Belsar’s Hills, Juni 1071

»Ja, jetzt verstehe ich, warum Hereward sich ausgerechnet in Ely eingenistet hat«, sagte Prinz Richard in eine lange Stille hinein. »Ich kann mir keine unzugänglichere Gegend vorstellen.«

Sie standen auf der Kuppe eines kreisrunden Erdwalls, in dessen Schutz das normannische Heer lagerte. Doch diese Befestigung hatten ausnahmsweise nicht die Normannen aufgeschüttet. Sie erhob sich seit Menschengedenken über der flachen Moorlandschaft, war das Überbleibsel einer Verteidigungsanlage oder heidnischen Kultstätte aus grauer Vorzeit, und die Leute in den Fens nannten sie aus unbekannten Gründen »Belsar’s Hills«.

»Der Untergrund sieht gar nicht so schlecht aus«, meinte Etienne optimistisch.

Cædmon schüttelte seufzend den Kopf. »Nein. Bis man einen Fuß daraufstellt und bis zur Hüfte einsinkt, ehe man sich’s versieht.«

»Ich kann kaum glauben, was du sagst.«

»Dann versuch’s. Aber binde dir ein Seil um und gib mir das lose Ende.«

»Schluß mit dem Unsinn«, knurrte der König. »Die Männer sollen mit der Arbeit beginnen. Lucien, Ihr habt die Oberaufsicht über die Bauarbeiten.«

»Ja, Sire.«

»Richard, Rufus, ihr kommt mit mir.« Der König wandte sich ab, und seine Söhne folgten ihm.

Lucien sah ihnen einen Moment nach, ehe er wieder aufs Moor hinausstarrte. Die Welt zu ihren Füßen lag geradezu unheimlich still unter den tiefhängenden Wolken. Die Fens erstreckten sich bis zum Horizont. Die einzige Erhebung, die sich in der Ferne ausmachen ließ, war die Klosterinsel. Nichts war zu hören bis auf den gelegentlichen schwermütigen Ruf eines Vogels und das unheilvolle Gurgeln und Schmatzen der Sümpfe. Selbst der Ouse, der ein kleines Stück nördlich von Belsar’s Hills floß, war hier stumm. »Was für eine gottlose Gegend«, murmelte Lucien.

»Aber, aber«, mahnte Etienne. »Du mußt dir einfach mehr Mühe geben, East Anglia zu lieben. Immerhin ist es jetzt deine Heimat.«

»Ja, du kannst spotten, Schwager«, stieß Lucien wütend hervor. »Ein fitz Osbern muß niemals fürchten, mit einem Lehen in dieser Ödnis beglückt zu werden.«

»Tja, wir werden wohl noch sehen, was der Name wert ist«, erwiderte Etienne mit einem unbehaglichen Schulterzucken. »So sehr der König meinen Vater auch geschätzt haben mag, hat er offenbar nicht die Absicht, dieses Vertrauen auf einen meiner Brüder, geschweige denn auf mich zu übertragen. Jedenfalls hat er das Angebot meines Bruders Guillaume, nach England zu kommen, sehr kühl zurückgewiesen.«

»Ihr seid ihm zu jung«, mutmaßte Cædmon.

Etienne nickte. »Mag sein. Auf jeden Fall ist mein Bruder gekränkt.« »Er sollte froh sein, daß er daheim in der Normandie bleiben kann, statt hier im Moor zu stecken«, murmelte Lucien sehnsuchtsvoll.

Cædmon unterdrückte ein Grinsen. »Ich verstehe nicht, daß ihr ansonsten so unerschrockenen Normannen vor so ein bißchen Schlamm verzagt. Aber du bist nicht der einzige. Beatrice Baynard kann East Anglia auch nichts abgewinnen.«

Etienne gluckste. »Das wird dich nicht davor retten, sie heiraten zu müssen.«

»Ja, Etienne hat recht«, bemerkte Lucien kritisch. »Es ist geradezu schändlich, wie du sie verschmähst, Cædmon. Wann heiratet ihr endlich?«

»Wenn ihr Vater die Mitgift erhöht.«

»Aber das hat er doch schon.«

»Du bist erstaunlich gut informiert, Lucien.«

»Was willst du denn noch?«

Cædmon wandte verlegen den Blick ab. »Heirate du sie doch. Ihr habt viel gemeinsam, wirklich. Euren Haß auf England und die Engländer, zum Beispiel.«

»Ich würde es lieber heute als morgen tun, glaub mir«, eröffnete Lucien ihm unerwartet.

Cædmon starrte ihn verblüfft an, aber ehe er antworten konnte, fragte Etienne erstaunt: »Ist das wahr? Sie hat Vorbehalte gegen England?«

»Vorbehalte? Sie wünscht sehnlicher als jeder englische Rebell, William hätte den Kanal nie überquert, und sie hält uns alle für Barbaren«, sagte Cædmon hitzig.

»Das ist mir vollkommen unbegreiflich«, höhnte Lucien und machte sich an den Abstieg. »Ich gehe und suche die beste Stelle, wo wir anfangen können. Davon, daß wir hier herumstehen und plaudern, wird der Damm nicht fertig.«

Gleich am Fuße des grasbewachsenen Walls begann das Schilf. Lucien stapfte darauf zu, und Cædmon öffnete den Mund zu einem warnenden Ruf. Aber Etienne legte ihm die Hand auf den Arm.

»Laß ihn doch«, sagte er mit einem boshaften Grinsen.

Lucien ging entschlossen, aber vorsichtig. Bei jedem Schritt prüfte er die Tragfähigkeit des Untergrunds, ehe er ihm sein ganzes Gewicht anvertraute. Als er nach zehn oder zwölf Schritten immer noch festen Boden fand, wurde er mutiger und ging schneller. Er setzte den Fuß auf die kleinen Grasinseln und glaubte schon, Cædmon habe mit seinen Warnungen vor der Tücke der Fens maßlos übertrieben, als das Büschel unter seinem linken Fuß wegtauchte.

Mit einem Protestschrei stürzte Lucien in die pechschwarzen Fluten. Cædmon und Etienne lachten, liefen aber ohne zu zögern den Hang hinab, um ihm zu helfen. Zwei Schritte vor dem Rand des brackigen Schlammlochs hielt Cædmon an, nahm den Gürtel ab und legte sich auf den Bauch. »Etienne, halt meine Füße. Und paß auf, wo du hintrittst!« Lucien steckte schon fast bis zur Brust im Morast. Erleichtert ergriff er das Ende des Gürtels, das Cædmon ihm zuwarf, zog sich, obwohl er nur eine Hand hatte, geschickt daran bis zum Rand, kletterte halb heraus und brach wieder ein. Diesmal ging er ganz unter, aber er ließ das rettende Seil nicht los.

»Langsam«, sagte Cædmon eindringlich, als der Kopf wieder auftauchte. »Du darfst dich nicht zu heftig bewegen. Am besten hältst du ganz still, und wir ziehen. Jetzt. Komm her, Etienne, faß mit an …«

Was schließlich keuchend und tropfend auf dem sicheren Boden vor ihnen stand, hatte nur noch entfernt Ähnlichkeit mit dem jungen, stattlichen Kommandanten der königlichen Leibwache, sah mehr aus wie eine übergroße Strohpuppe, die ein achtloses Kind in eine schlammige Pfütze geworfen hatte.

