen Moment. Dann legte sie ihm kurz die Hand auf die Wange, wandte sich ab und ging zur Tür.
Der hohe Besuch versetzte den ganzen Haushalt in helle Aufregung. Jeder Mann, jedes Kind, jeder Knecht und jede Magd in Helmsby hatte schon von Harold Godwinson gehört, aber niemand außer Ælfric und Marie war ihm je begegnet. Harold Godwinson war der Earl of Wessex, und das allein schon machte ihn zu einem sehr mächtigen Mann, denn Wessex war die größte und bedeutendste Grafschaft Englands. Aber er war viel mehr als das. Er war König Edwards Schwager – Harolds Schwester Edith war die ungeliebte, kinderlose Königin an Edwards Seite. Harolds Brüder waren die Earls von Northumbria, East Anglia und Kent. Kurzum, die Godwinsons regierten England – während König Edward sich dem Kirchenbau widmete –, und Harold regierte die Godwinsons.
Marie schickte Cædmon und Guthric, ihrem Vater entgegenzureiten, und sie machten sich umgehend auf den Weg. Im Wald war es kühl. Eine leichte Brise bewegte die Zweige und verstärkte den würzigen Duft von Walderde und Frühlingsblüte. Die Sonne ließ das erste zarte Grün der Bäume und Sträucher leuchten.
»Was in aller Welt mag Harold Godwinson von Vater wollen?« fragte Cædmon versonnen.
»Tja.« Guthric hob vielsagend die Schultern. »Ich habe keine Ahnung, aber es ist bestimmt etwas Unangenehmes.«
Cædmon sah ihn aufmerksam an. »Wie kommst du darauf? Vermutlich ist es nur ein Besuch aus Höflichkeit. Er kennt Vater von früher, sie haben zusammen gegen die Waliser gekämpft, und schließlich war Harold einmal der Earl of East Anglia.«
»Richtig. Bis sein Vater, Earl Godwin, an der königlichen Tafel tot von der Bank kippte und endlich Platz machte für Harold, der es nicht erwarten konnte, Wessex in die Finger zu kriegen. Die Umstände, die zu Godwins Tod führten, sind nie geklärt worden, und es gibt bis heute Gerüchte.«
Cædmon starrte ihn mit offenem Mund an. »Woher weißt du das alles?«
Guthric verzog spöttisch einen Mundwinkel. »Auch wenn ich vielleicht meistens den Anschein erwecke, mit meinen Gedanken meilenweit fort zu sein, höre ich doch zu, was in der Halle geredet wird, weißt du. Je abwesender meine Miene, um so aufmerksamer. Aber die Housecarls reden in meiner Gegenwart, als sei ich gar nicht da.«
Cædmon schüttelte verblüfft den Kopf. »Was sonst sagen sie über Earl Harold?«
»Oh, ganz Unterschiedliches. Die Männer werden sich nie einig über ihn. Die einen sagen, es sei eine unchristliche Verleumdung zu behaupten, Harold habe irgend etwas mit dem Tode seines Vaters zu tun gehabt. Godwin sei an einer Fischgräte erstickt oder ähnliches, und wenn nicht, habe König Edward ein größeres Interesse an seinem Tod gehabt als Harold, weil Godwin mächtiger war, als es dem König lieb sein konnte.«
»Aber König Edward ist ein Heiliger!« protestierte Cædmon entrüstet. Guthric nickte langsam. »So sagt man. Jedenfalls, die Männer, die zu Harold halten, sind der Meinung, es sei ein Segen, daß wir ihn haben, das Land brauche einen starken Führer, besonders unter einem schwachen König … entschuldige, einem heiligen König, wollte ich natürlich sagen. Harold habe die Waliser besiegt, und das sei ein Segen für die Grenzgebiete. Außerdem sei es nur natürlich, daß er seine Brüder zu den Earls of Northumbria und East Anglia und Kent gemacht habe, er brauche verläßliche Verbündete. Und sie sagen, weil er zur Hälfte Däne ist, wird er leichter als jeder andere mit König Harald Hårderåde von Norwegen zu einer friedlichen Einigung kommen und ihn überzeugen, seinen Anspruch auf den englischen Thron fallenzulassen.«
»Harolds Mutter war Dänin?« fragte Cædmon angewidert, als hätte Guthric gesagt, die Mutter des Earl sei eine schleimige Natter gewesen. »O ja. Sie war König Knuts Schwägerin.«
»König Knut? Der König Knut, der König von Dänemark und England war?«
»Eben der.«
»Und was sagen die Männer, die nichts von Harold Godwinson halten?«
Guthric schüttelte den Kopf. »Es gibt niemanden, der nichts von ihm hält. Alle sind sich einig, daß er ein mutiger, tapferer Kriegsherr ist. Aber manche sagen, er sei habgierig und machthungrig. Er habe gegen Earl Ælfgar intrigiert, so daß der König ihn verbannte, damit das Haus von Mercia den Godwinsons nicht länger in die Suppe spucken kann und sie die ganze Macht an sich reißen können.«
Cædmon dachte einen Moment nach. »Und was davon ist nun wahr?« Guthric hob gleichmütig die Schultern. »Alles, vermutlich. Oder auch gar nichts.«
»Dir ist es so oder so gleich, was?« Cædmon grinste wider Willen.
