Salby, November 1069
»Oh, heiliger Oswald, steh uns bei, sie kommen! Sie kommen!« schrie eine schrille, junge Frauenstimme in Panik.
Die Strahlen der fahlen Novembersonne fielen schräg in den schlammigen Innenhof und spiegelten sich gleißend in den großen Pfützen. Der kurze Nachmittag ging zur Neige.
Vielleicht zwei Dutzend Reiter mit Fackeln preschten durch das Tor in der Hecke und ritten die beiden Männer, die es bewacht hatten, achtlos nieder. Man konnte sehen, daß ihr Manöver nach einem exakten Plan ablief: Zwei Reiter blieben am Tor und versperrten den Fluchtweg. Die übrigen schwärmten aus und warfen ihre Fackeln auf die Strohdächer der Vorratshäuser. Dann saßen sie ab, und während die einen das Vieh aus den Ställen trieben, um es abzuschlachten, stürmten die restlichen in die Halle.
»Sieh nicht hin, Eadwig«, wisperte Hyld tonlos. »Du auch nicht, Leif. Schließt die Augen.«
Aber die beiden Jungen starrten gebannt zwischen den Ritzen ihres Verstecks hindurch nach draußen, während Irmingard die Hände vor die Augen preßte. »Gott, mir ist schlecht. Mir ist so schlecht«, wimmerte sie.
»Schsch.« Hyld legte ihr die Hand auf die eiskalte, feuchte Stirn. »Ganz ruhig. Tief durchatmen. Du mußt dich zusammennehmen, bitte.«
Ihre junge Schwägerin nickte matt und versuchte, in gleichmäßigen, tiefen Zügen zu atmen.
Der kleine Olaf hatte das Gesicht an der Brust seiner Mutter vergraben und zitterte. Er sah nicht, was draußen passierte, und er verstand nicht, was vorging, aber seit Tagen hatte er die zunehmende Angst der Erwachsenen gespürt, und sie erfüllte ihn mit maßlosem Schrecken.
Hyld strich ihm sanft über den Kopf und verfluchte sich, daß sie mit den Kindern nicht nach York zurückgekehrt war, sobald die ersten Gerüchte von den normannischen Todesreitern sie erreicht hatten. Aber die Geschichten hatten so phantastisch geklungen, daß sie sie anfangs nicht hatte glauben können. Wie die Schauermärchen über Waldgeister und Sumpfhexen. Außerdem hatte sie Erik versprochen, daß sie hierher zurückkehren und auf ihn warten würden, bis die Dänen abzogen oder der dänische Prinz ihn aus seinen Diensten entließ. Erik hatte sie schwören lassen, daß sie nicht allein nach York zurückkehren würde, er hielt es für zu gefährlich. Aber natürlich hatte er nicht ahnen können, daß dieser Teufel von einem normannischen König seine Soldaten ausschicken würde, um das Volk von Northumbria heimzusuchen. Und als Hyld erkannte, daß all die Geschichten, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen, keine Märchen waren, war es schon zu spät. Wäre sie aufgebrochen, wäre sie ihnen in die Arme gelaufen.
Draußen vor ihrem Versteck schrien Mensch und Tier in Todesangst. Die wenigen Männer, die nicht in die Wälder geflüchtet waren, wurden genau wie die Kühe abgeschlachtet, egal ob Housecarl oder Sklave. Frauen riefen Männernamen oder schrien vor Angst und Schmerz, während die normannischen Soldaten sie schändeten. Keine zehn Schritte von ihnen entfernt holte einer eine fliehende Magd ein, packte sie im Nacken, schleuderte sie in den Schlamm und fiel über sie her. Hyld schloß die Augen und hörte eine ruhige Stimme auf Normannisch sagen: »Das können nicht alle sein. Seht in dem Rattenloch nach.«
Schritte näherten sich. Hylds Herz setzte einen Schlag aus, und für einen Moment glaubte sie, sie werde vor Angst sterben. Irmingard saß stockstill neben ihr, die Augen unnatürlich geweitet, aber ihre Miene trotzig, und plötzlich erinnerte sie Hyld sehr an Erik.
