Gerberoi, Januar 1079
»Schlaft nicht ein an der Winde!« rief Cædmon aufmunternd. Er mußte die Stimme erheben, um sich gegen das unablässige Heulen des Sturms Gehör zu verschaffen. »Dauerbeschuß, hat der König gesagt. Nicht einmal pro Stunde. Na los!«
Die beiden englischen Soldaten, die die Winde der Ballista betätigten, legten ein bißchen zu, kurbelten mit mehr Einsatz, so daß sie trotz der eisigen Winterkälte bald ins Schwitzen gerieten, und die dicke Sehne der gigantischen Armbrust wanderte auf ihrer Führung allmählich nach hinten. Als sie über den Hahn rutschte, legte einer der Soldaten hastig den Sperrbügel um, und die Ballista war gespannt. Aus einem Korb in der Nähe nahm er ein Geschoß, das in Länge und Dicke fast einem Speer gleichkam, entzündete die mit Schwefel präparierte Spitze am Wachfeuer, legte es in die dafür vorgesehene Vertiefung am Schaft der Ballista und trat auf Cædmons Zeichen den Auslöser. Mit einem hellen Zischen sauste der riesige Pfeil hoch in die Lüfte, flog im weiten Bogen über die Palisaden und war verschwunden.
Zwei Reiter näherten sich und saßen ab. Cædmon erkannte Rufus und Eadwig, noch ehe sie die Helme abgenommen hatten.
Der Prinz wies auf die Ballista. »Mit Katapulten würden wir mehr ausrichten, denkst du nicht?«
Cædmon hob kurz die Schultern und behauchte seine gefühllosen Hände. »Das macht keinen großen Unterschied. Und Katapulte hätten wir niemals unbemerkt quer durch die Normandie schaffen können. Sie lassen sich nicht so leicht auseinandernehmen und wieder zusammensetzen wie diese Ballistas.«
»Ballistae«, verbesserte Eadwig geistesabwesend und sah zu den Palisaden hinüber. »Nichts rührt sich. Man fragt sich, ob überhaupt noch jemand dort drin ist.«
Sie waren zu weit entfernt, um jenseits der Einfriedung Schritte oder Stimmen hören zu können, und die Burg wirkte tatsächlich unheimlich still.
»Wir hätten uns die Heimlichtuerei jedenfalls sparen können«, brummte Rufus. »Der Überraschungseffekt hat uns nichts genützt. Seit drei Wochen frieren wir uns hier halb zu Tode und haben nichts erreicht.«
»Das stimmt nicht«, widersprach Cædmon. »Seit drei Wochen ist keine Maus dort raus- oder reingekommen. Wir wissen nicht, wie viele Männer Robert da drinnen hat, aber ich wette, inzwischen haben sie alle mächtigen Hunger.«
»Und du meinst, wenn sie hungrig genug sind, werden sie einfach klein beigeben?« fragte Rufus skeptisch.
»Spätestens wenn sie ihre Pferde aufgegessen haben. Es kann noch ein Weilchen dauern, aber letztlich wird Robert verhandeln müssen. Wenn er darauf gehofft hat, Philip von Frankreich würde kommen, um uns in den Rücken zu fallen, hat er sich offenbar getäuscht. Das hätten wir schon gemerkt. Nein, Robert sitzt in der Falle. Und früher oder später …«
Er brach ab, als sie ein fernes Poltern vernahmen, das vom Haupttor der Palisaden zu kommen schien. Ungläubig starrten sie über die Ebene. Langsam schwangen die gewaltigen Torflügel nach innen.
»Was hat das zu bedeuten?« fragte Eadwig verwirrt.
»Vielleicht schieben sie schon Kohldampf«, mutmaßte Rufus verächtlich. »Robert ist Entbehrungen nicht gewöhnt, schließlich …«
»Sitzt auf, reitet zurück«, unterbrach Cædmon.
Sie hörten den drängenden Tonfall, aber Rufus zögerte. »Was haben sie nur vor? Denkst du, sie wollen verhandeln?«
»Verdammt, Rufus, tu, was ich sage! Reite zum König! Wenn sie verhandeln wollten, würde Robert jemanden auf die Brustwehr schicken. Wir müssen uns sofort formieren.«
Der Prinz riß ungläubig die Augen auf. »Sie greifen an?«
Cædmon fuhr zu den Soldaten an der Belagerungsmaschine herum. »Laßt alles stehen und liegen. Zurück zum Lager, schnell! Tretet das Feuer aus und nehmt die Geschosse mit!«
Rufus schwang sich eilig in den Sattel und sah noch einmal kopfschüttelnd zur Burg. Jetzt konnte es keinen Zweifel mehr geben: Ein Strom berittener Soldaten ergoß sich aus dem Tor.
