Winchester, Oktober 1070

Wie Cædmon vorausgesehen hatte, war seine Mutter anfangs äußerst unwillig gewesen, ihn an den Hof zu begleiten, aber nachdem sie ihrer Empörung hinreichend Luft gemacht hatte, traf sie ihre Vorbereitungen mit Bedacht, reiste für zwei Tage nach Norwich, um Stoffe für neue Kleider zu kaufen, und nahm Beatrice und die unvermeidliche Tante Yvetta mit, so daß Cædmon eine Atempause bekam und gemeinsam mit Alfred die Vorbereitungen für den schweren Winter treffen konnte. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in Helmsby war erleichtert, als Beatrice Baynard schließlich wieder verschwand. Cædmon hatte bedrückt festgestellt, daß sie ebenso unfähig wie unwillig war, sich in einen angelsächsischen Haushalt einzufügen: Sie mißverstand die Ungezwungenheit der Leute als Respektlosigkeit, rümpfte die Nase über ihre Küche, ihre Lieder, ihre Bräuche und ihr Bier, lernte in den zehn Tagen ihres Besuches nicht ein einziges Wort ihrer Sprache und behandelte selbst die angesehensten Bauern wie Leibeigene. Alfred ging ihr aus dem Wege, Marie begegnete ihr mit verächtlicher Herablassung, und die Sklaven in der Halle und auf dem Gut zitterten vor ihr. So war nicht nur Cædmon froh, als sie endlich nach Winchester zurückkehrten.

Gytha hatte ihm zum Abschied eröffnet, daß sie wieder ein Kind erwarte. »Es kommt im Frühling, falls ich es über den Winter bringe.«

Er hatte sie an sich gezogen und das Ohr auf ihren Bauch gepreßt. »Ich höre gar nichts.«

»Dafür ist es noch zu früh, Thane.«

Er hatte vor sich hingelächelt. Gytha war immer so furchtbar ernst. »Ich weiß.«

»Wußtest du, daß dem Müller von Metcombe die Frau gestorben ist?« »Hengest? Nein. Was ist passiert?«

»Winterfieber.«

»Oh. Ich hoffe, sie hat es sich nicht in der Nacht geholt, als sie mir ihre Decke überlassen hat.«

»Was?«

»Nichts. Warum erzählst du mir das, Gytha?«

»Ich sollte aus dem Haus sein, wenn deine Braut hier einzieht.«

»Du willst heiraten?«

»Alfred sagt, der Müller will mich haben. Und meine Kinder auch. Seine Frau konnte keine bekommen, und er braucht jemanden, dem er eines Tages die Mühle hinterlassen kann. Er kommt in die Jahre.«

Hengest wäre eine gute Partie für Gytha, ging ihm auf. Ein unfrei geborenes Mädchen mit einem Bastard. Oder zweien. Müllerin eines großen Dorfes zu werden war weit mehr, als sie sich je hatte erhoffen können. Er ignorierte den eifersüchtigen Stich und fragte: »Und willst du ihn?«

Gytha hatte ihm in die Augen gesehen. »Denkst du nicht, das sollte ich?«

 

Es traf ihn vollkommen unvorbereitet, mit welch großer Ehrerbietung seine Mutter am Hof empfangen wurde. Natürlich wußte er, daß der König Marie schätzte – er erkundigte sich regelmäßig nach ihrem Wohlergehen und war ihr bei seinem Besuch in Helmsby vor einigen Monaten mit erlesener Höflichkeit begegnet. Was Cædmon hingegen nicht geahnt hatte, war, daß seine Mutter als junges Mädchen im Dienst der Mutter des Königs gestanden hatte, jener ebenso bemerkens- wie bedauernswerten Herlève, die, nachdem sie dem Herzog der Normandie seinen einzigen Sohn geschenkt hatte, mit dem Vicomte de Conteville verheiratet worden war, damit sie gut versorgt und aus dem Wege war. Aus dieser Ehe waren zwei Söhne hervorgegangen – Odo und Robert. Die Frau eines Vicomte zu sein war für die Gerberstochter ein enormer Aufstieg gewesen, aber leicht hatte sie es nie gehabt. All die Jahre, die William um die Vorherrschaft über sein Reich gekämpft hatte, hing ihr Schicksal ebenso am seidenen Faden wie seins. Nicht vielen hatte sie trauen können. Eine der wenigen war die Tochter des hochgeschätzten Wundarztes, der mit ihrem Sohn von Schlacht zu Schlacht zog, und Marie war bei Herlève geblieben, bis sie Ælfric of Helmsby heiratete und mit ihm in seine Heimat zurückkehrte.

»Das alles hast du mir nie erzählt«, sagte Cædmon fassungslos und sank auf einen Schemel neben dem prächtigen Bett in Maries vornehmem Quartier.

Sie zog die Brauen hoch und betrachtete ihren Sohn beinah amüsiert. »Ich muß dir ja auch nicht alles erzählen, Cædmon.«

»Ähm … nein. Natürlich nicht. Aber daß du der Mutter des Königs so nahegestanden hast und ich nichts davon wußte … Es überrascht mich nur, das ist alles.«

Marie setzte sich ihm gegenüber auf die Bettkante. »Ich kannte sie mein ganzes Leben lang. Sie stammte aus Falaise genau wie ich.«

»Natürlich …«, ging ihm auf.

»Jeder in Falaise kannte die Hure des Herzogs. Manche krochen vor ihr, andere bewarfen sie mit Steinen. Ihr war es gleich. Sie war eine sehr stolze Frau. Als ich acht oder neun war, heiratete sie Herluin de Conteville, und ich ging mit ihr.« Sie hob lächelnd die Schultern. »Tja, Cædmon, ich habe sowohl Bischof Odo von Bayeux als auch dem ruhmreichen Robert de Mortain die Windeln gewechselt.«

Er lachte leise. »Zu schade, daß ich das noch nicht wußte, als Odo mich neulich niedergeschlagen hat …«

»Er hat was getan?«

Cædmon winkte ab. »Oh, es war nichts weiter. Ich hatte sein Mißfallen erregt, und Odo neigt zu Zornesausbrüchen, genau wie der König.« »Trotzdem«, entgegnete Marie spitz. »Ein äußerst merkwürdiges Betragen für einen Bischof.«

»O ja. Odo ist überhaupt ein ganz merkwürdiger Bischof. Aber ein großartiger Mann. Ich glaube, er ist mir von den drei Brüdern der liebste. Was wurde aus Herlève?«