Etienne gab sich keinerlei Mühe, seine Belustigung zu verbergen. Er lachte, bis Tränen sein Gesicht hinabrannen, wies mit dem Finger auf seinen Schwager, stützte die Hände auf die Oberschenkel und rang um Atem. »O Gott, Lucien, nur gut, daß deine Schwester dich so nicht sieht. Ich denke, vor dem Essen solltest du dich wirklich umziehen. Und ein Bad nehmen, wenn du mir meine Offenheit verzeihen willst, aber du riechst ein bißchen streng …«

Lucien stand reglos, erduldete Etiennes Spott mit stoischer Ruhe und wischte sich zum wiederholten Male vergeblich mit dem schlammigen Ärmel über das schlammige Gesicht. Ein Tropfen fiel dabei von der Nase auf seine Brust und löste einen neuerlichen Heiterkeitsausbruch aus. »Ich weiß wirklich nicht, was du gegen East Anglia hast, ich finde es ausgesprochen unterhaltsam …«

»Was geht hier vor«, bellte die Stimme des Königs plötzlich hinter ihnen, und Etienne verstummte jäh.

William sah kopfschüttelnd an Lucien hinab und hatte selber sichtlich Mühe, ernst zu bleiben. »Ich habe nicht verlangt, daß Ihr den Untergrund so gründlich untersucht.«

»Sire … Dieser Sumpf packt einen an den Füßen und zieht«, versuchte Lucien zu erklären. »Ich …«

»Was für ein Unfug!« widersprach der König unwirsch.

»Aber er hat recht, Sire«, sagte Cædmon. Er verspürte keinen Drang zu lachen. Wenn man sein ganzes Leben lang Leute im Moor hatte ertrinken sehen, verlor man den Sinn für den komischen Anblick, den die wenigen boten, die ihm lebend entkamen. »Genauso kommt es einem jedenfalls vor.«

Der König bedachte ihn mit einem finsteren Blick. »Nun, da Ihr Euch offenbar so hervorragend damit auskennt, werdet Ihr den Bau des Dammes überwachen.«

»Wie Ihr wünscht, Sire.«

Er verzichtete darauf einzuwenden, daß er sich nicht wirklich in den Fens auskannte. Guthric oder Bruder Oswald waren diejenigen, die sie hier gebraucht hätten, aber beide waren mit Lanfranc auf dem Weg nach Rom, wo der Erzbischof sich beim Papst sein Pallium abholen wollte. Und der König würde auch niemals erlauben, daß Cædmon einen der Torfstecher oder Fischer zur Hilfe holte, die hier lebten, weil er ihnen mißtraute – vermutlich zu Recht.

»Was soll so schwierig sein?« fragte Jerome, der Baumeister, den William ihm zur Seite gestellt hatte, verständnislos. »Wir legen Baumstämme aufs Wasser, schnüren sie mit Tauen zusammen und marschieren hinüber.«

Cædmon schüttelte den Kopf. »Sie werden untergehen.« Der Normanne sah ihn ungläubig an. »Ähm … Holz schwimmt, Thane.«

»Nicht im Moor.«

Der Baumeister glaubte ihm erst, als Cædmon ihn zu einem der brackigen Schlammlöcher führte und ein Scheit Feuerholz hineinwarf. Langsam, aber sicher ging es unter. Jerome starrte mit komischer Verblüffung auf die breiige Masse, die es verschluckt hatte. Dann nickte er nachdenklich. »Hm. Ich sehe, Ihr wißt, wovon Ihr redet.«

Cædmon hob leicht die Schultern. »Es verschluckt alles, was es kriegen kann.«

»Nicht ganz.«

»Was meint ihr?«

»Das Schilf und das Gras«, sagte Jerome. »Sie gehen nicht unter.«

Cædmon winkte ab. »Weil sie kein Gewicht haben.«

»Falsch, Thane, sie haben nicht kein Gewicht, sondern ein geringeres als beispielsweise ein Holzscheit. Aber Gewicht scheint mir der entscheidende Faktor zu sein.«

»Und? Sollen wir alle fasten, bis wir so dünn wie Schilfrohre sind, ehe wir nach Ely ziehen?«

»Nun, dem König könnte es sicher nicht schaden zu fasten«, murmelte der Baumeister.

Cædmon grinste, sagte aber: »Ihr solltet Eure Zunge hüten, Mann. Bei dem Thema ist er empfindlich.«

Jerome nickte zerstreut und sah mit verengten Augen aufs Schilfmeer hinaus. »Nein, die Lösung unseres Problems ist Auftrieb, Thane.«

»Nennt mich Cædmon. Was ist Auftrieb?«

»Ich zeige es Euch. Seid Ihr bereit, dem König den Lederbeutel zu opfern, den ihr da tragt?«

»Meine Börse? Mit oder ohne Inhalt?«

»Ohne.«

Cædmon löste sie wortlos vom Gürtel, füllte seine magere Barschaft in den zweiten, etwas größeren Beutel um, der immer ein paar Steine für die Schleuder enthielt, und reichte dem Baumeister die leere Börse. Jerome hatte seine eigene ebenfalls abgenommen und geleert, zog die Schnur zusammen, bis nur noch eine kleine Öffnung blieb, führte sie zu Cædmons Verblüffung an die Lippen und blies Luft in den kleinen Ledersack, bis er prall gefüllt war. Dann wickelte er die Schnur fest um die Öffnung, so daß nichts entweichen konnte. Dasselbe tat er mit Cædmons Börse.

»Jetzt seht her.« Er setzte sich ins Gras und zog die Schuhe aus. Den linken knotete er mit dem ledernen Schuhriemen auf den beiden Luftsäcken fest und stellte sein Konstrukt, das fast wie ein kleiner Karren aussah, behutsam auf den schwarzen Schlamm. Den rechten stellte er daneben. Fast sofort ging er unter. Auch die luftgefüllten Lederbeutel sanken ein Stück ein, doch mehr als die Hälfte blieb mitsamt Schuh über der Oberfläche. Cædmon starrte minutenlang darauf. Nichts geschah. Der Schuh schwamm.

»Jerome, Ihr seid genial«, sagte er fasziniert. »Ich sehe nur zwei Probleme.«

»Welche?«

»Erstens wiegt ein Mann in Rüstung ein bißchen mehr als ein Schuh.« »Und zweitens?«

»Zweitens frage ich mich, worauf Ihr fortan laufen wollt.«

 

Cædmon und Jerome erklärten dem König die Situation, und William schickte Boten in die umliegenden Dörfer, um die Materialien zu beschaffen, die sie brauchten, und befahl den rund tausend Männern seiner Armee dann, Schwerter und Piken beiseite zu legen und statt dessen zur Nähnadel zu greifen. Es gab erst Gelächter, dann Verwunderung und schließlich Empörung, doch der König ließ sich wie gewöhnlich nicht erweichen und drohte an, allen, die sich gar zu ungeschickt anstellten, den Sold zu kürzen. Also hockten die Ritter und Soldaten, von denen so mancher zu den Siegern von Hastings gezählt hatte, vor ihren Zelten auf Belsar’s Hills und nähten.