»Robert … du mußt wahnsinnig sein.«
»Er tut genau das, was dein Vater auch getan hätte«, bemerkte Cædmon, saß auf und preschte mit Eadwig und dem Prinzen zusammen zum Zelt des Königs.
Robert wartete nicht, bis das normannische Heer sich formiert hatte. Er wußte, daß seine Truppen zahlenmäßig weit unterlegen waren, und er nutzte den Überraschungsvorteil ohne jede Rücksicht auf die Gepflogenheiten eines ehrenvollen Kampfes aus.
Der König behielt einen klaren Kopf, rückte mit allen kampfbereiten Männern vor und hieß Etienne fitz Osbern, die Säumigen zu sammeln und ihm so bald wie möglich zu folgen. Dann formierte er seine englischen und normannischen Ritter zu zwei Spitzen, von denen eine er selbst, die andere Rufus anführte.
Cædmon ritt mit den englischen Rittern aus Williams Haushalt an der äußeren rechten Flanke, weit genug vorn, um in der Nähe des Königs zu bleiben.
Robert hatte seine Ritter zu einem langen Wall aufgestellt, der ihnen in tadellos gerader Linie entgegenpreschte. Als die gegnerischen Seiten aufeinandertrafen, bohrten sich die Spitzen der königstreuen Truppen wie Keile in Roberts Phalanx.
Als Etienne die Nachhut von gut hundert normannischen Rittern ins Feld führte, kämpften auf seiten des Königs knapp achthundert Mann gegen Roberts fünfhundert.
Waffen klirrten, Pferde wieherten, und Menschen schrien. Der knöchelhohe Schnee knirschte unter Hufen und Füßen, wurde zu nassem, braunem Schlamm aufgewühlt, und die kleinen weißen Inseln, die sich noch hielten, waren bald voll roter Tropfen und Schlieren. Der Anblick des blutgetränkten Schnees brachte Cædmon den Winter der Todesreiter in Northumbria in Erinnerung, und er fragte sich, ob das der Grund war, weshalb ihn ein ebenso unbestimmtes wie heftiges Grauen überkommen hatte, oder die Tatsache, daß hier Väter gegen Söhne und Brüder gegen Brüder kämpften.
Neben ihm fällte ein kostbar gerüsteter Normanne einen jungen englischen Ritter mitsamt dessen magerem Gaul, und Cædmon ritt eine Länge vor, um ihn abzudrängen, ehe der Normanne seinem stürzenden Opfer das Schwert in die Kehle rammen konnte. »Toki«, brüllte er über die Schulter. »Bleibt beim König und haltet ihm den Rücken frei.« Aus dem Augenwinkel sah er den jungen Wigotson nicken und nach links verschwinden, dann richtete Cædmon seine ganze Aufmerksamkeit auf den Gegner, parierte seinen abwärts geführten Schwerthieb mit seiner eigenen Klinge und schlug ihm unfein mit dem dicken Eschenschild gegen den Kopf, so daß der Mann benommen vom Pferd fiel. Ehe Cædmon sein junges Schlachtroß noch wenden konnte, sprang ein englischer Soldat hinzu und spaltete dem Normannen mit der Axt den Schädel.
Ein gutes Stück weiter vorne schlug sich der König mit zwei Gegnern, der treue Toki war direkt an seiner Seite. Cædmon sah kurz über die Schulter, um zu sehen, wo die Nachhut blieb. Etienne hatte nicht getrödelt: Seine hundert Normannen bildeten eine exakte Linie und hatten schon fast aufgeschlossen. Eine etwa gleichgroße Schar von Roberts Männern, die die königstreuen Linien durchbrochen hatten, galoppierten in einem unordentlichen Knäuel auf sie zu, und noch während Cædmon zurücksah, verwickelten zwei von ihnen Etienne in einen hitzigen Kampf.