Marie seufzte leise. »Sie hat es nicht schlecht angetroffen mit Herluin de Conteville. Aber sie trauerte um Williams Vater, sie hat seinen Tod nie wirklich überwunden. Je deutlicher William seine Macht festigte, um so sicherer wurde auch ihre Position, und niemand wagte mehr, wegen ihrer niederen Herkunft mit dem Finger auf sie zu zeigen.«

Cædmon dachte an die Geschichte, die Wulfnoth ihm einmal erzählt hatte, und murmelte: »Nein, denn William hackte denen die Hände ab, die mit dem Finger auf sie zeigten …«

»Und die Füße, so ist es. Ich sehe, du hast von Alençon gehört. Unmittelbar nachdem William Rouen zurückerobert und seine Macht endgültig gesichert hatte, starb Herlève. Am Karfreitag vor zwanzig Jahren.«

Cædmon hob verblüfft den Kopf, und seine Mutter nickte. »Am Tag, als du zur Welt kamst, mein Sohn.«

»Vielleicht ist das der Grund, warum mich das Schicksal an die Seite ihres Sohnes gestellt hat, obwohl ich meistens lieber anderswo wäre«, sagte er.

»Vielleicht.« Marie stand auf, sah kurz an sich hinab und strich ihren Rock glatt. »Und jetzt sollte ich wohl lieber gehen und mir Williams Königin ansehen.«

Cædmon erhob sich ebenfalls. »Ich bin sicher, sie wird dir gefallen. Sie ist ein winziges Persönchen, sehr schön, und sie hat einen eisernen Willen, gegen den nicht einmal der König ankommt. Mit anderen Worten, Mutter …«, er hielt ihr höflich die Tür auf, »sie ist genau wie du.«

Marie trat lächelnd auf den Korridor hinaus. »Was für bemerkenswerte Komplimente du machst, Cædmon. Schade, daß du so sparsam damit bist.«

Er starrte ihr mit offenem Mund nach.

 

Nach einer Woche heftiger Regenfälle kam der goldene Oktober, und zu Cædmons grenzenloser Erleichterung kehrten die Baynards nach London zurück. Eine endgültige Einigung über den Ehevertrag war nicht erzielt worden.

»Ihr habt Ralph Baynard angedeutet, er müsse die Mitgift noch ein wenig aufbessern?« fragte Roger Montgomery, der Earl of Shrewsbury, rundheraus, während er neben Cædmon den schmalen Waldweg entlangtrabte. Es war die erste Jagd in dem unlängst beschlagnahmten Waldgebiet, das alle den Neuen Forst nannten.

Cædmon warf Montgomery einen unbehaglichen Blick zu. Er mochte den Earl gern, gerade wegen seiner Direktheit. Montgomery war einer der klügsten Ratgeber des Königs, fand er, der eher als andere dazu neigte, auch einmal unpopuläre Meinungen zu äußern. Ein sehr mutiger Mann und einer der großen Helden von Hastings. Aber heute wünschte er, Montgomery besäße ein bißchen mehr vornehme Zurückhaltung.

»Wer sagt so etwas, Monseigneur?«

Montgomery verzog amüsiert den Mund. »Ralph selbst. Er hat es mir erzählt. Wir sind alte Freunde, wißt Ihr.«

»Ja, ich weiß.«

»Er war ziemlich verwundert. Und nicht erfreut.«

Cædmon hob die Schultern. »Es war gewiß nicht meine Absicht, ihn zu verärgern oder seine Tochter zu beleidigen. Aber ich habe mich ein wenig umgehört und bin zu dem Schluß gekommen, daß sein Angebot besser sein könnte.«

Montgomery lachte in sich hinein. »Ich habe Ralph gleich gesagt, wenn er hofft, seiner Tochter einen preiswerten Engländer kaufen zu können, dann soll er sich nicht gerade Euch aussuchen.«

»Wärmsten Dank, Monseigneur.«

Der Earl sah ihn scharf von der Seite an. »Ihr seid nicht gekränkt, daß ich das sage, oder?«

»Keineswegs. Ihr habt ja völlig recht.« Baynard wäre sicher besser beraten, sich einen Engländer zu suchen, der keine normannische Mutter hatte, die sich in diesen Dingen so erstaunlich gut auskannte und die Preise in die Höhe trieb … »Ich fange nur an, mich besorgt zu fragen, warum Baynard so ein Interesse daran haben sollte. Und warum die Hast?«

»Oh, seid beruhigt. Mit Beatrice ist alles in Ordnung. Es gibt kein dunkles Geheimnis. Aber Baynard baut sich eine Festung in London, die mehr oder minder seine ganzen Einkünfte verschlingt. Außerdem hat Beatrice noch zwei Schwestern, die versorgt werden müssen.«

»Verstehe …«

»Und er liebt England und die Engländer. Auch das ist ein Grund, warum er Euch für sie will. Ihr solltet geschmeichelt sein.«

»Das bin ich.«

»Dann nehmt das Mädchen, Thane, und feilscht nicht länger.«

Dieses Mal lachte Cædmon vor sich hin. »Ich hoffe, Baynard hat Euch eine fette Prämie versprochen, wenn Ihr mich umstimmt und er einen Haufen Geld spart.«

Montgomery schnitt eine komische Grimasse und hob ergeben die Rechte. »Nein. Ein reiner Freundschaftsdienst. Und ich sehe, es wird nichts nützen.«

»Nein.«

»Hm. Dann bleibt mir nichts, als Euch zu wünschen, daß Ihr nicht den Zorn des Königs auf Euch zieht.«

Cædmon sah ihn stirnrunzelnd an. »Drohungen, Monseigneur?«

»O nein. Eine gutgemeinte Ermahnung. Auch dem König ist an dieser Verbindung gelegen. Und Ihr wißt ja … Teufel, ich glaube, die Hunde haben etwas gewittert.«

Schlagartig kam Bewegung in die Jagd, und eine Fortsetzung der Unterhaltung blieb Cædmon vorläufig erspart. Die Meute war einem Rudel von etwa einem Dutzend Rehen auf die Spur gekommen. In Windeseile hatten die hervorragend abgerichteten Hunde eine Ricke mit ihrem Kitz von der Herde abgetrieben, und die zehnköpfige Jagdgesellschaft nahm die Verfolgung auf. Widsith hatte Montgomerys Pferd bald abgehängt und zu den Prinzen aufgeschlossen, die gleich hinter ihrem Vater über Stock und Stein und durch dichtes Gestrüpp galoppierten. Es war ein gefährlicher Ritt: Die Bäume standen dicht, und die Unebenheiten des Bodens waren im hohen Farn nie erkennbar, ehe es zu spät war. Nicht selten stürzte ein Pferd auf der Jagd und brach sich ein Bein, gelegentlich brach sich auch einer der Jäger den Hals. Doch keiner hätte freiwillig auf dieses hochgeschätzte Privileg verzichtet. Die Geschwindigkeit, das Donnern der Hufe, das Kläffen der großen, grauen Jagdhunde, die Aussicht auf Beute und die lauernde Gefahr – all das vermischte sich zu einem einzigartigen Rausch, der das Blut in den Adern zum Kochen brachte.