Zwischen der alten Festungsanlage und der Klosterinsel war das Moor schmaler als an jeder anderen Stelle – nur darum hatte William ja beschlossen, den Damm gerade hier bauen zu lassen –, aber es war immerhin eine halbe Meile, die es zu überwinden galt. Nach Jeromes Plänen mußten nun die gegerbten Häute von Schafen, Kühen und Ziegen, die herbeigeschafft worden waren, zu Luftsäcken zusammengenäht werden, und zwar in ausreichender Zahl, um die Holzstämme, die die Lauffläche bilden sollten, auf dieser ganzen Strecke zu tragen. Cædmon wußte nicht, wie viele Tierhäute es waren, aber ihm kam es vor, als wären es mehr als die Schilfhalme der Fens. Er hatte versucht, sich vor dem Nähen zu drücken, indem er vorgab, beim Bau der Teile für die Behelfsbrücke, die den Ouse überspannen sollte, unabkömmlich zu sein, aber es nützte nichts. Er blieb ebensowenig verschont wie Etienne oder die Prinzen. Einzig Lucien de Ponthieu und eine Handvoll weiterer Männer, die trotz fehlender Arme oder Hände noch mit ins Feld zogen, waren entschuldigt. Lucien nahm es daher auf sich, die Qualität der Näharbeiten zu überwachen. Und so sehr Cædmon ihn auch haßte, wenn er ihm mit einem schadenfrohen, kalten Lächeln ein fertiges, aber schlampig gearbeitetes Stück zurückbrachte, fand er es dennoch beruhigend. Denn ihrer aller Leben würde davon abhängen, daß die Nähte hielten.

Über zwei Wochen vergingen so, bis der erste Abschnitt des Dammes, der bis zum Ouse reichte, fertiggestellt war. Es waren keine leichten Tage und Nächte. Die eintönige Arbeit, die noch dazu viele als erniedrigend und ehrlos ansahen, machte die Männer ebenso gereizt und streitsüchtig wie die entnervende Stille der Sümpfe und die blutgierigen Mückenschwärme, die abends in großen Wolken aus dem Schilf aufstiegen. Vereinzelt traten Fieberfälle auf. Damit nicht genug, kamen nachts Herewards Männer mit ihren Flößen bis ans jenseitige Flußufer, schossen auf die Wachfeuer entlang des wachsenden Damms und auf alles, was sich bewegte, und verhöhnten das normannische Heer und seinen König. Nicht wenige der Pfeile aus der Finsternis fanden ein Ziel, und manch aufgeschreckter Wachsoldat tat einen Fehltritt und ertrank im Moor. Bald ging die Angst um unter den Männern, und es wurde von Geistern und Sumpfhexen gemunkelt. Als ein junger bretonischer Söldner nachts in Panik seinen Posten verließ und hinter den sicheren Wall von Belsar’s Hills flüchtete, ließ Warenne, der eins der Kommandos führte, ihn so unbarmherzig prügeln, daß der Mann starb. Die übrigen Bretonen der Truppe murrten, und oft sah man sie zu zweit oder zu dritt zusammenstehen und untereinander tuscheln.

»Ich fürchte, sie könnten meutern«, vertraute Etienne Cædmon an, als sie abends mit einem Becher dünnem Bier und etwas Dörrfleisch vor ihrem Zelt saßen. »Sie sind eine mißgelaunte Brut, diese Bretonen.« »Du wärst auch nicht strahlender Laune, wenn es einer deiner Landsleute gewesen wäre.«

»Keine Armee kann ohne Disziplin funktionieren, Cædmon. Wer die Befehle mißachtet, muß bestraft werden und auf mein Mitgefühl verzichten, ganz gleich ob Normanne, Bretone oder Engländer.«

»Aber man muß ihn nicht gleich umbringen«, bemerkte Richard, der leise hinzugetreten war.

Etienne nickte unwillig. »Du hast recht.«

Cædmon rückte ein Stück zur Seite und lud Richard mit einer Geste ein, neben ihm auf seinem ausgebreiteten Mantel Platz zu nehmen. »Hier, nimm ein Stück Fleisch. Wenn das deinen prinzlichen Gaumen nicht beleidigt.«

Richard ließ sich neben ihm nieder und nahm den angebotenen, grauen Streifen. »Tja. Appetitlich sieht es nicht gerade aus. Eher wie vertrocknete Krötenhaut. Aber ich schätze, was gut genug für den König ist, ist gut genug für mich.« Er steckte das Fleisch in den Mund und zerrte mit den hinteren Zähnen daran.

»Wo sind Rufus und Leif und Eadwig?« fragte Etienne.

»Weiß nicht.«

Etienne hob das Kinn und sah ihn streng an.

Richard schlug die Augen nieder. »Auf dem Damm. Sie wollten einmal bis zum Ouse und zurück. Luft schnappen.«

Etienne stand auf. »Und sich ein paar englische Pfeile einfangen? Na wartet, ihr könnt was erleben, Jungs …«, brummte er und ging eilig davon.

Richard seufzte. »Großartig. Wenn Rufus erfährt, daß ich es Etienne gesagt habe, wird er eine Woche kein Wort mit mir reden.«

»Etienne wird es ihm nicht verraten, sei unbesorgt. Davon abgesehen, solltest du dich schämen, dich vor deinem jüngeren Bruder zu fürchten«, neckte Cædmon.

»Da hast du eigentlich recht. Aber wenn Rufus wütend ist, ist er genau wie mein Vater.«

»Ja, ich weiß.«

»Cædmon, was wird passieren, wenn die Bretonen meutern? Was wird der König tun?«

Cædmon trank an seinem Becher und hielt ihn dem Jungen dann einladend hin. Richard schüttelte den Kopf.

»Er wird ein paar bretonische Köpfe abschlagen, und dann herrscht wieder Ruhe«, sagte Cædmon ironisch.

»Du haßt ihn, nicht wahr?« fragte der Prinz fast tonlos.

Cædmon sah ihn verblüfft an. »Wie in aller Welt kommst du darauf?« »Du kannst es ruhig zugeben, Cædmon. Ich würde es verstehen. Er kommandiert dich herum, verfügt über dich, als wärst du sein Sklave, und meistens ist er schroff und rücksichtslos dabei …«

»Oh, um Himmels willen, Richard, was sollte mir das wohl ausmachen? Er behandelt mich nicht schlechter als jeden meiner Freunde.«

»Anders gesagt, er behandelt keinen deiner Freunde besser als dich. Und keinen seiner Söhne.«

Cædmon sah ihn forschend an. »Verrätst du mir, worauf du hinauswillst?«

Richard antwortete nicht gleich. Sein Blick war auf die undurchdringliche Schwärze jenseits des Öllichts gerichtet. »Ich … wünsche mir manchmal, ich wäre der Sohn eines anderen Mannes«, gestand er leise. »Tatsächlich? Zum Beispiel?«

»Oh … weiß nicht. König Alfred, vielleicht. Oder Edgar.«

Cædmon lachte leise. »Du bist nicht gerade bescheiden, oder? Aber ich bin froh zu hören, daß du die angelsächsischen Könige so hoch schätzt.« »Du machst dich über mich lustig«, sagte der Junge düster.

Cædmon wurde wieder ernst. »Nein, Richard. Entschuldige.« Er schwieg einen Moment, ehe er offen gestand: »Was du gesagt hast, hat mich erschreckt. Kein Sohn sollte so etwas sagen, ganz sicher nicht der Sohn des Königs.«

»Nein«, räumte der Prinz niedergeschlagen ein. »Aber ich sage es ja nur dir.«

»Dein Vertrauen ehrt mich.«

»Es ist auch nur, weil er … Er ist so grausam. So unerbittlich. Mir graut davor, was er tun wird, wenn wir Ely nehmen. Und mir graut vor dem, was er vorletzten Winter in Northumbria getan hat.«

»Wie hast du davon erfahren?« fragte Cædmon leise. Am Hof wurde niemals offen darüber geredet.