»Gott schütze dich, Etienne«, murmelte Cædmon, sah aus dem Augenwinkel eine schnelle Bewegung und riß den Schild hoch. Krachend landete ein Schwert darauf.
»Jetzt seid Ihr fällig, Helmsby«, drohte eine wütende Stimme, es war beinah ein Zischen. »Euren Bruder hab ich schon erledigt.«
Es war Guillaume fitz Osbern.
Cædmons Brust fühlte sich plötzlich an wie zugeschnürt, und ein eisiger Schauer rieselte seinen Rücken hinab. Aber er gestattete sich nicht, an Eadwig zu denken, sondern münzte seinen Schmerz um in Kampfeswut und hob das Schwert gegen den Bruder seines einstigen Freundes, um ihn zu töten, wenn er konnte.
Es wurde ein harter, langwieriger Kampf. Da sie beide von Jehan de Bellême ausgebildet worden waren, kämpften sie nach der gleichen Technik, sahen jeden Trick und jede Finte kommen. Doch schließlich scheute Cædmons unerfahrenes Pferd und stieg, und das war alles, was fitz Osbern brauchte, um sich den entscheidenden Vorteil zu verschaffen. Er rammte dem nervösen jungen Hengst die Klinge in die Kehle, und das Tier brach schaudernd zusammen, während ein gewaltiger Blutschwall zischend und dampfend in den Schnee spritzte.
Cædmon war aus dem Sattel gesprungen, ehe das sterbende Tier ihn unter sich begraben und einklemmen konnte. Er landete sicher auf den Füßen, sah fitz Osbern unbewegt entgegen, der unaufhaltsam auf ihn zuritt, und machte im letzten Moment einen Satz nach rechts, so daß er auf der ungefährlichen, der Schildseite seines Gegners stand. Ehe fitz Osbern sein Pferd wenden konnte, packte Cædmon seinen Fuß, riß ihn aus dem Steigbügel und verpaßte ihm einen kräftigen, aufwärts gerichteten Stoß.
Guillaume fitz Osbern stürzte mit einem entsetzten Protestschrei aus dem Sattel, doch sein rechter Fuß hatte sich im Steigbügel verfangen, und als sein verschreckter Gaul durchging und davonstob, schleifte er ihn mit. Fitz Osberns Bein brach mit einem hörbaren Knacken, und seine gellenden Schreie waren noch zu hören, nachdem das Pferd längst im Getümmel verschwunden war.
Cædmon sah ihm grimmig hinterher. »Mögest du elend verrecken, Guillaume fitz Osbern«, knurrte er und blickte sich nach einem neuen Gegner um. Er wußte, er durfte sich keine Atempause gönnen, bis das Gemetzel vorbei war, denn wenn er sich jetzt gestattete, an Eadwig zu denken, dann würde auch er auf diesem Schlachtfeld, in diesem Bruderkrieg sterben.
»O mein Gott, der König! Der König ist gestürzt!« Der entsetzte Schrei erhob sich zu seiner Linken. Cædmon fuhr herum, erwischte den Zügel eines vorbeilaufenden reiterlosen Pferdes, schwang sich in den Sattel und trieb das Tier unbarmherzig in die Richtung, wo der Kampf am hitzigsten war und er William vermutete.
Auch der König hatte sein Pferd verloren. Bei dem Sturz hatte er den Helm eingebüßt und, was weitaus schlimmer war, sein Schwert. Er bückte sich hastig danach, als der Mann, der sein Pferd gefällt hatte, wieder heranpreschte, um ihm den ungeschützten Kopf abzuschlagen. Cædmon sah genau, was passieren würde, aber er war noch zu weit entfernt, um irgend etwas tun zu können. Er schrie auf vor Zorn und Angst, als Toki Wigotson sich plötzlich aus dem Sattel fallen ließ und sich zwischen den König und das zustoßende Schwert warf.
Die normannische Klinge durchbohrte sein Kettenhemd und stieß ihm mit solcher Wucht in die Brust, daß sie in seinem Rücken wieder herauskam und den König, der instinktiv die Arme hochgerissen hatte, an der Hand verletzte.
Noch ehe der Normanne sein Schwert aus dem Leib des Sterbenden befreien konnte, hatte William sich auf Tokis Pferd geschwungen und dem Mann, der versucht hatte, seinen Herzog und König zu erschlagen, den Schwertarm vom Rumpf getrennt. Mit einem fast beiläufigen Tritt beförderte der König den schreienden Ritter aus dem Sattel und ließ ihn zum Verbluten im eiskalten Morast liegen.