Die Hunde stellten die Rehe schließlich in einer grasbewachsenen Senke, schlugen ihre Fänge in die schlanken Läufe und brachten sie zu Fall.

Der König zog sein Schwert, zügelte seinen mächtigen Rappen, sprang aus dem Sattel und gab der Ricke den Fang. Das Kitz überließ er seinen Söhnen.

Der Jagdführer blies das Horn, und die Hunde wichen jaulend von der Beute zurück, sprangen nervös umher und schnappten nacheinander, während sie ungeduldig auf ihren Lohn warteten – die nicht verwertbaren Eingeweide.

Der König nickte seinen Söhnen zu. »Gut gemacht.« Er war nicht einmal außer Atem.

Richard und Rufus waren über das ungewohnte Lob sichtlich erfreut, und als Cædmon ihre strahlenden Gesichter betrachtete, fragte er sich, ob dem König denn wirklich überhaupt nicht bewußt war, wie selten er seine Söhne lachen sah.

Auf dem Rückweg nahmen die Prinzen Cædmon in die Mitte, brüsteten sich mit ihrer Tat und befragten ihn nach englischen Jagdsitten. Er gab bereitwillig Auskunft und erklärte, Engländer jagten genauso wie Normannen und andere zivilisierte Menschen: mit Meute oder mit Falken oder Pfeil und Bogen. Und manche eben auch mit der Schleuder.

»So wie du«, bemerkte Richard.

»So wie ich«, stimmte Cædmon zu.

»Wieso?«

»Weil es die eleganteste Art zu jagen ist. Schnell und lautlos.«

Der König, der mit seinem Bruder Robert, Montgomery und Warenne vor ihnen ritt, drehte sich im Sattel um. »Es ist bäurisch«, erklärte er mißfällig. »Laßt euch ja nicht einfallen, es zu versuchen.«

»Nein, Sire«, murmelten die Prinzen kleinlaut.

Nur Cædmon wagte, die Augen zu verdrehen, nachdem der König sich wieder nach vorn gewandt hatte, und er tauschte ein verstohlenes Grinsen mit seinen Schülern. Er hatte ihnen schon vor Jahren beigebracht, wie man mit einer Schleuder umging. Rufus war nicht einmal schlecht. Für einen Normannen.

Als sie den Waldrand schon fast erreicht hatten, stießen sie auf eine Schar zerlumpter Gestalten. Es waren vielleicht zwanzig Menschen, und sie alle waren schwer beladen, selbst die Kinder trugen Säcke auf den Rücken. Cædmon war nicht überrascht zu sehen, daß es keine persönlichen Habseligkeiten waren, die sie mit sich schleppten, sondern Holzkohle. Ihr kostbarstes Gut. Ihre Meiler hatten sie aufgeben müssen; sie standen vor dem Nichts, aber vielleicht hofften sie, mit dem Verkauf dessen, was sie tragen konnten, wenigstens über den Winter zu kommen. Die beiden Soldaten der Leibwache, die den König begleiteten, preschten ein paar Längen vor und trieben die Leute zwischen die Bäume. »Verschwindet! Macht den Weg frei! Macht Platz für den König, ihr Gesindel!«

Sie traten und schlugen mit den Zügeln nach allen, die sich nicht schnell genug in Sicherheit brachten, und die Köhler stoben auseinander wie Hühner vor dem Fuchs. Nur eine alte, gebeugte Frau drehte sich wieder um und sah dem Reiterzug unbewegt entgegen. Ihr Haar war dunkelgrau, fast noch schwarz, stellte Cædmon verwundert fest, obwohl ihr Mund schon zahnlos und eingefallen war. Sie war klein und zierlich, die faltige Haut ihres Gesichts wirkte ledrig. Ein seltsames Lodern war in ihren schwarzen Augen, so daß man nicht lange hineinsehen mochte. Eine Frau des alten Volkes, ging ihm auf, dem dieses Land gehört hatte, ehe seine Vorfahren hier eingefallen waren und es erobert hatten so wie jetzt die Normannen.

Sie ließ den Blick langsam über die Jagdgesellschaft schweifen, und als sie Cædmon ansah, riet er eindringlich: »Was immer du sagen willst, Mütterchen, behalt es für dich. Es würde dich deine Zunge kosten. Mindestens.«

Sie ignorierte ihn vollkommen und richtete die schwarzen Augen auf William. Der König war kein Mann, der einer Herausforderung leicht widerstehen konnte; er zügelte sein Pferd und erwiderte ihren Blick. Der Reiterzug hielt an.

»Verflucht sollst du sein, William Mörderkönig.«

Diese Worte hörte der König beileibe nicht zum erstenmal, und er verstand sie sehr wohl. Aber nichts regte sich in seinem Gesicht.

»Verflucht sollst du sein und deine Brut ebenso. Dieser Wald soll soviel Leid und Unglück über dich bringen, wie du über uns gebracht hast: Diese beiden Söhne, die mit dir reiten, sollen im Schatten dieser Bäume sterben.«

Cædmon fuhr zusammen, als habe ihn ein unerwarteter Schlag getroffen. Er hörte Rufus an seiner Linken scharf die Luft einziehen, und Richard senkte den Kopf und bekreuzigte sich.

Der König rührte sich immer noch nicht. »Cædmon?«

Für einen Moment erwog er zu lügen. Aber die Prinzen hatten jedes Wort verstanden, die Wachen vielleicht ebenso. Es würde nichts nützen. Er räusperte sich und wiederholte ihre Worte leise auf normannisch. Robert, Warenne und Montgomery folgten Richards Beispiel und machten das Kreuzzeichen.