Guthric nickte und legte den Kopf schräg. »Da, hör doch.«
»Was denn? Hufschlag?«
»Nein. Ich glaube, ein Zaunkönig.«
Cædmon stöhnte. »Komm lieber. Laß uns zusehen, daß wir weiterkommen. Wenn Vater zu Hause ist, ehe wir ihn gefunden haben, wird Dunstan uns bis zum Tag des Jüngsten Gerichts damit aufziehen.«
Auf halbem Wege zwischen Metcombe und Helmsby kam ihnen die Reiterschar entgegen. Dunstan, der neben seinem Vater an der Spitze ritt, wies mit dem Finger geradeaus. »Ah! Da kommen Hinkefuß und Wirrkopf.«
Ælfric warf seinem Ältesten einen drohenden Blick zu. »Cædmon, was ist passiert?«
»Nichts. Besuch ist gekommen, und Mutter schickt uns. Wir sollen dich nach Hause holen.«
Ælfric verdrehte die Augen. »Nicht Onkel Athelstan, hoffe ich.«
Seine Söhne lachten. Sie mochten ihren kauzigen, trinkfreudigen Onkel gern, aber Athelstan kam nur nach Helmsby, wenn er in Geldnöten war und sich etwas von seinem Bruder leihen wollte.
»Nein, nein«, sagte Cædmon.
»Also, wer ist es?«
»Harold Godwinson, Vater.«
Ein verwundertes Aufraunen ging durch die Gruppe der Housecarls. Ælfric riß die Augen auf. »Was in Gottes Namen …« Er unterbrach sich, schien einen Moment tief in Gedanken versunken und nickte dann. »Kommt. Wir wollen ihn nicht länger als nötig warten lassen.«
Sie kehrten auf dem kürzesten Weg zur Halle zurück. Ælfric sprang vom Pferd, warf einem der Männer die Zügel zu und eilte die Stufen zu seinem Haus hinauf. Dunstan, Cædmon und Guthric folgten ihm.
Harold Godwinson saß mit seinen Männern und Marie am Tisch, vor sich einen großen Becher. Eine Platte mit Brot und kaltem Wildbret war aufgetragen worden. Als Harold Ælfric eintreten sah, erhob er sich. Ælfric ging mit langen Schritten auf ihn zu, blieb dicht vor ihm stehen, und die beiden Männer packten sich bei den Unterarmen.
»Harold. Welch eine Ehre für mein bescheidenes Haus.«
Godwinson lachte leise und umarmte ihn kurz. »Wie gut es tut, wenigstens ab und zu zu erleben, daß Harold Godwinson einem englischen Thane noch willkommen ist.«
»Wie kannst du so etwas sagen? Welchem aufrechten Mann in England könntest du unwillkommen sein?«
Godwinson zog eine ironische Grimasse. »Du würdest staunen … Aber reden wir lieber über dich. Ich höre, ihr hattet Ärger mit dänischen Piraten?«
Ælfric nickte, und sie setzten sich nebeneinander auf die Bank. Marie winkte einer Magd zu, mehr Bier zu bringen.