»Wo ist mein Sohn?« brüllte er wutentbrannt. »Zeig dich, Robert!« Aber wo immer Robert auch sein mochte, er gab sich nicht zu erkennen. Cædmon hörte hinter sich heftigen Waffenlärm, sah sich verwundert um und riß dann voller Entsetzen die Augen auf.
»Sire …«
»Cædmon, wißt Ihr, wo Robert ist?«
»Nein. Sire, unsere Nachhut fällt uns in den Rücken.«
Die Schlacht war verloren.
Auf beiden Seiten gab es hohe Verluste. Ehe der König den Rückzug befahl, war fast die Hälfte seiner Armee gefallen. Doch Eadwig zählte nicht dazu. Er lag schwer verletzt im Lazarettzelt in dem Lager, das sie kaum fünf Meilen von Gerberoi entfernt, aber auf der normannischen Seite der Grenze errichtet hatten. Er hatte eine häßliche Platzwunde an der Schläfe, vor allem aber eine tiefe Fleischwunde am Schwertarm, und der Feldscher wollte noch keine Prognose abgeben, ob der Arm gerettet werden könne oder nicht. Eadwig hatte furchtbar viel Blut verloren und lag in tiefer Bewußtlosigkeit.
»Gott, er ist so blaß. Und er rührt sich überhaupt nicht. Er atmet kaum«, sagte Rufus erstickt und starrte unverwandt auf ihn hinab. Er selbst hatte nur einen Kratzer an der Schulter davongetragen, und er hatte den Wundarzt, der ihn vor dem schwerverletzten Eadwig hatte verbinden wollen, in solcher Schärfe angefahren, daß der Mann furchtsam zurückgewichen war und verdrossen vor sich hinmurmelte, daß Äpfel selten weit vom Stamm fielen.
»Du mußt dich zusammennehmen, Rufus«, mahnte Cædmon. »Und du solltest zu deinem Vater gehen. Dort ist jetzt dein Platz.«
Rufus sah unglücklich auf. »Ja. Du hast recht, in seiner finstersten Stunde sollte ich ihm beistehen. Aber ich will nicht.«
»Tu’s trotzdem«, riet Cædmon.
»Kannst du nicht mitkommen?« fragte Rufus kläglich.
Cædmon schüttelte den Kopf. »Ich kann nur zu ihm gehen, wenn er nach mir schickt. Jetzt verschwinde schon. Leif und ich bleiben bei Eadwig. Ich verspreche dir, er wird nicht allein sein, wenn er aufwacht.«
Rufus seufzte tief. »Na schön.«
Nachdem der Prinz endlich mit hängenden Schultern davongeschlichen war, gestattete Cædmon sich einen Blick zum anderen Ende des Lazarettzeltes. Trotz des großen Durcheinanders hatten die Ärzte soviel Geistesgegenwart und Feingefühl bewiesen, den verwundeten Etienne fitz Osbern möglichst weit entfernt von Eadwig of Helmsby unterzubringen.
Etienne hatte einen dicken Stirnverband, auf dessen Außenseite sich langsam ein dunkelroter Fleck ausbreitete. Er lag bleich und reglos mit geschlossenen Augen da, genau wie Eadwig.
Cædmon wollte zu ihm gehen und sich vergewissern, daß er gut versorgt war, aber Leif legte ihm leicht die Hand auf den Arm und hielt ihn zurück.
»Tu’s lieber nicht. Er ist wach, hat eben die ganze Zeit zu uns herübergestarrt.«
Cædmon zögerte, dann wandte er Etienne den Rücken zu und fragte Leif: »Weißt du, wie schlimm es ihn erwischt hat?«
Der junge dänische Ritter schüttelte den Kopf. »Ich hab einen der Feldscher sagen hören, er habe den Schildarm gebrochen, und wenn die Kopfwunde nicht bis Tagesanbruch aufhört zu bluten, will er sie nähen. Aber das ist wohl alles.«
Unentschlossen sah Cædmon auf das bleiche Gesicht seines Bruders hinab. Tiefe dunkle Schatten lagen unter den geschlossenen Augen. Cædmon sorgte sich um ihn, sorgte sich darum, wie Eadwig damit fertig werden würde, wenn er seinen Arm verlor. Aber vor allem verspürte er Erleichterung darüber, daß sein Bruder lebte, und fragte sich unwillkürlich, was aus Guillaume fitz Osbern geworden war. Obwohl er ein Feind und Verräter war, würde Etienne um seinen Bruder trauern, wenn er gefallen war, das wußte Cædmon genau. Und wenn Etienne erfuhr, wer seinen Bruder vom Pferd geholt hatte, dann …
Er hatte wirklich keine Ahnung, was dann passieren würde.