»Leif und Eadwig haben es uns erzählt.«

Cædmon nickte. »Verstehe.« Er strich sich einen Moment über sein unrasiertes Kinn, dann fragte er: »Richard, weißt du von der Herkunft deines Vaters?«

Der Junge nickte beschämt. »Ja.«

»Und weißt du, wie hart er hat kämpfen müssen, um die Macht in der Normandie zu erringen? Wie oft er verraten wurde, wie vielen Anschlägen er schon mit knapper Not entronnen war, lange bevor er so alt war wie du jetzt?«

»Ja, ich kenne die ganze Geschichte. Worauf willst du hinaus?«

»Nun, ich denke, es ist kein Wunder, daß ihn das hart und grausam gemacht hat. Siehst du, er unterteilt die Menschen in zwei Kategorien: die, die ihm damals beigestanden haben auf der einen Seite. Dazu gehören seine Brüder, deine Mutter, Montgomery, Warenne, vor ihnen schon deren Väter oder auch Etienne fitz Osberns Vater, der vergangenen Winter gefallen ist. In gewisser Weise auch meine Mutter. Sie alle haben sich als seine Verbündeten erwiesen, und das vergißt er nicht. Das ist einer seiner großen Vorzüge, seine Fähigkeit zur Dankbarkeit. Sogar wir Jüngeren kommen in deren Genuß, wenn er uns für einen erwiesenen Dienst reichlich mit Land belehnt. Aber in Wirklichkeit traut er keinem, der nicht zu diesem eingeschworenen Kreis gehört, der nicht die schweren Jahre mit ihm geteilt hat.«

»Er traut dir«, widersprach Richard.

Cædmon schüttelte den Kopf. »Manchmal. An guten Tagen. Aber er rechnet ständig damit zu entdecken, daß sein Vertrauen unangebracht ist. Und wenn es so leicht zu erschüttern ist, kann man es kaum Vertrauen nennen. Nein, er glaubt, daß er alle, die er braucht, deren bedingungslose Treue er aber anzweifelt, nur dann beherrscht, wenn sie in Angst vor ihm leben.«

»Aber das ist nicht recht«, wandte der Prinz ein. »Denn ihr alle seid ihm treu ergeben und zieht für ihn in den Krieg.«

»Ja. Doch wer so oft verraten worden ist, faßt nicht leicht Vertrauen.« »Und inwieweit entschuldigt das, was er in Northumbria getan hat?« Cædmon schüttelte kurz den Kopf. »Dafür gibt es weiß Gott keine Entschuldigung. Höchstens eine Erklärung.«

»Und zwar?«

Cædmon wählte seine Worte sorgsam. »Wenn du sagst, dein Vater sei grausam, hast du recht, Richard. Aber es gibt immer einen Grund. Grausamkeit bereitet ihm kein Vergnügen, wie etwa meinem Bruder Dunstan. Was der König in Northumbria getan hat, diente dazu, den Widerstand im Norden zu brechen und die Dänen von jedem Nachschub abzuschneiden. Und wenn er Dieben und Banditen auf öffentlichen Plätzen die Hände oder sonst irgend etwas abhacken läßt, dann um andere abzuschrecken, ihrem Beispiel zu folgen.«

»Du meinst, es sei richtig?«

»Nein. Aber der Hungerwinter hat den Dänen das Kreuz gebrochen, sie mußten unverrichteter Dinge abziehen und werden so bald nicht wiederkommen. Und die Banditen auf englischen Straßen leben in solchem Schrecken vor dem König, daß ein Kaufmann unbewaffnet mit seinen Schätzen von York nach Canterbury reisen kann, ohne behelligt zu werden. Dein Vater herrscht noch keine fünf Jahre über England, aber er hat das geschafft, was kein angelsächsischer König in den letzten zweihundert Jahren fertiggebracht hat: sichere Küsten und innere Ordnung.«

Richard schwieg lange. Schließlich schüttelte er seufzend den Kopf. »Ich muß darüber nachdenken. So habe ich die Dinge noch nie betrachtet. Trotzdem, mir ist unbegreiflich, wie du ihn lieben kannst, ausgerechnet du! Du bist doch Engländer. Macht es dir denn gar nichts aus, was mit deinem Bruder geschieht, wenn wir in Ely einmarschieren?«

»Dunstan? Glaub mir, er hat alles verdient, was er bekommen mag. Nein, um diesen Bruder werde ich keine Tränen vergießen. Aber ich will dir nichts vormachen, Richard. Du warst absolut offen zu mir, also bin ich es zu dir, das ist nur fair. Ich liebe den König nicht. Manchmal bewundere ich ihn. Oft bin ich wütend auf ihn. Und noch öfter jagt er mir eine Heidenangst ein.«

»Ist das wirklich wahr?« fragte der Junge verblüfft. »Dann geht es dir genau wie mir!«

»Nur darfst du eins nicht vergessen: Er war König Edwards Cousin, und Edward hatte ihn zum Nachfolger bestimmt. Harold Godwinson … selbst wenn wir seinen Eidbruch außer acht lassen, war er doch nur durch die Heirat seiner Schwester mit dem Königshaus verbunden, ihm stand die Krone nicht zu. Edgar Ætheling ist ein schwacher Charakter, darum hätte Edward ihn niemals als Nachfolger erwählt. Dein Vater hatte ein Anrecht auf den Thron.«

»Das gibt ihm nicht das Recht, die Engländer zu unterjochen, wie er es tut.«

»Nein.«

Richard atmete tief durch. »Ich bin froh, daß du zu meinem Vater stehst und mein Lehrer bist, Cædmon, aber wenn ich ehrlich bin, frage ich mich manchmal, warum du nicht auf der anderen Seite der Sümpfe bist. Bei Hereward und Morcar.«

Cædmon legte ihm die Hand auf die Schulter und sah ihm in die Augen. »Weil ich an die Zukunft denke, Richard.«

Anfang Juli war der Damm endlich fertig, und das Wetter schlug um. Ein kühler Wind erhob sich, und die Männer waren erleichtert, daß es mit der drückenden Schwüle und den blutgierigen Mücken ein Ende hatte. Der König erteilte umgehend den Marschbefehl, denn Jerome hatte gewarnt, daß die Luftsäcke nicht ewig halten würden.

»Fünfhundert Mann gehen über den Damm bis zum Ouse«, erklärte der König den gut zwanzig Kommandanten und Rittern, die er in sein Zelt beordert hatte. »Langsam und vorsichtig und in großen Abständen. Der Damm ist schmal, und wir dürfen ihn nicht überlasten. Jeder fünfte Mann führt ein Floß mit sich.«

»Ein Floß?« fragte Warenne verwundert. »Wozu?«

»Hättet Ihr Euch je die Mühe gemacht, den Damm zu inspizieren, wüßtet Ihr, daß er nicht bis an die Insel reicht«, erwiderte William kühl. »Wir haben ihn schließlich nicht gebaut, damit Hereward seine Truppen herüberführt und uns belagert. Wenn die erste Hälfte der Männer den Fluß erreicht hat, beginnt Ihr damit, die Nachhut hinüberzuführen, Warenne.«

»Und wer soll die erste Hälfte führen?« fragte sein Bruder Robert.

»Das werde ich tun«, erklärte William.

»Aber William, es ist zu gefährlich …«, begann Robert, doch der König brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. »Laß uns keine Zeit damit verschwenden, immer wieder die gleichen Debatten zu führen. Die Männer fürchten sich vor dem Moor und werden es mit mehr Entschlossenheit überqueren, wenn ihr König sie anführt.«

Etienne nickte und raunte Cædmon zu: »Das ist wahr.«

Der König sah in ihre Richtung. »Und Ihr seid wirklich sicher, daß es regnen wird, Cædmon?«

Cædmon wies kurz auf sein linkes Bein. »Es wäre das erstemal, daß es sich irrt, Sire.«

»Könnt Ihr abschätzen, wann?«

Für die Antwort befragte Cædmon nicht etwa sein Bein, sondern trat an den Zelteingang und sah zum Himmel auf. »Vor Sonnenuntergang, aber nicht viel eher.«

»Ich finde, es sieht so aus, als wolle es jeden Moment anfangen zu schütten«, widersprach Warenne.