Ælfric scheuchte seine drei Söhne, die unentschlossen in der Nähe standen, mit einem Wink fort. »Schert euch raus. Vor dem Essen will ich keinen von euch sehen.«
In der Halle von Helmsby wurde meist gegessen, ehe die Sonne unterging. Wenn es dunkel wurde, gingen die Leute schlafen.
Für gewöhnlich war das Essen eine fröhliche, lautstarke Angelegenheit; die Housecarls und ihre Familien versammelten sich ebenso wie die Mägde und Knechte des Guts an den beiden langen Tischen. Die Köchin füllte die Schalen aus dem großen Kessel über dem Feuer mit Eintopf, Brotlaibe wurden herumgereicht, und jeder brach sich ein Stück ab. Hunde tollten im Stroh am Boden und rauften um die Knochen, die ihnen zugeworfen wurden. Nach dem Essen wurden die Tischplatten von den Holzböcken genommen und an die Wände gelehnt, und ein jeder suchte sich einen Schlafplatz.
Heute war die Stimmung gedämpfter als gewöhnlich. Die Unterhaltungen gingen im Flüsterton vonstatten, und alle spähten verstohlen zu Ælfric und seinem hohen Besucher hinüber, die ein bißchen abseits an einem Ende des Tisches saßen. Als sie aufgegessen hatten, ließ Ælfric einen Krug Honigmet kommen und schickte Dunstan, das kostbare, silberbeschlagene Trinkhorn aus der Truhe in der Schlafkammer zu holen. In Windeseile kehrte Dunstan zurück und überreichte es mit ehrfurchtsvoller Miene seiner Mutter. Marie füllte das Horn aus dem Krug, brachte es dem Earl of Wessex und streckte es ihm mit einem feierlichen Segenswunsch entgegen. Solche Förmlichkeiten waren in Helmsby selten, und die Männer und Frauen am Tisch wechselten ratlose Blicke.
»Und nun sag mir, was ich für dich tun kann, Harold«, drängte Ælfric. »Ich kann kaum glauben, daß du nur um einer alten Freundschaft willen den weiten Weg geritten bist.«
Godwinson hob leicht die Schultern. »Ein Mann in meiner Position hat so wenige Freunde, daß auch der weiteste Weg sich lohnt. Aber in gewisser Weise hast du recht. Es gibt in der Tat etwas, das du für mich tun könntest.«
»Wenn es in meiner Macht steht, ist es so gut wie getan.«
Harold atmete tief durch, legte die Hände auf die Tischplatte und sah kurz darauf hinab, ehe er fortfuhr. »Ich habe dir gesagt, ich bin im Begriff, in die Normandie zu William dem Bastard zu reisen.«
Ælfric nickte.
»Ich sage dir ehrlich, Ælfric, ich war vor zehn Jahren in Frankreich, und ich denke, ich kann behaupten, ich kenne die Schliche und die Eigenarten dieses seltsamen Volkes, aber die Normannen sind ein ganz eigener Schlag.« Er lächelte Marie reumütig zu. »Nichts für ungut, aber diese Normannen, die der König so innig in sein Herz geschlossen hat, seit er bei ihnen aufwuchs, sind mir nicht geheuer. Nun wünscht er, daß ich ihren Herzog William in seinem Auftrag aufsuche, und natürlich werde ich tun, was mein König wünscht. Aber ich beherrsche ihre Sprache nicht gut. Ich kenne ihre Sitten nicht.«
Er unterbrach sich kurz und sah von Marie wieder zu Ælfric. Der Thane of Helmsby erwiderte seinen Blick offen; wenn er ahnte, worauf Harold hinauswollte, ließ er sich jedenfalls nicht anmerken, was er davon hielt. »Natürlich werde ich ein halbes Dutzend gelehrter Mönche bei mir haben, die mir jedes Wort übersetzen, das ich nicht verstehe. Herzog William wird seinerseits wenigstens zwei Dutzend gelehrter Mönche um sich scharen, die ihm übersetzen, was ich sage. Aber es bleibt die bedauerliche Tatsache, daß ich mit der heiligen Mutter Kirche im allgemeinen und mit den Brüdern des heiligen Benedikt im besonderen nicht immer das beste Verhältnis hatte über die Jahre. Ich bin nicht gewillt, mich auf ihr Wohlwollen – oder soll ich sagen, ihre Ehrlichkeit? – zu verlassen. Was ich brauche, ist ein verläßlicher Begleiter. Niemand von herausragendem Rang, verstehst du. Ein unauffälliger, junger Bursche, der die Sprache beherrscht und mich wissen läßt, wenn meine frommen Ratgeber sich bei ihren Übersetzungen … irren. Ich brauche jemanden, der mein Ohr und mein Auge an Williams Hof ist, ohne daß irgendwer ihn bemerkt.«
Ælfric nickte langsam. Es herrschte ein langes Schweigen, die Unterhaltungen in der Halle waren verstummt oder zu kaum wahrnehmbarem Geflüster gedämpft.