Eadwig stöhnte leise und bewegte den Kopf.
»Er wird wach«, sagte Leif erleichtert und nahm die Hand seines Freundes. »Eadwig? Hörst du mich?«
Die Lider schienen leicht zu flattern, aber er zeigte keinerlei Reaktion. »Es wird noch ein Weilchen dauern, bis er wirklich zu sich kommt«, sagte Cædmon leise. »Besser so. Er wird sicher üble Schmerzen haben.« Er ging kurz hinaus zu einem der Proviantzelte und organisierte einen Becher kräftigen burgundischen Rotwein. Als er damit zurückkam, atmete sein Bruder merklich tiefer, und dann und wann zuckte sein Mund. Schließlich begann die unverletzte Hand, rastlos über die rauhe Wolldecke zu streichen, bis Cædmon sie ergriff und seine warmen Finger darum schloß.
»Es ist alles in Ordnung, Eadwig.«
Sein Bruder wandte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam. »Ist der Arm … ab?« fragte er leise.
»Nein. Du bist noch in einem Stück. Mach die Augen auf und sieh selbst.«
Zögernd schlug Eadwig die Lider auf und blinzelte.
»Hier, trink das.« Behutsam richtete Cædmon seinen Bruder ein wenig auf, ohne auf dessen schwachen Protest und sein Stöhnen zu achten, und flößte ihm einen Schluck ein. »Komm schon. Du hast Blut verloren und brauchst Wein.«
»Ja. Vielleicht tut es nicht mehr so weh, wenn ich betrunken bin«, erwiderte er keuchend, und Leif und Cædmon tauschten ein erleichtertes Grinsen. Nach einem Moment Pause setzte Cædmon Eadwig den Becher wieder an die Lippen. Als er geleert war, ließ Eadwig den Kopf erschöpft an die Brust seines Bruders sinken.
»Ist der König gefallen? Sagt mir die Wahrheit.«
»Nein. Er hat nur einen Kratzer. Toki Wigotson hat ihm das Leben gerettet.«
»Ein Engländer«, murmelte Eadwig.
»So ist es.«
»Gut. Sagt Toki, ich gebe ihm ein Bier aus, wenn wir nach Hause kommen.« Und damit schlief er wieder ein.
Cædmon bettete ihn vorsichtig zurück auf das rauhe, gräuliche Laken und küßte ihm die Stirn. Dann sah er zu Leif auf. »Geh nur. Ich bleibe bei ihm.«
Leif wollte widersprechen, als ein kleiner Tumult am Zelteingang sie ablenkte. Zwei Soldaten versuchten, sich an einem Feldscher vorbeizudrängen, der sich ihnen tapfer in den Weg gestellt hatte.
»Was fällt euch ein?« zischte er. »Ihr könnt hier nicht einfach so hereinplatzen …«
»Befehl des Königs«, entgegnete einer der Männer unbeeindruckt, und als der Arzt ihnen daraufhin nicht umgehend ehrfurchtsvoll Einlaß gewährte, stieß der Soldat ihn rüde beiseite. Zusammen mit seinem Kameraden schritt er die beiden Reihen der Strohlager entlang und sah sich suchend um. Vor Etienne fitz Osbern blieb er stehen und stemmte die Hände in die Hüften. »Steht auf. Wenn Ihr nicht könnt, schleifen wir Euch eben raus.«
Cædmon machte drei lange Schritte und packte den Rohling am Arm. »Was erlaubst du dir eigentlich, du Ochse?«
Der Mann machte einen linkischen kleinen Diener vor Cædmon, sagte aber mit unveränderter Entschlossenheit: »Dieser Mann ist ein Verräter, Thane, und der König hat uns angewiesen, ihn zu ihm zu bringen.« »Das ist lächerlich. Der König muß doch …«
»Ich komme«, sagte Etienne. Seine Stimme war leise, aber eigentümlich durchdringend. Alle sahen ihn an, während er sich langsam aufrichtete. Er stützte den geschienten linken Arm mit der rechten Hand und hielt den Kopf einen Moment so tief gesenkt, daß sie sein Gesicht nicht sehen konnten.