»Dieser Fluch soll das letzte sein, was du je aussprichst. Und dieser Wald das letzte, was deine Augen je sehen«, sagte der König mit dieser eigentümlich ausdruckslosen Stimme, die jeder fürchtete, der ihn kannte. Er nickte den Männern der Wache zu, und sie traten näher, um die Alte zu packen, ein Stück zwischen die Bäume zu zerren und das Urteil des Königs dort zu vollstrecken. Doch sie zückte mit beinah katzenhafter Schnelligkeit ein kurzes, schmales Messer aus dem Gürtel, entwischte ihnen knapp und machte einen Satz auf den König zu. Zwei Schwerter durchbohrten ihren Rücken, wurden so tief hineingestoßen, daß sie blutverschmiert aus ihrer Brust ragten, und sie starb mit einem triumphalen Lächeln.

Die übrigen Vertriebenen hatten längst das Weite gesucht. Vermutlich würden sie später wiederkommen und sie holen, dachte Cædmon. Er sah noch einen Moment auf das ledrige, alte Gesicht hinab. Hinter den halbgeschlossenen Lidern schienen die dunklen Augen immer noch zu lodern. Er wandte sich ab und unterdrückte ein Schaudern.

Schweigsam setzte die Jagdgesellschaft ihren Heimweg fort, und als sie zur Halle zurückkamen, schickte der König nach seinem Kaplan, befahl seinen Söhnen, ihn zu begleiten, und begab sich mit ihnen umgehend in die Kapelle.

 

Cædmon hatte Mühe, die Düsternis abzuschütteln, die sich auf sein Herz gelegt hatte. Dabei war es mehr der gewaltsame Tod der alten Frau als ihr Fluch, der ihn bedrückte. Sie war nichts weiter gewesen als ein verbittertes altes Weib. Und weil sie nichts mehr zu verlieren hatte und den Winter so oder so nicht überlebt hätte, hatte sie ihrem ohnmächtigen Zorn Luft gemacht und den König mit ihrem harmlosen kleinen Kräutermesser angegriffen, damit seine Soldaten sie töteten, statt sie zu verstümmeln. Er bewunderte ihre Unbeugsamkeit und ihren Mut, aber ohnmächtig blieb sie dennoch. Trotzdem hatten die Wachen sie niedergemacht wie der König zuvor die Ricke. Cædmon hatte viele Männer in Schlachten, Belagerungen und Scharmützeln sterben sehen, und überall in Northumbria hatte er die Leichen beiderlei Geschlechts gefunden, die die Todesreiter hinterlassen hatten, aber der Tod dieser alten Frau hatte ihn aus der Fassung gebracht. Er wünschte plötzlich, Guthric wäre hier.

Das brachte ihn auf einen Gedanken. Er machte sich Richtung Sandplatz auf den Weg, um zu sehen, wo Leif und Eadwig steckten. Die Gesellschaft dieser unbekümmerten jungen Burschen tat ihm immer gut. Er konnte sich nie so recht vorstellen, daß er und Etienne und Roland und Philip vor fünf Jahren genauso gewesen sein sollten. Aber vielleicht hatte er es nur vergessen. Vielleicht hatten sie ebensolche ungestümen, törichten Hitzköpfe abgegeben wie sein Bruder und dessen Freunde heute. Jedenfalls beschloß er, sie ausfindig zu machen und mit ihnen nahe der Kapelle Stellung zu beziehen, damit sie den Prinzen Gesellschaft leisten konnten, sobald diese herauskamen, und ihnen helfen, die Erinnerung an das scheußliche Erlebnis abzuschütteln.

Auf dem Weg zur Nordseite der Halle begegnete er zu seiner Verwunderung Henry, der mutterseelenallein zwischen dem Backhaus und einem der Viehställe vor einer Pfütze hockte, wo er eine ganze Flotte leuchtend gelber Eichenblätter zu Wasser gelassen hatte. Während Cædmon ihn beobachtete, legte der kleine Junge die Wange auf den schlammigen Boden und pustete mit aufgeplusterten Backen, um seine Schiffe anzutreiben. Winzige Wellen erzitterten auf der stillen Oberfläche, so daß das Spiegelbild des weißblauen Oktoberhimmels zerfloß. Dann richtete der Flottenführer sich wieder auf, steckte beide Hände ins brackige Wasser und lachte glucksend. Seine blonden Locken waren mit dunklem Schlamm verschmiert, der ihm zäh auf Brust und Schultern tropfte.

Cædmon trat grinsend näher. »Henry. Was treibst du denn da? Junge, Junge, wenn deine Mutter dich so sieht …«

Henry hob den Kopf und strahlte ihm vertrauensvoll entgegen. »Schiffe«, erklärte er und wies mit dem Finger auf seine Blätter, die langsam, aber sicher kenterten. Cædmon starrte den Jungen fasziniert an. Es war das erste Wort, das er ihn je hatte sprechen hören, und er hatte es auf englisch gesagt.

Cædmon hockte sich zu ihm und zog ihn impulsiv in die Arme. »Mein kluger kleiner Prinz. Kannst du verstehen wenn ich ›mein kluger, kleiner Prinz‹ zu dir sage?«

Henry nickte und sah ihn ernst und konzentriert an.

Cædmon lächelte. »Warum bist du so ganz allein hier, hm?«

Der Junge antwortete nicht, warf einen letzten, teilnahmslosen Blick auf seine gesunkene Flotte und stand vom Boden auf. Einen Augenblick sah er zu Cædmon hoch, den Kopf leicht zur Seite geneigt, so als wäge er eine Entscheidung ab oder versuche, ihn einzuschätzen. Dann streckte er seine rundliche Hand nach ihm aus. Cædmon warf einen blitzschnellen Blick über die Schulter, um sicherzugehen, daß ihn hier bloß niemand sah. Dann schloß er seine große Faust um die winzigen Finger und ließ sich willig abführen.

Henry brachte ihn in den Viehstall. Drinnen war es warm und dämmrig und die Luft von einem durchdringenden Mistgeruch erfüllt, aber der kleine Junge zog ihn unbeirrt in einen Winkel an der hinteren Stirnseite, wo die Strohballen aufbewahrt wurden.

Cædmon erahnte eine schattenhafte Gestalt, und im selben Augenblick, als er den klebrig süßlichen Geruch wahrnahm, erkannte er sie. »Aliesa?«

Sie hob den Kopf, und die losen, schwarzen Haare fielen von ihrem Gesicht zurück. Das züchtige Kopftuch war verschwunden. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, und er sah, daß sie sich sacht vor- und zurück wiegte.