Schließlich hob der Thane den Kopf. »Cædmon, komm her.«
Cædmon rührte sich nicht. Seine Hände lagen lose auf den Oberschenkeln und wurden mit einemmal sehr feucht. Er erwiderte den Blick seines Vaters stumm.
»Bist du taub, komm her, hab’ ich gesagt.«
Guthric trat Cædmon unter dem Tisch unauffällig in die Wade.
Cædmon fuhr leicht zusammen, stand langsam auf und trat vor seinen Vater.
»Hast du gehört, was Earl Harold gesagt hat, Cædmon?«
»Ja, Vater.« Seine Stimme war tief und heiser, er räusperte sich nervös. »Und möchtest du ihm und England diesen kleinen Dienst erweisen und mit ihm in die Normandie reisen?«
Cædmon schluckte. Seine Lider flackerten kurz, aber er senkte den Blick nicht. Nein, wäre die ehrliche Antwort gewesen, ein klares, kategorisches Nein. Er wollte nicht mit diesem Fremden in ein fremdes Land reisen. Er wollte nicht weg von Helmsby und seiner Familie und allem, was ihm vertraut war. Er war noch niemals aus Helmsby fort gewesen. Der Gedanke machte ihm himmelangst.
»Was ist, Cædmon? Antworte!«
Cædmon atmete tief durch. »Ja, Vater. Sicher. Wenn es dein Wunsch ist …«
»Das ist es.«
Cædmon nickte. Er fühlte sich dumpf und hölzern.
Ælfric lächelte kühl. »Dann ist es abgemacht. Du kannst wieder an deinen Platz gehen. Alles weitere besprechen wir morgen.«
Cædmon wandte sich ab, und sein linkisches Hinken war ihm nur zu bewußt, als er zu seinem Platz zurückkehrte. Er versuchte, den Kopf hochzuhalten, aber er spürte all die vielen Blicke wie heiße Eisen, die sich in sein Fleisch brannten, und er ging ohne anzuhalten an seinem Platz vorbei zur Tür, verließ die Halle, und als er sich den vielen Augenpaaren entzogen wußte, rannte er. Er rannte zum erstenmal seit seiner Verwundung. Es war ein ungleichmäßiges, halb hüpfendes Rennen, und als er in den Obstgarten kam, raste sein Herz, und seine Kehle brannte.
Es dauerte keine halbe Stunde, bis sein Vater ihn dort fand. Cædmon erhob sich eilig aus dem Gras unter dem Apfelbaum. Ælfric stand nur einen Schritt vor ihm und sah ihn unbewegt an. »Wie konntest du mich so bloßstellen?«
Cædmon wandte den Kopf ab und rieb sich das Kinn an der Schulter. »Ich glaube nicht, daß ich das getan habe. Ich habe ›ja‹ gesagt.«
»O ja. Das hast du. Aber wie?«
»So gut ich konnte. Ich bin es nicht gewohnt zu lügen. Du hältst für gewöhnlich nichts davon.«
Sein Vater runzelte bedrohlich die Stirn. »Gib acht, was du redest.« Dann schüttelte er verständnislos den Kopf. »Was ist nur in dich gefahren?«
»Warum … warum schickst du mich weg?« Cædmons Stimme kippte, und er atmete tief durch, um die Fassung zu wahren. »Weil du es nicht ertragen kannst, mich anzusehen, nicht wahr? Du möchtest lieber vergessen, daß einer deiner Söhne ein Krüppel ist.«
Ælfric schnalzte ungeduldig mit der Zunge. »Wie oft habe ich dich dieses Wort in den letzten Wochen sagen hören? Jetzt ist Schluß damit! Hör auf zu jammern. Das ist erbärmlich. Du bist jung und gesund und solltest Gott danken, daß er dich hat leben lassen. Statt dessen klagst du tagein, tagaus über dein Los. Du solltest dich wirklich schämen. Nicht dein Körper ist es, der verkrüppelt ist, sondern dein Gemüt. Du bist kein Krüppel, Cædmon. Du bist ein Feigling mit einem steifen Bein.«
Cædmon fuhr zurück, zu erschüttert, um zu antworten.