William ging nicht darauf ein. »Na schön. Wir marschieren eine Stunde nach Mittag.«

Warenne und Robert wechselten einen irritierten Blick. Sie verstanden nicht, warum der König so lange warten wollte. Aber sie fragten ihn nicht, sie waren sicher, er hatte einen guten Grund.

William entließ sie mit einer auffordernden Geste. »Also dann, Monseigneurs. Macht Euch bereit und bewaffnet Euch. Robert, Etienne, ihr marschiert mit mir. Dann folgt Lucien mit seinen Männern. Dahinter Cædmon mit den Prinzen und den anderen Jungen. Dann der Rest. Fragen?«

Sie schüttelten die Köpfe, und alle außer Robert und Warenne verließen das Zelt, um die Befehle des Königs weiterzugeben.

 

Bis zum Ouse verlief alles reibungslos. Wieder einmal spornte der König jeden der Männer mit seinem Mut und seiner Entschlossenheit an. Als sie sahen, wie unerschrocken er auf den Damm hinausschritt, ohne zu zögern einen Fuß vor den anderen setzte, als schreite er eine feste Straße entlang, schämten sie sich ihrer Furcht und folgten ihm. Der Damm wankte und ächzte unter ihrem Gewicht, neigte sich manchmal bedenklich, aber er hielt. Auf Anraten des Baumeisters überquerten sie den Fluß in Gruppen zu fünfzig Mann, mehr werde die provisorische Brücke nicht aushalten, hatte Jerome warnend prophezeit. Während die letzte Gruppe die Brücke betrat, hatte der König seine Vorhut schon bis ans Ende des Dammes geführt.

»Und nun?« fragte Robert.

»Alle bleiben, wo sie sind«, antwortete der König und sah sich im Schilf um. »Die Männer sollen die Flöße nach vorne ziehen, und wir knoten sie zusammen.«

»Eine schwimmende Brücke«, murmelte Etienne.

William nickte. »Aber auch sie dürfen wir nur in kleinen Gruppen überqueren. Ein Mann zuviel, und wir sind alle verloren.«

Robert spähte argwöhnisch zum seicht ansteigenden Ufer der Klosterinsel hinüber. »Es gefällt mir nicht, wie still es ist. Was haben diese seltsamen Aufschüttungen zu bedeuten?«

»Torfwälle«, antwortete der König. »Sei versichert, daß Herewards Männer dahinter auf der Lauer liegen.«

»Warum rühren sie sich nicht?«

»Weil sie irgendeine Teufelei aushecken. Los, beeilt euch mit den Flößen! Und sobald sie vertäut sind, will ich fünfzig Bogenschützen hier vorne haben!«

Es war schwierig, die sperrigen Flöße durchs Schilf und über die trügerischen Grasinseln hinweg zu bewegen, aber nach und nach kamen sie alle an der Spitze des Zuges an. Etienne und ein paar Männer der Leibwache knieten im Schlamm und vertäuten sie, schoben die schwimmende Brücke, die immer länger wurde, weiter auf die Insel zu.

»Da vorne steigt Rauch auf«, rief des Königs Bruder plötzlich überrascht aus, und noch ehe alle die Köpfe gewandt hatten, um in die Richtung zu schauen, in die er zeigte, züngelten die ersten Flammen im Schilf auf.

»Gott, was ist das?« rief einer der Soldaten bestürzt.

»Sie stecken das Schilf in Brand«, erklärte Etienne überflüssigerweise. Er hatte kaum ausgesprochen, als ein Stein- und Pfeilhagel auf sie niederging.

Die Männer schrien vor Schreck und Überraschung, das Ende des Damms geriet gefährlich ins Wanken, und fünf oder sechs Soldaten stürzten gleichzeitig ins Moor, zwei von Pfeilen getroffen, die anderen hatten das Gleichgewicht verloren. Ihre Kameraden wollten sie zurück auf die sicheren Holzbohlen ziehen, aber der König rief: »Halt! Niemand rührt sich.«

»Aber sie ertrinken, Sire«, protestierte einer der Männer. Er war noch sehr jung, und seine Stimme klang hell und überschlug sich.

William riß das Schwert aus der Scheide, setzte es ihm an die Kehle und drängte ihn zwei Schritte zurück, bis der junge Soldat selbst am Rand des Bohlenwegs stand und abzustürzen drohte. »Widersprich mir noch einmal, und du bist der nächste! Wenn der Damm kippt oder untergeht, ertrinken wir alle!«

Als er die Klinge senkte, fiel der Junge vor ihm auf die Knie und bat ihn stammelnd um Vergebung. William wandte sich ab und vergaß ihn. »Cædmon, wo bleibt der verdammte Regen?«

Das Feuer rückte immer näher, und die Offiziere hatten Mühe zu verhindern, daß die Männer kehrt machten und flüchteten. Qualm wälzte sich in undurchdringlichen Wolken auf sie zu und hüllte sie ein.

Cædmon hustete und sah wieder zum Himmel auf, von dem vor lauter Rauch nicht mehr viel zu sehen war. Aber es schien ihm, als seien die Wolken dichter und schwerer als noch vor einer halben Stunde. »Es kann jeden Moment losgehen, Sire.«

»Hm. Das will ich hoffen.«

»William, wir sollten abziehen«, riet sein Bruder. Er klang eher besonnen als ängstlich. »Wenn der Damm Feuer fängt, rettet uns nichts mehr, und dieser verfluchte Halunke Hereward ist es nicht wert, daß England für ihn seinen König und zwei Prinzen verliert.«

»Wir bleiben«, knurrte William. »Und wenn es nicht zu regnen beginnt, ehe das Feuer die Grasinsel da vorn mit dem Reihernest erreicht, werden wir wissen, daß Cædmons Bein unzuverlässige Prognosen abgibt, und ihn davon befreien!«

Großartig, dachte Cædmon und biß die Zähne zusammen. Erst meine Zunge in Berkhamstead, dann meine Hand in Penistone, jetzt in Ely mein Bein. Ein wahres Wunder, daß Cædmon of Helmsby nicht längst ein stummer Torso ist …

Etwas traf seine Nase, und er streckte die Hände aus. Erleichtert verkündete er: »Es regnet, Sire.«

William folgte seinem Beispiel und hob die linke Hand. »Ich würde sagen, es tröpfelt, Cædmon.«

Wieder prasselten Pfeile und Steine auf sie nieder, dann erhob sich eine kräftige Bö, die das Feuer im Schilf weiter anfachte und ein weiteres halbes Dutzend Männer in Panik versetzte. Vier stürzten schreiend in die Sümpfe. Dann öffnete der Himmel seine Schleusen.

Der König atmete sichtlich auf und bedachte Cædmon mit einem beinah spitzbübischen Grinsen. Hinter den Torfwällen am Ufer erhoben sich Stimmen im Protest.

»Ihr habt den Angriff so geplant, daß wir bei Regen hier ankommen, weil Ihr gewußt habt, was dieser Teufel Hereward ausheckte?« fragte Robert den König ungläubig.

William hob kurz die Schultern. »Er ist schließlich kein Dummkopf. Ich habe mich gefragt, was ich in seiner Situation tun würde. Wo bleiben meine Bogenschützen?«

Fünfzig Mann mit Bögen und prall gefüllten Köchern rückten vor und schossen ihre Pfeile auf Williams Geheiß in einem solchen Winkel in die Luft, daß sie unmittelbar hinter den Torfwällen niedergehen mußten. Bald hörte man Schreie und ein unheimliches, wütendes Zischen von dort. Ein paar der Verteidiger verloren den Kopf, kamen hinter den Wällen hervor und wurden abgeschossen wie Hasen.