»Cædmon … hilf mir.«

Er kniete sich neben sie ins Stroh. Das Tageslicht draußen begann zu schwinden, und sie waren sehr weit weg von der Tür, der einzigen Lichtquelle des fensterlosen, langgezogenen Stalls. Aber seine Augen hatten sich längst darauf eingestellt, er sah alles mit einer seltsam traumartigen Klarheit. Sie zitterte, ihr Gesicht war schweißüberströmt. Vage nahm er ein leises Klirren wahr, und es dauerte einen Augenblick, bis ihm klarwurde, daß es ihre klappernden Zähne waren.

»Ich hab’ gedacht, ich komm’ her und warte, bis es aufhört … hat bisher immer wieder aufgehört … aber heute nicht.«

Es war ein undeutliches Keuchen, er hatte Mühe, sie zu verstehen.

Er blickte ins Stroh hinab und sah die dunkle, bräunliche Verfärbung, die sich fast kreisförmig um sie ausgebreitet hatte. Sie kniete mitten in einem See aus Blut.

Cædmon durchlebte einen Moment vollkommener Kopflosigkeit, eine Art von Panik, die jeden klaren Gedanken unmöglich machte. Eine so allumfassende Hilflosigkeit wie in dem Augenblick, als Harold Godwinsons Schiff zerborsten und er kopfüber in die schwarzen Fluten gestürzt war, mit der Gewißheit, daß er sterben würde.

Doch es verging so schnell, wie es gekommen war. Nach einem Moment der Starre kam er auf die Füße, riß sich den Mantel von den Schultern und faßte sie behutsam am Arm.

»Kannst du aufstehen?« Noch während er fragte, zog er sie in die Höhe. Sie gab ein leises, halb überraschtes Stöhnen von sich, dann knickten ihre Knie ein, und er sah einen neuerlichen Blutstrom zwischen ihren Füßen im Stroh versickern. Mit fahrigen Bewegungen hüllte er sie in seinen Mantel, während sie schon gegen ihn kippte, dann hob er sie auf und trug sie zur Tür. Er hatte Henry vollkommen vergessen, doch der kleine Junge folgte ihm dicht auf den Fersen.

Cædmon versuchte, ihren Kopf an seine Schulter zu betten, aber er fiel immer wieder baumelnd nach hinten. Ihre Lider flatterten; die Ohnmacht war nicht tief. Im dämmrigen Licht des eilig schwindenden Oktobernachmittages wirkte ihre Haut grau und fahl, ihre Lippen waren blutleer. Cædmon betete.

Als sie sich der Halle näherten, begegneten sie ein paar Menschen. Fast der erste, den Cædmon sah, war Lucien de Ponthieu. Er trug einen dunklen, dreckbespritzten Reisemantel und wirkte, als sei er gerade in größter Eile eingetroffen.

Cædmon war nicht verwundert. Er hatte schon öfter beobachtet, daß Lucien oder Aliesa plötzlich auf unerklärliche Weise zur Stelle waren, wenn der andere in Not war; er wußte, das Band war stark. Sein erster Impuls war, sie ihrem Bruder in die Arme zu legen, doch im letzten Moment besann er sich, daß Lucien keine zwei Arme mehr hatte und niemanden tragen konnte.

Cædmon blieb nicht stehen. »Halt mir die Tür auf. Ich weiß nicht, was es ist, Lucien, Henry hat mich zu ihr gebracht.«

Lucien ging neben ihm her und nahm die Hand seiner Schwester in seine. »Wo ist Etienne?«

»Mit seinem Vater in Flandern.«

Lucien sah fassungslos auf die dicken roten Tropfen hinab, die eine Spur über den Korridor legten. »Sie braucht einen Arzt.«

»Meine Mutter ist hier. Wir müssen nach ihr schicken. Vielleicht kann sie etwas tun.«

 

Marie war bald am Ende ihrer Weisheit. Am späten Abend suchte sie Cædmon, den sie ebenso aus dem Zimmer der Kranken verwiesen hatte wie deren Bruder, kurz in seinem Quartier auf. Es war eine zugige kleine Kammer im Obergeschoß des teils aus Stein und teils aus Holz errichteten Bauwerks, die er meist mit zwei oder drei anderen unverheirateten höhergestellten Rittern teilte, wie Roland Baynard etwa oder jetzt wieder Lucien de Ponthieu. Doch im Augenblick war er allein. Lucien war in der Kapelle.

»Ich habe getan, was ich konnte, Cædmon, aber ich fürchte, es wird nicht reichen.«

Er saß einen Augenblick reglos auf seinem Strohlager. Dann vergrub er das Gesicht in den Händen.

»Ich denke, es ist besser, du kommst mit mir.«

Er hob den Kopf. »Warum?«

Marie sah ihn an. »Jetzt ist nicht der richtige Moment für Heucheleien. Sie fragt immerzu nach dir.«

Er stand langsam auf. Seine Glieder kamen ihm vor wie aus Blei gegossen.

»War es dein Kind?« Es klang beinah so, als hätte sie ihm so etwas nie zugetraut.

Er nickte. »Wahrscheinlich.«

»Verstehe«, murmelte Marie. »Ja, ich glaube, jetzt wird mir so einiges klar.«

»Verblutet sie?«

»Vielleicht. Aber selbst wenn nicht, sterben wird sie auf jeden Fall.« Er blinzelte einen Moment. »Woran?«

»Welche Rolle sollte das spielen? Kommst du nun, oder kneifst du lieber?«

Wortlos hielt er seiner Mutter die Tür auf und folgte ihr dann leise den dämmrigen, nur von wenigen Fackeln erhellten Korridor entlang und eine Treppe hinunter.

Als sie an die Tür zu Aliesas Gemach kamen, raunte Marie: »Heul ihr nichts vor, hörst du.«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich hoffe, ihr Bruder wählt nicht gerade diesen Moment, um herzukommen«, fuhr sie leise fort und legte die Hand auf den Riegel.

»Wenn er es tut, sag ihm, sie habe nach mir geschickt, um mir einen letzten Gruß an ihren Mann aufzutragen. Er ist mein bester Freund, Lucien würde es glauben.«

Marie warf ihm einen kurzen Blick zu. »Du bist kaltblütiger, als ich gedacht hätte. Und weitaus durchtriebener.«

Er hörte kaum hin. Durchtrieben, ja, vielleicht, aber wenn sein Blut in diesem Augenblick kalt war, dann vor Furcht.

Zwei Talglichter brannten in mannshohen Ständern links und rechts des Fensters und tauchten den spärlich möblierten Raum in warmes, ruhiges Dämmerlicht. Niemand war dort; Marie hatte die Mägde fortgeschickt. Sie konnten nichts tun und störten mit ihrem nervösen Getuschel nur die Ruhe der Wöchnerin. Der dunkle Bettvorhang war geschlossen. Cædmon schob ihn zurück.