»Macht mir eine Schlinge«, sagte er zu niemand Bestimmtem, und nach kurzem Zögern ergriff eine der Wachen ein fleckiges Stück Leinen, das in der Nähe lag, faltete es, knotete es zusammen und reichte es ihm.
Etienne nickte. »Danke.« Er legte sich die Schlinge um den Hals und steckte den gebrochenen Arm hinein. Dann sah er auf.
»Etienne … Was hat das zu bedeuten?« fragte Cædmon verständnislos. Die dunklen Augen sahen ihn unverwandt an. Ihr Ausdruck war rätselhaft, unmöglich zu deuten.
»Ich weiß es nicht, Cædmon«, sagte er. Er sprach langsam, beinah überdeutlich. »Aber wo immer sie mich hinbringen, ich bin lieber dort als hier. Mir ist alles gleich, solange ich dich nicht sehen muß. Und wenn sie mich in den nächstbesten finsteren Winkel führen, um mir dort die Kehle durchzuschneiden, soll es mir auch recht sein. Hauptsache, du bist nicht dort. Verstehst du?«
Cædmon wandte den Blick ab und nickte stumm.
Etienne ließ ihn stehen, machte zwei entschlossene Schritte und brach dann ohne einen Laut bewußtlos zusammen.
Der Arzt hastete herbei. »Ich hab’s ja gesagt, er darf nicht aufstehen. Er hat eine schwere Kopfverletzung und braucht Ruhe.«
»Die kriegt er«, versprach einer der Soldaten höhnisch und beugte sich über Etienne, um ihn aufzuheben und sich über die Schulter zu werfen. »Hände weg«, sagte Cædmon leise. »Wag es nicht, ihn anzurühren.« Die Soldaten zögerten und sahen ihn unsicher an. »Aber der König hat uns befohlen, ihn zu ihm zu bringen.«
Cædmon nickte und wandte sich kurz zu Leif um. »Würdest du bei Eadwig bleiben?«
»Natürlich.«
Cædmon brach sich fast das Kreuz, als er Etienne aufhob, denn sie waren etwa gleich groß und gleich schwer. Aber er bemühte sich, jedes noch so leise Ächzen zu unterdrücken und keine Miene zu verziehen, lehnte angebotene Hilfe entrüstet ab und hoffte, daß, wo immer der König auch sein mochte, es nicht weit bis dorthin war.
Williams Zelt war tatsächlich nur einen Steinwurf vom Lazarettzelt entfernt. Als Cædmon, dicht gefolgt von den beiden Wachen, eintrat, hielt der König in seinem ruhelosen Marsch durch den kleinen Raum inne und sah ihnen mit grimmiger Miene entgegen. Sein rechter Unterarm war blutverschmiert und unverbunden, bemerkte Cædmon. Vermutlich hatte der König den Arzt, der ihn verbinden wollte, mit einem Tritt zum Teufel gejagt.
Hoch aufgerichtet stand William in der Zeltmitte, so daß das immer noch rabenschwarze Haar die durchhängende Decke berührte, und verschränkte die Arme.