William nickte zufrieden. »Mehr Flöße her. Los, beeilt euch. Verlängert die Brücke bis zum Ufer. Die Bogenschützen bleiben hier und geben uns Deckung. Wir gehen an Land.«

Beinah hundert Mann starben bei der Überquerung der Sümpfe, aber der Damm hatte seinen Zweck erfüllt. Eine Armee von immer noch neunhundert perfekt geschulten und ausgerüsteten Kämpfern landete bei Einbruch der Dunkelheit auf der Klosterinsel. Die Verteidiger, die noch am Ufer aushielten, wurden überwältigt und niedergemetzelt. Dann wälzte das Heer sich wie ein gefräßiger, todbringender Wurm nach Nordosten, wo das Kloster lag. Drei Dörfer, die sie unterwegs passierten, wurden in Schutt und Asche gelegt. Die Klosterpforte fiel nach wenigen Schlägen des kleinen, tragbaren Rammbocks, den die Nachhut mitgebracht hatte. William befahl den Prinzen und Knappen, außerhalb der Klostermauern zu bleiben, und stellte zwei Dutzend Männer der Leibgarde zu ihrem Schutz ab, ehe er als erster über die Schwelle der geborstenen Pforte stürmte.

Herewards Anhängerschaft war im Verlauf des Jahres, seit Cædmon hier gewesen war und sie gezählt hatte, tatsächlich enorm gewachsen, genau wie die Gerüchte besagt hatten. Aber selbst zusammen mit den Mönchen des Klosters, die für die Verteidigung der letzten angelsächsischen Helden zu den Waffen griffen, machte ihre Zahl doch höchstens zwei Drittel der königlichen Armee aus.

»Schont die Mönche und macht so viele Gefangene wie möglich«, hatte der König befohlen, ehe sie das Tor nahmen. »Vor allem Hereward will ich lebend.«

Es wurde dennoch ein grauenvolles Gemetzel.

Cædmon stand etwa in der Mitte des Klosterhofs, sah nicht nach rechts und links, gestattete sich nicht, darüber nachzudenken, was hier geschah, und kämpfte so beharrlich, unermüdlich und vor allem unerbittlich wie eine von Williams Belagerungsmaschinen.

Wie immer behielt er den König im Auge und folgte den unberechenbaren Haken, die dieser schlug, so gut wie möglich. Trotz des prasselnden Regens gingen die hölzernen Gebäude bald in Flammen auf, und der Innenhof war in gespenstischen, flackernden Feuerschein getaucht – »Kriegslicht« hatte Jehan de Bellême es genannt. Es machte die Nacht hell genug, daß Cædmon das Kampffieber in den schwarzen Augen des Königs glühen sah.

»Wir haben den Abt!« brüllten euphorische Stimmen, die vom Kirchenportal zu kommen schienen. »Wir haben Abt Thurstan!«

»Fesselt ihn und bewacht ihn und behandelt ihn mit Respekt!« rief der König über die Schulter, und als sein Blick auf Lucien fiel, nickte er ihm zu und befahl: »Geht und vergewissert Euch, daß sie tun, was ich sage.«

Lucien lief zur Kirche hinüber. Das Schwert in seiner Rechten war bis zum Heft blutbeschmiert.

Cædmon wandte einen winzigen Augenblick den Kopf, um ihm nachzuschauen, hörte ein unheilvolles Surren und sprang intuitiv nach hinten. Eine Streitaxt pfiff durch die Luft und grub sich in den Boden, auf dem er gerade noch gestanden hatte. Mit weit aufgerissenen Augen sah er zu dem gewaltigen Krieger auf. »Gorm …«

»Ganz recht, Thane. Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, dich wiederzusehen«, knurrte der Goliath und zog mit einem Ruck die Axt aus dem Gras.

Cædmon wußte, daß sein Schild ihn nicht schützen konnte und sein Schwert vermutlich bersten würde, wenn er es der niedersausenden Axt entgegenhob. Also stand er einfach stockstill, deckte seine linke Seite mit dem Schild und ließ Gorms Waffe nicht aus den Augen, um im rechten Moment beiseite springen zu können. Gorm lächelte haßerfüllt auf ihn hinab, hob die Axt mit beiden Händen über den Kopf und öffnete den Mund zu einem gewaltigen Kampfschrei, als ein langes, geschwärztes Schwert sich seitlich in seine Brust bohrte, die er in dem Eifer, Cædmon zu töten, so leichtsinnig entblößt hatte.

»Wie könnt Ihr einfach so dastehen, Cædmon? Habt Ihr gehofft, daß Gott einen Blitz vom Himmel herabschickt?«

Cædmon stieß erleichtert die Luft aus. »Das hat er doch, oder? Danke, Sire.«

Der König lachte. »Geht und findet Hereward. Ihr seid der einzige, der ihn von Angesicht kennt.«

»Mich wundert, daß er sich Euch nicht längst zum Zweikampf gestellt hat. Das sähe ihm eigentlich ähnlich.«

»Wenn ein Mann erkennen muß, daß seine Sache verloren ist, geht selbst dem Tapfersten der Sinn für noble Gesten verloren.«

Cædmon nickte und streifte den gefällten Goliath zu ihren Füßen mit einem flüchtigen Blick. Wo Gorm war, war Dunstan meist nicht weit … »Ich mache mich auf die Suche, Sire.«

Cædmon suchte dort, wo das Getümmel am dichtesten war, denn wahrscheinlich würde Hereward mitten darin stecken. Er schlug sich eine Bresche mit dem Schwert, entfernte sich immer weiter von William, Robert und Etienne und gelangte schließlich in den kleinen Hof hinter der Kirche, wo die Mönche in friedlicheren Zeiten ihr Pergament herstellten. Das kleine Holzhäuschen, wo die kostbaren Bögen aufbewahrt wurden, brannte lichterloh. Cædmon sah sich suchend um, aber keiner der vielen Schattenrisse hatte Ähnlichkeit mit dem gedrungenen, feenäugigen Angelsachsen. Er wandte sich Richtung Klostergarten ab, als plötzlich ein Schatten auf ihn fiel. Im letzten Moment riß Cædmon den Schild hoch. Das Schwert, das mit einem dumpfen Donnern darauf niedersauste, wurde mit solcher Kraft geführt, daß er die Wucht bis in die Knie spürte.

»Endlich kommst du«, raunte eine heisere Stimme flüsternd.

»Dunstan …«

»So ist es, Bruder.«

Cædmon sparte seinen Atem, hob das Schwert und lernte schnell, daß Dunstan ein Gegner war, vor dem man sich wahrlich in acht nehmen mußte. Er führte seine schwere, perfekt ausbalancierte Waffe mit Schnelligkeit und dem mühelosen Geschick jahrelanger Übung. Die Ausbildung der Housecarls in Harold Godwinsons Gefolge war offenbar ebenso gründlich gewesen wie die der Knappen am Hof in Rouen. Das dunkle Dröhnen von Stahl auf Esche wechselte sich ab mit dem helleren Klirren sich kreuzender Klingen, in schnellem Rhythmus. Beide Brüder versuchten, den Kampf zu beschleunigen, soviel Druck wie möglich zu machen, denn sie hatten beide erkannt, daß sie ebenbürtige Gegner waren und nur darauf hoffen konnten, den anderen zu ermüden. Dunstan hatte den Schild bis ans Kinn gehoben, führte das Schwert weit oben, ließ es einmal über dem Kopf kreisen und dann abwärtssausen. Cædmon wich einen halben, beinah tänzerischen Schritt nach links, holte in Hüfthöhe aus, setzte zum Gegenangriff an und drängte Dunstan zurück. Zwei Schritte, drei, vier, und als er gerade begann, sich zu fragen, wieso sein Bruder plötzlich wich, trat er mit dem linken Fuß ins Leere und fiel. Dunstan hatte ihn zu dem kleinen, bei dieser Dunkelheit im hohen Gras fast unsichtbaren Abzuggraben gelockt, der das viele bei der Pergamentherstellung benötigte Wasser zurück zum Fluß führte. Cædmon fiel hart auf seinen Schild, seine Hand verfing sich im Haltegriff und brach mit einem schauerlichen trockenen Laut.