Die grünen Augen, die ihm entgegenstarrten, waren riesig und glänzten vor Fieber. Ihr Gesicht wirkte ausgezehrt, als leide sie schon lange an einer schweren Krankheit. Er sank neben ihr auf die Bettkante und strich ihr die verklebten Haare aus der Stirn, um nicht zu zeigen, wie erschüttert er war.

»Cædmon.«

»Hier bin ich, Liebste.«

Sie nahm seine Hand und verschränkte ihre klammen, schmalen Finger mit seinen. »Unser Kind ist tot. Und ich glaube, es will mich mitnehmen. Gott straft uns für unsere Sünde.«

Er führte ihre Hand an seine Lippen. »Bestimmt nicht. Wir haben niemanden verletzt als nur uns selbst, so groß kann sein Zorn nicht sein.«

Sie hob die Linke zu einer matten, abwehrenden Geste. »Doch, das ist er gewiß. Aber … das habe ich mit einkalkuliert. Nur nicht so bald …« Er beugte sich über sie, wagte kaum, sie anzurühren, und küßte federleicht ihre Lippen. »Stirb nicht«, flüsterte er und schloß für einen Moment die Augen. »Bitte.«

»Sei nicht unglücklich, mein Herz.«

Marie trat lautlos ans Bett. »Ihr solltet nicht soviel reden, mein Kind. Cædmon, es wird Zeit, daß du dich verabschiedest.«

Aliesas Finger schlossen sich fester um seine. »Nein. Geh noch nicht.« Er sah genau, daß sie ihn um etwas bitten wollte, und nach einem Augenblick ging ihm auf, was es war. »Ist es Bischof Odo? Soll ich ihn dir holen?«

Sie nickte. »Woher weißt du …?«

»Das erkläre ich dir ein andermal. Es wird einen Tag dauern, Aliesa.« Oder zwei. »Versprich mir, daß du so lange durchhältst.«

Der Anflug eines Lächelns erschien in ihren Mundwinkeln, doch im nächsten Moment verzerrte sich ihr Gesicht, ihre Nägel krallten sich in seinen Handrücken, und sie gab ein schwaches Wimmern von sich. Cædmon sah erschrocken zu seiner Mutter auf, die näher trat und ihre ineinander verschränkten Hände energisch trennte. »Du mußt jetzt gehen.«

Unwillig ließ er sich zur Tür schieben, blieb stehen und sah noch einmal zum Bett zurück.

»Was ist es?« fragte er Marie wispernd.

»Was soll es schon sein? Wehen natürlich.«

»Aber sie sagt, das Kind sei tot.«

»Deswegen muß es trotzdem heraus, oder? Es ist vermutlich schon seit Tagen tot, und ihr Körper versucht, es abzustoßen. Aber …«

»Aber?«

»Bei allen Heiligen, Cædmon, geh endlich«, zischte sie beinah tonlos. »Verstehst du nicht, daß es nicht schicklich ist, mit dir darüber zu reden?«

Sie legte die Hand auf seine Schulter und wollte ihn hinausschieben, aber er schüttelte die Hand ab.

»Das ist mir gleich. Sag es mir!«

Seine Mutter verdrehte ungeduldig die Augen, gab aber nach und erklärte flüsternd: »Es kommt mit den Füßen zuerst. Der Kopf ist steckengeblieben. Darum wird sie verbluten. Wenn ich versuche, es herauszuziehen, wird der Kopf abreißen, in ihrem Leib verfaulen und sie vergiften. Ist deine Neugier damit befriedigt?«

Er starrte sie an, zutiefst entsetzt. Für einen Moment haßte er seine Mutter für die kühle Nüchternheit, mit der sie ihm diese grauenhaften Tatsachen darlegte, haßte vor allem sein totes Kind für die tierhafte, sinnlose Grausamkeit, mit der es seine Mutter tötete. Dann wandte er sich ab, floh die Treppe hinab, aus der Halle und in den nächtlichen Hof hinaus.

Als er den halben Weg zwischen dem Hauptgebäude und dem Tor zurückgelegt hatte, blieb er stehen, atmete die kalte, belebende Nachtluft in tiefen Zügen und dachte nach, schnell und präzise. In seinem Kopf schien eine gleißend helle Fackel zu lodern, und er wußte genau, was er zu tun hatte.

Mit langen, entschlossenen Schritten ging er zur Kapelle.

Im Innern des kleinen Gotteshauses war es wie immer dunkler aus draußen. Cædmon ging auf die wenigen Kerzen am Altar zu, entdeckte die knieende Gestalt davor und trat zu ihr.

»Lucien …«

»Verschwinde. Laß mich allein.«

»Meine Mutter hat mir Nachricht geschickt.«

Luciens Kopf fuhr zu ihm herum. Ohne die geringste Mühe kam er auf die Füße. »Was?« fragte er tonlos.

»Deine Schwester hat einen Wunsch geäußert. Sie bittet dich, nach Dover zu reiten und Odo herzuholen.«

»Bischof Odo? Ich verstehe nicht.«

»Es scheint, er ist ihr Beichtvater. Und sie wünscht …«

Luciens gesunder Arm hing ebenso kraftlos herab wie der verstümmelte. Seine bleichen Lippen bewegten sich tonlos, ehe er fragte: »Stirbt sie?« Seine Stimme klang heiser.

Cædmon sah in die graugrünen Augen, die es ihm immer so unmöglich machten, die Feindseligkeit dieses Mannes zu erwidern, und einen Moment war er nicht sicher, ob er es fertigbringen würde, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Er wollte Luciens Schmerz nicht vermehren, und vor allem wollte er ihn nicht fortschicken, wo doch alles dafür sprach, daß seine Schwester nicht mehr leben würde, wenn er zurückkam. Aber es gab keine andere Möglichkeit. Lucien mußte aus dem Wege sein, ehe Cædmon seinen Plan angehen konnte. Und mit jedem Herzschlag verrann kostbare Zeit.