Es war einen Moment still. Er versuchte, sich selbst mit Distanz zu betrachten, um zu ergründen, ob sein Vater recht hatte. Er kam zu keinem befriedigenden Ergebnis. Es stimmte vermutlich, daß er zuviel Zeit damit zubrachte, über sein Los nachzugrübeln. Daß er damit haderte. Aber hatte er nicht auch verdammt guten Grund?
»Also schickst du mich deswegen fort, ja? Weil ich ein Feigling mit einem steifen Bein bin?«
»Nein.« Es klang abweisend und hart.
Cædmon nickte langsam. »Kann ich gehen?«
»Nein.«
Also wartete er.
Der laue Aprilabend schwand schnell, es war beinah dunkel. Die Wiesen unter den Obstbäumen hatten die Farbe von geschmolzenem Blei angenommen, die Vögel waren verstummt, und es war sehr still. Cædmon sah seinen Vater nur noch als schemenhaften Schatten, sah das Weiße seiner Augen leuchten.
Schließlich seufzte Ælfric. »Du bist nicht der einzige, dem meine Entscheidung nicht gefällt, weißt du. Dunstan kocht vor Wut. Er würde eine Hand dafür geben, mit Harold in die Normandie zu gehen und die Welt zu sehen.«
»Dunstans Pech, daß du auf ihn nicht verzichten kannst.«
»Bei allen Heiligen, Cædmon … Ich habe dich ausgewählt, weil du der klügste meiner Söhne bist.«
Cædmon schnaubte höhnisch, und sein Vater packte ihn nicht gerade sanft am Arm. »Dein Respekt läßt ziemlich zu wünschen übrig, mein Sohn.«
Der Junge sah ihm in die Augen. »Ja. Gefährliche Gewässer für einen Feigling.«
»Du …«
Cædmon wich einen Schritt zurück und hob begütigend die freie Hand. »Es tut mir leid. Ich will dich nicht verärgern, und ganz sicher wollte ich dich vor deinem hohen Gast nicht bloßstellen. Aber du bist nicht ehrlich zu mir, Vater. Hättest du deinen klügsten Sohn schicken wollen, hättest du Guthric auswählen müssen.«
Diesmal schnaubte Ælfric und ließ ihn los. »Soll ich einen Träumer schicken, der nie mit seinen Gedanken bei der Aufgabe wäre? Und Guthric beherrscht die Sprache deiner Mutter nicht halb so gut wie du.«
»Das ist nicht wahr, und Guthric ist auch kein so hoffnungsloser Träumer, wie du annimmst. Aber ich will nicht, daß du ihn an meiner Stelle schickst. Ich wünschte mir nur, du würdest ehrlich zugeben, warum du mich ausgesucht hast.«
»Ich habe dir die Wahrheit gesagt, und an deiner Stelle würde ich mir gut überlegen, ob du das noch einmal in Zweifel ziehen willst.«
Cædmon mochte sich im Augenblick nicht ganz darüber im klaren sein, ob er ein Feigling voller Selbstmitleid oder ein grausam verstoßener Krüppel war, jedenfalls war er kein Märtyrer. Er hielt den Mund. Ælfric sah zum Nachthimmel auf und pflückte versonnen eine Blüte vom Baum. »Eines Tages wirst du mir dankbar sein, glaub mir.«
Cædmon schnitt verstohlen eine Grimasse. Das konnte er nun wirklich nicht glauben. Er dachte einen Moment nach. »Kann ich dich etwas fragen, Vater?«
»Natürlich.«
»Warum … müssen wir tun, was Harold Godwinson wünscht? Wieso …« Er fand es schwierig, die richtigen Worte zu finden. »Aus welchem Grund kann er einfach herkommen und einen Sohn von dir fordern?« »Er ist der mächtigste Mann in England, Cædmon. Kaum jemand kann es sich erlauben, Harold Godwinson eine Bitte abzuschlagen. Nicht in diesen Zeiten.«
»Aber du bist des Königs Thane und niemandem sonst verpflichtet.« »Harold Godwinson handelt in des Königs Auftrag. Derzeit jedenfalls.«