»Was für ein rührendes Bild«, höhnte er bitter. Dann fuhr er die Wachen an: »Habe ich nicht gesagt, ihr sollt ihn in Ketten legen?«
»Sire … Der Thane hat ja nicht erlaubt, daß wir …«
»Und wem seid ihr dienstpflichtig? Dem Thane of Helmsby oder mir?« Sie stammelten Unverständliches, und der König scheuchte sie mit einem angewiderten Wink hinaus. Dann sagte er zu Cædmon: »Legt ihn schon ab, ehe Ihr zusammenbrecht.«
Vorsichtig ließ Cædmon Etienne auf den mit Fellen bedeckten Boden gleiten, hockte sich hinter ihn und stützte seinen Oberkörper. Dann sah er auf. »Sire, Ihr täuscht Euch. Etienne fitz Osbern hat die Nachhut nicht angestiftet, Euch anzugreifen. Es ist passiert, nachdem er verwundet wurde.«
»Woher wollt Ihr das wissen?« fragte William verblüfft. »Habt Ihr es gesehen? Eure Augen müssen sehr scharf sein. Ihr wart schließlich vorne; die ganze Schlacht lag zwischen Euch und der Nachhut.«
»Ich habe es nicht gesehen.«
»Dann könnt Ihr auch nicht wissen, daß es so war.«
»Ich weiß es.«
Der König winkte ab, ließ sich ächzend auf einen harten Holzstuhl fallen und nahm einen untypisch tiefen Zug aus dem Weinbecher, der auf dem Tisch stand. »Ihr seid nur sentimental, Cædmon. Er war Euer Freund, Ihr habt ihn betrogen, jetzt plagt Euch Euer Gewissen, und Ihr wollt etwas gutmachen. Ich hingegen bin in der Lage, unvoreingenommen zu urteilen, und sehe den Tatsachen ins Auge: Ich habe ihm die Nachhut unterstellt, und das war ein Fehler. Ich hätte ihm nie trauen dürfen. Sein Verrat hat mir heute das Kreuz gebrochen, und ich höre das schallende Gelächter meiner Feinde bis hierher.«
Cædmon schüttelte entschieden den Kopf. »Ihr seid nicht unvoreingenommen, Sire. Ihr seid zornig und sucht ein Opfer, an dem Ihr Euren Zorn auslassen könnt. Und Ihr verurteilt Etienne, weil sein Bruder Euch verraten hat.«
Der König schoß von seinem Stuhl hoch. »Gebt acht, was Ihr redet, Thane, sonst sperre ich Euch zusammen mit ihm ein! Dann hättet Ihr viel Zeit und Muße, Euch mit Eurem teuren Freund auszusöhnen. Darüber hinaus hat nicht nur einer seiner Brüder mich verraten, sondern beide! Und seine Schwester obendrein!«
»Aber sein Vater war Euer treuester Vasall!« entgegnete Cædmon ebenso hitzig.
»Ja. Ein großartiger Mann, geschlagen mit einer Brut wertloser Schwächlinge von Söhnen! Gott hat ihm eine große Gnade erwiesen, indem er ihn zu sich rief, ehe sie alle ihr wahres Gesicht zeigten! Und jetzt schert Euch hinaus!«
Cædmon ließ Etienne ganz zu Boden gleiten, sah einen Moment auf das ebenmäßige, jetzt friedvolle Gesicht hinab und kam dann schwerfällig auf die Füße. Jeder Knochen tat ihm weh nach diesem Tag auf dem Schlachtfeld, und er fühlte sich dumpf vor Erschöpfung.
»Ja, Sire, ich gehe. Aber wenn Ihr erlaubt, würde ich gern erfahren, wie Rufus in dieser Sache denkt.«
Der Prinz hatte reglos in einer dunklen Ecke des schwach beleuchteten Zelts gestanden. Als sein Vater keine Einwände erhob, trat er einen Schritt näher, blickte bekümmert auf den bewußtlosen Mann am Boden und sah Cædmon dann in die Augen. »Ich teile die Ansicht meines Vaters, Cædmon.«
Du elender Feigling, dachte Cædmon angewidert. Fassungslos schüttelte er den Kopf. »Wie ist das möglich? Du … du kennst ihn doch.« »Ja. Aber du vergißt den kleinen Zwischenfall an Heiligabend.«
»Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Tatsächlich nicht? Du warst im Rosengarten und wurdest niedergeschlagen. Etienne fitz Osbern fand dich – angeblich – und brachte dich zu Wulfnoth. Ich habe ihn auf dem Weg dorthin gesehen, und er war nicht allein. Hugh de Bernay und Rollo fitz Alan waren bei ihm. Beide sind heute in der Nachhut geritten, beide sind tot. Also können wir sie nicht mehr befragen, aber das ist wohl auch nicht nötig. Es war ein Verschwörertreffen, das dort im Rosengarten stattgefunden hat, und sie haben dich von hinten niedergeschlagen, damit du sie nicht siehst. Vermutlich war es fitz Osbern selbst.«
Cædmon starrte ihn betroffen an. Dann schüttelte er langsam den Kopf. »Du mußt dich irren.«
Rufus’ Blick war voller Mitgefühl. »Ich glaube nicht, Cædmon. Offenbar bist du derjenige, der sich in Etienne fitz Osbern getäuscht hat.«