Lucien senkte für einen Moment den Blick. »Cædmon, ich weiß, ich habe kein Recht, dich um etwas zu bitten, und du hast keinen Grund, mir einen Dienst zu erweisen, aber würdest du für mich nach Dover reiten? Ich muß in ihrer Nähe bleiben.«

»Du hast durchaus ein Recht, mich zu bitten, und ich würde dir gern einen Dienst erweisen, denn du hast letzten Winter erst mich und dann meine Schwester geschont, aber ich kann nicht. Der König will morgen früh nach London und hat mich angewiesen, ihn zu begleiten.«

»Dann muß ich einen Boten schicken.«

Cædmon schüttelte seufzend den Kopf. »Du weißt, wie ungern Odo Dover verläßt. Er würde auf keinen Boten hören. Es sei denn, wir wecken den König und bitten ihn …«

Lucien schnaubte unwillkürlich. »Bist du noch zu retten?« Er wandte sich ab und fuhr sich kurz mit der Hand über die Stirn. »Nein, du hast recht. Ich muß selbst gehen.« Aber er rührte sich nicht.

Cædmon spürte einen Hauch von Erleichterung, der ihm nicht den geringsten Trost brachte. »Je eher du aufbrichst, um so besser die Chancen, daß sie noch lebt, wenn du Odo herbringst«, riet er ohne allen Nachdruck.

Lucien nickte wortlos und ging zur Tür.

Cædmon sank vor dem Altar auf die Knie und betete, wie er selten in seinem Leben gebetet hatte. Er faltete die Hände und kniff die Augen zu, so wie er es als kleiner Junge getan hatte. Als wäre er Gott näher, wenn er die Welt aussperrte. Ich werde keine Gelübde ablegen, die ich brechen müßte, darum gelobe ich nicht, sie aufzugeben, wenn du sie leben läßt. Aber ich schwöre, daß ich die erbärmliche Holzbaracke von St. Wulfstan einreißen lasse und dir in Helmsby eine steinerne Kirche baue, sobald wir uns von dieser Mißernte erholt haben. Ein wahres Gotteshaus zu deinen Ehren, und wenn es für den Rest meiner Tage jeden Penny verschlingt, den ich verdiene. Nur, laß sie leben. Laß sie uns noch ein bißchen. Ihrem Bruder, ihrem Mann und mir …

Als er den dumpfen Hufschlag von Luciens Pferd im Hof hörte, stand er auf, eilte aus der Kapelle und begab sich selbst zum Pferdestall. Der verschlafene Knecht, der Luciens wackeren, ausdauernden Grauschimmel gesattelt hatte, lauschte mit kaum verhohlenem Unwillen, als auch Cædmon nach seinem Pferd verlangte, führte aber wenig später Widsith in den nächtlichen Hof hinaus.

»Was ist denn geschehen, Thane? Sind die Dänen gekommen?« fragte der junge Kerl und unterdrückte ein Gähnen.

Cædmon schüttelte den Kopf, schwang sich in den Sattel und warf dem Stallknecht einen Farthing zu. »Ich bin bald zurück. Vergiß, wen ich mitbringe, hast du verstanden?«

»Natürlich, Thane.«

 

Er fand das Haus ohne Mühe, denn inzwischen kannte er sich auch bei Dunkelheit in Winchester aus. Der Mond war noch nicht viel mehr als eine Fingernagelsichel, aber keine Wolke trübte den Himmel – Tausende und Abertausende von Sternen funkelten und tauchten die Gassen in ihren matten, kalten Glanz.

Er glitt zu Boden, führte Widsith am Zügel bis zur breiten Tür des hölzernen Hauses und hämmerte.

Es dauerte nicht lange, bis eine junge Männerstimme von drinnen in einer fremden Sprache eine Frage stellte.

Cædmon antwortete auf Normannisch: »Ich bin Cædmon of Helmsby.« Der Riegel rasselte, und das Tor öffnete sich einen Spalt. Im Schein einer kleinen Öllampe erahnte Cædmon ein junges, von langen Schläfenlocken umrahmtes Gesicht mit einem kurzen Vollbart.

»Was wünscht Ihr?«

»Ist dies das Haus von Levi, dem Juden?«

Der junge Mann nickte wortlos. Argwohn und Neugier rangen offenbar miteinander, boten einen beinah komischen Widerstreit auf seinem Gesicht.

»Und hat nicht Levi einen Sohn, der kürzlich hergekommen ist, der ein Heiler ist?«

»Ihr meint Malachias ben Levi, Thane.«

»Ihr wißt, wer ich bin?« fragte er verblüfft.

»So wie Ihr wißt, wer wir sind.«

Cædmon nickte und rieb sich nervös das Kinn an der Schulter. »Es ist sehr spät, und sicher schläft das ganze Haus schon. Aber ich wäre sehr dankbar, wenn ich diesen Malachias ben Levi sprechen könnte.«

Der junge Mann trat immer noch nicht von der Tür zurück und hatte sie nur ein Stückchen weiter geöffnet. Cædmon erkannte, daß er ein dunkles, weites Gewand trug, das fast bis zu den Schuhen herabreichte. Ein fremdartiger, aber nicht unangenehmer Geruch strömte aus dem Haus, nach Kerzenwachs und Kräutern aus fernen Ländern.

»Was soll ich ihm sagen, worum es geht?«

»Um eine Niederkunft. Eine der Damen der Königin, sie …«

»Ja?«

Cædmon atmete tief durch. »Könnt Ihr mich nicht einfach zu ihm führen? Sie verblutet, während wir hier stehen und reden.«

Die Tür öffnete sich weit, eine knochige Hand legte sich leicht auf seinen Arm und zog ihn in einen unmöblierten Vorraum. »Wie weit ist die Schwangerschaft?«

»Fünf Monate vielleicht.«

»Dann wird das Kind nicht leben.«

»Es ist schon tot.«

»Und haben die Wehen eingesetzt?«

»Ja.«

»Wann?«

»Ich weiß es nicht. Ich fand sie heute nachmittag, und sie litt Schmerzen und hatte schon viel Blut verloren. Wenn Ihr Malachias ben Levi seid, dann bitte ich Euch, kommt mit mir und helft ihr, um der Liebe Christi willen … ähm, Entschuldigung, ich meinte …« Er hatte keine Ahnung, was er meinte.