»Aber was du dem König schuldest, ist klar geregelt. Steuern, Wehrdienst, Männer für den Brückenbau und die Instandhaltung der Straßen. Und das ist alles.«
»Das steht in einer Urkunde, die beinah hundert Jahre alt ist. Aber seither hat die Welt sich gewandelt. Als König Æthelred deinem Urgroßvater Helmsby überschrieb, war es groß genug, um jeden Haushalt zu ernähren. Mehr als das Sechsfache dessen, was ich heute besitze. Aber dein Ahn teilte es auf unter seinen Söhnen.«
»Ja, ich weiß. Darum sind all unsere Nachbarn Verwandte. Wie Onkel Ulf of Blackmore zum Beispiel.«
»So ist es. Mein Vater war klüger. Er teilte das verbliebene Land nicht noch einmal auf, sondern vermachte es mir, seinem ältesten Sohn. Aber er dachte nicht darüber nach, was aus meinem Bruder werden sollte. Er schickte Athelstan an den Hof des Königs, und heute ist er ein Herumtreiber und ein Taugenichts.«
Cædmon lächelte unwillkürlich, als der Name des Onkels fiel, fragte dann aber: »Wenn du so denkst, warum erlaubst du Guthric dann nicht, ins Kloster zu gehen?«
Ælfric winkte ungeduldig ab. »Das ist eine ganz andere Frage, die dich im übrigen überhaupt nichts angeht. Was ich sagen will, ist das: Wir sind in Geldnöten. Deswegen mußte ich den Leuten von Metcombe ihr Land abgaunern, aber das bedeutet nicht das Ende unserer Schwierigkeiten. Ich schulde der Krone Geld, Cædmon. Eine Menge Geld. Ich habe die Steuern seit Jahren nicht in voller Höhe aufbringen können. Viele kleine Thanes stecken in der gleichen Klemme. Und es gibt einen leichten Ausweg. Was die meisten tun, ist, in ein Dienstverhältnis zu einem größeren, reicheren Lord einzutreten. Es gibt ein lateinisches Wort dafür. Commendatio. Sie verpflichten sich einem mächtigen Thane oder Earl gegenüber, treten in seinen Dienst und sind ihre Geldsorgen los.«
»Und du bist eine … commendatio mit Harold Godwinson eingegangen?«
Ælfric schüttelte langsam den Kopf. »Das hätte er gern. Aber ich will nicht. Ich … kann nicht.«
»Du traust Godwinson nicht«, schloß Cædmon verblüfft.
Ælfric hob unbehaglich die Schultern. »Er ist ohne Zweifel ein großer, ehrenhafter Mann. Ein alter Freund und Kampfgefährte, und vielleicht wird es dich versöhnen zu hören, daß er meinem Bruder Athelstan einmal sein nichtsnutziges Leben gerettet hat. Aber die Vorstellung gefällt mir nicht, von Harolds Gnade abhängig zu sein. Dafür opfern die Godwinsons die Ihren zu bereitwillig, wenn es hart auf hart kommt. Also mußte ich ihm etwas anderes bieten.«
Cædmon wandte sich ab und legte eine Hand über den Mund. Gott, du hast mich verkauft, dachte er entsetzt. Verscherbelt wie ein Mastschwein …
Er ballte die Fäuste und steckte sie unter die Achseln, als er es merkte. »Bin ich so viel wert?«
Ælfric lächelte unfroh. »Du solltest stolz sein. Du bist tatsächlich die Antwort auf seine drängendste Sorge.« Er schwieg einen Augenblick und legte seinem Sohn dann leicht die Hand auf die Schulter. »Du könntest es sehr viel schlechter antreffen, als in Harold Godwinsons Dienst zu treten, weißt du. Er ist ein großer Mann. Und wenn du es richtig anstellst, kannst du davon profitieren.«
»Und wenn ich es nicht richtig anstelle?«
»Dann wirst du zermalmt wie in den Fängen eines Drachen, Cædmon. So ist die Welt.«