Er rollte sich nach rechts, kniete im nächsten Moment im Schlamm und sprang wieder auf die Füße, das Schwert in Position.

Dunstan stand jenseits des kleinen Grabens, hielt einen Augenblick inne und schüttelte den Kopf. »Gib lieber auf, Cædmon«, sagte er mit der altvertrauten Herablassung.

»Warum?« fragte Cædmon. Er keuchte ein wenig. »Willst du mir weismachen, du wolltest mich schonen?«

»Nein. Aber ich verspreche dir, daß es schnell und schmerzlos sein wird.«

Cædmon mußte lachen. »Oh, diese brüderliche Großmut …« Er sprang leichtfüßig über den Graben und hob seine Waffe. Die gebrochene Hand tat kaum weh, war nur taub und vollkommen nutzlos. »Wenn du mich töten willst, wirst du mich vorher besiegen müssen.« Dunstan warf seinen Schild beiseite und legte beide Hände an das Heft seines Schwertes. »Das sollte jetzt ein leichtes sein.«

Aber Dunstan täuschte sich. Ohne die Schilde wurde der Kampf schneller und gefährlicher, und erst jetzt stellte sich heraus, wieviel wendiger Cædmon war. Dunstans beidhändige Schwertführung verlieh seinen Hieben eine solche Kraft, daß jeder tödlich gewesen wäre, hätte er getroffen, aber sie machte ihn zu schwerfällig. Cædmon tänzelte, schien keinen Herzschlag lang am selben Platz zu stehen, drehte sich wirbelnd um die eigene Achse, um Dunstan unerwartet von der Seite anzugreifen, und bald blinzelte der ältere der Brüder nervös, bewegte ruckartig den Kopf, um die Augen überall zu haben, übersah prompt einen blitzschnellen Frontalangriff und verlor sein Schwert.

In dem kleinen Hof war es merklich ruhiger geworden. Hier und da wurde noch gekämpft, doch die Wiese war übersät mit toten und sterbenden Männern, die Schlacht beinah geschlagen.

Cædmons Schwertspitze berührte Dunstans Brust. Reglos standen sich die Brüder gegenüber, atmeten schwer nach ihrem langen Kräftemessen und sahen sich in die Augen.

Schließlich fuhr Dunstan sich mit der Zunge über die Lippen. »Darf man fragen, worauf du wartest?«

»Ich habe nicht die Absicht, dich zu töten, Dunstan. Aber ich weiß nicht, wie ich dich mit einer Hand gefangennehmen soll, ohne daß du mir entwischst.«

»Mir ist lieber, du tötest mich, als daß der Scharfrichter deines geliebten Bastardkönigs es tut.«

»Aber ich habe diesen Kampf gewonnen, darum bestimme ich, was passiert. Im übrigen hast du gute Chancen, dein jämmerliches Leben zu behalten. Der König ist kein großer Freund der Todesstrafe. Er glaubt, ein Übeltäter sollte am Leben bleiben, damit er Zeit hat, seine Sünden zu bereuen.«

»Das wäre in meinem Falle pure Verschwendung, weil ich nichts zu bereuen habe. Aber vermutlich möchtest du gern zusehen, wenn er mir die Hände abhacken läßt, nicht wahr?«

»Du kannst froh sein, wenn es deine Hände sind«, murmelte Cædmon. Dann schüttelte er seufzend den Kopf. »Nein, Dunstan, ich werde nicht zusehen. Aber es wird mir auch nicht den Schlaf rauben. Ich kann dich nicht töten, weil wir das gleiche Blut haben, aber ich werde nicht mehr brüderliches Mitgefühl für dich aufbringen, als du für mich hattest.«

Dunstan lachte sein schauerliches, heiseres Lachen. »Du kannst mich nicht töten, sagst du? Was für ein Narr du bist, Cædmon.« Und damit glitt er einen Schritt nach rechts, so daß er außerhalb der Reichweite der scharfen Schwertspitze war, und trat Cædmon mit dem Knie gegen die linke Hand.

So plötzlich flammte der Schmerz in dem gebrochenen Gelenk auf, daß Cædmon die Luft wegblieb. Er taumelte rückwärts, sah klar und deutlich, daß Dunstan sein langes Jagdmesser zückte und zum Sprung ansetzte, aber er konnte nichts tun. Der Schreck lähmte ihn ebenso wie der Schmerz. Du hattest recht, Dunstan, dachte er atemlos, ich bin doch wirklich ein Narr. Ich konnte dich nicht töten, und darum sterbe ich von deiner Hand …

Doch ehe Dunstan sich auf ihn stürzen konnte, wurde er von hinten gepackt und zur Seite geschleudert. Er landete auf der Seite, wollte sich wieder aufrichten, aber eine neuerliche Schwertspitze an seiner Kehle ließ ihn innehalten.

»Earl Morcar«, krächzte Dunstan verblüfft. »Ich dachte, Ihr … Wo ist Hereward?«

Morcar trat einen Schritt näher, ließ seine Klinge, wo sie war, und sah mit einem verächtlichen kleinen Lächeln auf Dunstan hinab. »Hereward ist geflohen.«

Sowohl Dunstan als auch Cædmon starrten ihn ungläubig an.

»Geflohen?« echote Cædmon.

»Nein. Ihr lügt!« stieß Dunstan hervor. »Das ist unmöglich!«

»Ich glaube, du vergißt, mit wem du sprichst, Dunstan of Helmsby«, versetzte Morcar mit dem einschüchternden aristokratischen Hochmut, der seiner Familie zu eigen war. »Ich lüge nicht. Hereward hat sich mit einer Handvoll Männer davongemacht, als er sah, daß die Schlacht verloren ist. Und jetzt laß das Messer fallen und steh auf.«

Dunstan setzte sich auf und senkte den Kopf. »Wie … wie kann er gehen und mich nicht mitnehmen?«

Morcar nickte knapp. »Das habe ich ihn auch gefragt. Aber ich habe keine Antwort bekommen. Er war sehr in Eile.«

»Ihr habt ihn fliehen sehen und seid nicht mitgegangen?« fragte Cædmon.

Morcar richtete seinen strengen Blick auf ihn. »Wofür haltet Ihr mich?«

»Ähm … für einen Ehrenmann, Mylord.«

»Aha. Vielen Dank. Ihr meint, ich hätte daran denken sollen, daß Herewards Flucht Williams Zorn auf die überlebenden Rebellen nicht gerade mildert?«

Cædmon nickte, legte die rechte Hand um den linken Unterarm und stützte ihn.