Der Argwohn war aus den dunklen Augen gewichen, und für einen Moment schimmerte ein Lächeln darin, doch es verschwand sofort wieder. Der junge Arzt neigte ein klein wenig den Kopf und fragte: »Ist sie Eure Frau?«

Cædmon schüttelte den Kopf. »Die meines Freundes, der derzeit auf dem Kontinent ist. Ihr Bruder ist ebenfalls fort, darum blieb nur ich, um Euch zu holen.«

Malachias verschränkte die Hände, legte die Daumen unters Kinn und dachte nach. Er schien unentschlossen. Schließlich sagte er leise: »Ich würde gerne versuchen, der Frau Eures Freundes zu helfen, aber ich fürchte, ich kann nicht.«

Cædmon starrte ihn entsetzt an. »Warum nicht?«

»Euer König hat uns in dieses Land geholt, weil er unser Geld will, aber Euch ist sicher nicht entgangen, daß wir weder Normannen noch Angelsachsen besonders willkommen sind. Mein Vater ist dabei, in dieser Stadt eine Handelsniederlassung aufzubauen, und viele Normannen schulden ihm Geld. Vielleicht gehört der Mann dieser Frau auch dazu? Und wenn sie nun stürbe, würde man nicht mir die Schuld geben? Denkt Ihr nicht, es wäre vielen ein willkommener Anlaß, uns mitsamt den Schuldscheinen davonzujagen? Es tut mir leid, Thane. Das Mißtrauen hier ist zu groß. Ich muß zuerst an das Wohl meiner Familie denken.«

»Ja, ich verstehe Eure Bedenken. Aber ohne Eure Hilfe stirbt sie auf jeden Fall. Meine Mutter, die auch heilkundig ist, hat es gesagt, und das würde ich vor jedem bezeugen, der Euch einen Vorwurf machen will.« »Die Frage ist nur, ob irgendwer innehalten würde, um Euch anzuhören. Ich müßte mich mit meinem Vater beraten …«

»Dazu bleibt keine Zeit. Vertraut mir, Malachias ben Levi, ich bitte Euch. Und seht es einmal von der anderen Seite: Der Mann dieser Frau ist der Sohn des engsten Vertrauten des Königs. Seine Familie ist sehr einflußreich. Sollte es Euch gelingen, seine Frau zu retten, werdet Ihr und Euer Volk einen sehr mächtigen Verbündeten in diesem Land haben. Er ist ein guter Mann, glaubt mir, er vergißt niemals, wer ihm einen Dienst erwiesen hat.«

Malachias nickte. »Auf jeden Fall ist er ein glücklicher Mann, daß er einen Freund wie Euch hat. Laßt uns gehen. Gott, mein Vater wird mir den Kopf abreißen …«

 

Als Marie die Tür öffnete und sah, wen Cædmon mitgebracht hatte, legte sie die Hände auf die Pfosten. »Nein.«

»Mutter …«

»Wie kannst du es wagen, einen von ihnen hierherzubringen, Cædmon? Hast du ihr noch nicht genug angetan? Reicht es nicht, daß sie deinetwegen in Sünde stirbt? Sollen auch noch unreine Hände sie berühren, an denen das Blut unseres Herrn Jesu Christi klebt?«

Cædmon fürchtete, Malachias werde auf dem Absatz kehrtmachen, und wandte sich zu ihm um. Der junge Arzt stand reglos mit verschränkten Armen im dämmrigen Korridor, das Kinn trotzig angehoben, und die dunklen Augen funkelten. Cædmon verstand nur zu gut, was er empfand, war er doch selbst ungezählte Male das Objekt dieser ganz speziellen Art normannischer Verächtlichkeit gewesen. »Ich hoffe, Ihr akzeptiert meine Entschuldigung, Malachias ben Levi«, sagte er verlegen.

Malachias nickte knapp.

Cædmon drehte sich zu seiner Mutter um, die immer noch versuchte, mit ihrer zierlichen Gestalt die Tür zu versperren. »Bitte, laß ihn eintreten.«

»Wenn du diesen Mann über diese Schwelle läßt, werde ich die Königin wecken und die Wache alarmieren.«

»Tu das. Ich bin sicher, die Königin wird meinen Schritt gutheißen, sie liebt Aliesa sehr. Und ich weiß, daß sie Levi den Juden schätzt, es ist noch keine zwei Wochen her, daß sie ihn hier empfangen hat. Und jetzt sei so gut …«

Ein schwacher Laut ertönte hinter dem Bettvorhang, halb kraftloser Schrei, halb Schluchzen. »Cædmon …«

Seine Brust zog sich zusammen, es fühlte sich tatsächlich so an, als zerreiße es ihm das Herz, und er tat, was er nie für möglich gehalten hätte: Er legte die Hand um den Oberarm seiner Mutter, drängte sie behutsam, aber bestimmt aus dem Türrahmen und trat über die Schwelle. »Kommt, Malachias, ich bitte Euch.«

Der Arzt folgte ihm wortlos zum Bett. Cædmon ergriff Aliesas Hand. Sie war eiskalt. »Ich habe jemanden hergebracht, der dir vielleicht helfen kann.«

Sie nickte, kniff die Augen zu und weinte stumm.

Malachias berührte ihn kurz an der Schulter. »Macht Platz, Thane. Am besten, Ihr wartet draußen.«

Aliesa ließ Cædmons Hand los, schlug die Augen wieder auf und sah in das fremde Gesicht mit den seltsamen Schläfenlocken. Dann sagte sie zu Cædmon: »Geh nur.«

Zögernd trat Cædmon vom Bett zurück. Aus dem Augenwinkel sah er, daß Malachias die Decke zurückschlug und sich über Aliesa beugte. Er stellte ihr eine Frage, so leise, daß Cædmon ihn nicht verstand. Er hörte Aliesa wieder stöhnen und vergrub das Gesicht in den Händen.

»Besser, du verschwindest«, raunte seine Mutter ihm höhnisch ins Ohr. »Damit du sie nicht schreien hören mußt, wenn dieser Barbar sie aufschneidet.«

Cædmon ließ die Hände sinken und starrte sie fassungslos an.

»Das hast du nicht gewußt? Nun, vielleicht hättest du mich fragen sollen, ehe du ihn herbrachtest. Denn das ist es, was sie mit den Frauen tun, du ahnungsloser, liebeskranker Schwachkopf!«

Cædmon fühlte eine elende Schwäche in den Beinen und fürchtete einen Moment, er werde in Ohnmacht fallen.

Dann richtete Malachias seinen langen Oberkörper auf und drehte sich zu ihnen um. »Nein, Madame, ich glaube, das wird in diesem Fall nicht nötig sein. Aber ich brauche Hilfe. Wollt Ihr es tun und vielleicht noch etwas lernen? Oder seid Ihr zu stolz dazu? In dem Fall bräuchte ich Euch hier, Thane.«

Marie de Falaise bedachte Malachias mit einem Blick, von dem man wahrhaft zu Stein erstarren konnte, und schob ihre Ärmel über die Ellbogen hoch. »Du bist ja immer noch hier, Cædmon …«

Das zweite Königreich
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