»Tja.« Morcar hob kurz die Schultern. »Ich sage Euch ehrlich, mir ist gleich, was William tut, Cædmon. Diese Revolte war schon lange vor dem heutigen Tage zu Ende.«

»Wie meint Ihr das?«

»Mein Bruder Edwin ist tot. Von seinen eigenen Männern auf der Flucht nach Schottland ermordet. Somit gibt es niemanden mehr, der das Erbe der angelsächsischen Könige antreten könnte. Es ist vorbei. Hereward und Edwin zusammen hätten William vielleicht stürzen können. Aber der eine ist ein Verräter, der andere wurde verraten, und der englische Widerstand ist mit ihm gestorben.«

Dunstan saß ihm Gras und hatte das Gesicht in den Händen vergraben. »Ihr habt recht«, murmelte er fast tonlos. »Gott steh uns bei … Ihr habt recht.«

Cædmon verschloß sich gegen das Mitgefühl, das ihn plötzlich überkommen wollte, und legte seinem Bruder die unverletzte Hand auf den Arm. »Komm jetzt.«

Dunstan stand langsam auf. Seine Erschütterung über Herewards feigen Verrat machte ihn fügsam, aller Trotz, aller Hochmut war ihm vergangen. Er hob den Kopf und sah seinem Bruder in die Augen. »Cædmon …«

»Was?«

Dunstan starrte ihn wortlos an. Tränen rannen über sein Gesicht und verschwanden in dem dichten, blonden Bart. Dann hob er mit schlafwandlerischer Bedächtigkeit das Messer, das er immer noch in der Hand hielt. Morcar stieß einen warnenden Ruf aus und machte einen Schritt auf ihn zu. Cædmon öffnete die Lippen, aber er brachte keinen Ton heraus.

Dunstan legte die Linke über der Rechten um das Heft und stieß sich die Klinge ins Herz. Einen Augenblick stand er noch reglos, dann brach er lautlos in die Knie, fiel auf die Seite und lag still.

Cædmon kniete sich neben ihn ins regennasse Gras und drückte die eisblauen Augen zu. Der Tag, da das Drachenschiff den Ouse hinaufgekommen war, fiel ihm ein, und auf einmal mußte er kämpfen, um Wort zu halten und tatsächlich keine Träne um diesen Bruder zu weinen.

 

Die Suchmannschaften, die noch in der Nacht ausgeschickt wurden, um die Fens nach Hereward zu durchkämmen, kehrten entweder unverrichteter Dinge oder aber überhaupt nicht zurück. Hereward war entwischt. Und wie Morcar vorhergesehen hatte, ließ der König seinen unbändigen Zorn darüber an denjenigen aus, die mehr Mut als ihr Anführer bewiesen, die aussichtslose Schlacht bis zum Ende gefochten hatten und nach ihrer Niederlage gefangengenommen wurden.

William blieb seinem Grundsatz treu, daß Kirchenmänner außerhalb weltlicher Jurisdiktion stehen sollten, und er schonte selbst die Mönche, die Waffen gegen ihn geführt hatten, belegte das Kloster aber mit einer so gewaltigen Bußabgabe, daß es auf absehbare Zeit bettelarm sein würde. Er berücksichtigte auch Morcars hohe Geburt, akzeptierte einen neuen Treueschwur des jungen einstigen Earl und schickte ihn dann nach Rouen zurück, wo er allerdings nicht als Geisel am Hof leben, sondern als Gefangener in einem Verlies schmachten sollte. Auf unbestimmte Zeit. Die übrigen rund zweihundert Gefangenen wurden samt und sonders geblendet und kastriert. Es dauerte drei Tage. Tage, an denen von früh bis spät die gequälten Schreie der Verstümmelten aufs stille, gleichgültige Moor hinaus gellten, nur dann und wann erwidert vom schläfrigen Ruf eines Vogels. Viele Männer im Gefolge des Königs, vor allem die Prinzen und Knappen kamen sich vor wie in einem grauenvollen Alpdruck, der einfach kein Ende nehmen wollte. Doch der König hatte verboten, daß sie mit der Hauptstreitmacht ins Lager von Belsar’s Hills zurückkehrten. Auch als sein Bruder für die Jungen zu intervenieren versuchte, blieb William unerbittlich.

»Ich weiß, daß es furchtbar ist, Robert, aber es ist notwendig. Sie sind alt genug, das zu begreifen, und es wird Zeit, sie daran zu gewöhnen.« Der einzige, der von der tagelangen Blutorgie unberührt zu bleiben schien, war Lucien de Ponthieu, der die Oberaufsicht über die Bestrafungen führte. Jedenfalls nahm Cædmon das an, bis er am Abend des dritten Tages, als das Werk getan und endlich, endlich Stille eingekehrt war, auf einem Spaziergang außerhalb der Klostermauern durch ein kleines Gehölz kam und ihn dort fand. Lucien hatte sich in den Schutz eines Haseldickichts verkrochen, um sich, wie Cædmon Etienne später berichtete, die Seele aus dem Leib zu kotzen.

Etienne zeigte keine große Überraschung. »Ja, ja. So ist er, mein Schwager. Ein butterweicher Kern in einer sehr, sehr rauhen Schale. Mein Herz schlägt für ihn, ehrlich.«

Cædmon bedachte seinen Freund mit einem vorwurfsvollen Blick. »Komm, komm. Was hättest du denn gemacht, wenn der König dir diese ehrenvolle Aufgabe übertragen hätte?«

Etienne neigte den Kopf zur Seite, malte mit dem Finger unsichtbare Muster auf den groben Holztisch im Refektorium, an dem sie saßen, und schien angestrengt nachzudenken. »Vermutlich hätte ich es getan. Ich meine, es ist ja nicht so, als hätten diese Rebellen es nicht verdient. Aber mach dir keine allzu großen Illusionen über Lucien. Der König weiß schon, warum er ihn immer für diese Dinge auswählt. Lucien ist in vieler Hinsicht ein würdiger Nachfolger für Jehan de Bellême: ein Mann fürs Grobe. Er hat keine Gefühle, wie man sie Menschen allgemein nachsagt.«

Cædmon war anderer Ansicht. »Nun, jedenfalls liebt und verehrt er seine Schwester.«

Etienne nickte. »Richtig. Sie und Beatrice Baynard.« Er lachte über Cædmons Schreckensmiene, die sich praktisch immer zeigte, sobald dieser Name fiel. »Ach, Cædmon, alter Freund, beiß endlich in den sauren Apfel und heirate das Mädchen. Ohne Verbindung zum normannischen Adel wirst du nie Sheriff von Norfolk werden.«

Cædmon starrte ihn entgeistert an. »Wie kommst du auf den Gedanken, daß ich das je werden könnte?«

»Weil es der Wunsch des Königs ist. Sag nicht, der Gedanke sei dir noch nie gekommen. Warum sonst hat er dir so viele Ländereien in der Gegend gegeben? Warum sonst sollte er so darauf drängen, daß du Beatrice heiratest, statt die Tochter irgendeines königstreuen englischen Thane?«

»Aber … aber ich will nicht Sheriff werden.«

Etienne wandte den Kopf und sah ihm ins Gesicht. »Doch, Cædmon. Du wirst wollen. Morcar ist erledigt und wird auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Damit bleiben Waltheof of Huntingdon und du als die letzten angelsächsischen Adligen von Bedeutung im normannischen England. Und ich bin sicher, wenn du darüber nachdenkst, wirst du feststellen, daß du soviel Macht und Einfluß brauchst, wie du nur kriegen kannst. Herrgott noch mal, warum sträubst du dich so sehr dagegen, sie zu heiraten?«

Cædmon hob abwehrend die bandagierte Linke und rieb sich das Kinn an der Schulter. »Ich liebe eine andere.«

Etienne brach in schallendes Gelächter aus. »Und das ist alles?«

Das zweite Königreich
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