Die Holzbretter der Wand erzitterten dröhnend, als die Soldaten dagegentraten, um festzustellen, ob eines oder mehrere lose waren. Sie untersuchten sie systematisch, und so fanden sie das Schlupfloch schnell: Hyld hatte schon vor zwei Tagen mit Leif und Eadwig und einigen anderen Bewohnern der Halle, die sich nicht auf ihr Glück oder die Gnade der Normannen verlassen wollten, ein paar der unteren Wandbretter gleich neben den Eingangsstufen zur Halle gelöst. Wenn man sie herausnahm, entstand ein schmaler Durchlaß in den niedrigen Hohlraum unter dem Holzfußboden der Halle. Nicht viele hatten es fertiggebracht hineinzukriechen, denn hier unten wimmelte es von Ratten und Mäusen und anderem Ungeziefer, das von den Essensresten lebte, die durch die Ritzen zwischen den Bodendielen herabfielen. Wenn man die Bretter von innen wieder einpaßte, war es beinah völlig finster, und in der Dunkelheit wurden die Ratten mutig und wagten sich dicht an die Eindringlinge heran, um sie zu beschnuppern. Man hörte ihr Fiepen in unmittelbarer Nähe, manchmal spürte man auch die federleichte Berührung ihres rauhen Fells, das Zittern ihrer Barthaare. Hyld ekelte sich. Sie verabscheute Ratten, aber sie waren eindeutig das kleinere Übel.
Im Schutz des Gepolters der Tritte zischte sie: »Ihr bleibt hier drin. Ich gehe allein raus.« Sie reichte Olaf zu Irmingard hinüber. Der kleine Junge streckte flehend die Hände nach seiner Mutter aus, aber Hyld schüttelte den Kopf und legte ihm warnend einen Finger auf die Lippen.
Unter den Tritten der Normannen kippten die losen Bretter nach außen weg. Schwaches Licht strömte herein, und die Ratten huschten davon.
»Kommt raus«, befahl eine Stimme auf englisch mit starkem Akzent, »oder wir kippen über euren Köpfen einen Kessel mit siedendem Öl aus!«
Das hat er sicher auswendig gelernt, fuhr es Hyld durch den Kopf. Sie küßte Olaf die Fingerspitzen und murmelte: »Ganz ruhig. Alles wird gut, mein Engel. Hab keine Angst.« Dann rutschte sie langsam auf die Luke zu und arbeitete sich vor ins Freie.
»Guck an, eine angelsächsische Ratte«, brummte einer der Normannen und trat wieder gegen die Bretterwand. »Die anderen auch! Los, los, kommt schon!«
Nichts rührte sich.
Er tauschte ein Grinsen mit seinem Kameraden, bemühte sich auf Hände und Knie hinab und spähte in die dunkle Öffnung. Dann streckte er die Hand aus, und im nächsten Moment ertönte ein halb unterdrückter Schrei. Hyld erkannte Irmingards Stimme.
»Ich glaub’, ich hab’ einen Fuß«, verkündete der Normanne triumphierend und zog.
Hyld überkam ein rasender Zorn, weil diese verfluchten Bastarde sich über sie lustig machten, ehe sie sie abschlachteten. Sie zückte ihren Dolch und stürzte sich auf den gekrümmten Rücken vor der Luke.
Der zweite Normanne stieß einen warnenden Ruf aus, und ihr Opfer fuhr blitzschnell herum und fing ihre herabstoßende Faust mit der Waffe mühelos ab. »Was haben wir denn hier? Ein angelsächsisches Knäblein mit einem Speisemesser?« Er sprang auf die Füße, drehte ihr den Arm auf den Rücken, nahm ihr den Dolch ab und setzte ihn ihr an die Kehle. »Vielleicht sollten wir ihm die vorwitzige Nase damit abschneiden, he?«
Hyld biß sich auf die Zunge.
»Justin, ich sagte, laßt die Hände von den Kindern«, mahnte die ruhige normannische Stimme, die sie vorhin schon einmal gehört hatte. Hyld wandte den Kopf. Der Offizier war als einziger nicht abgesessen. Er war ein gutaussehender junger Mann mit schwarzen Haaren und graugrünen Augen, dessen linker Arm kurz über dem Ellbogen endete, aber er zügelte sein feuriges Schlachtroß mühelos mit einer Hand.
Der Soldat nickte ergeben, ließ das Messer sinken und wollte sie wegstoßen, als seine Hand ihre Brust streifte. »Augenblick mal …«
Er packte sie am Arm, riß ihr die Kapuze herunter und fuhr ihr mit dem Ärmel übers Gesicht. Dann lachte er schallend. »Da hol mich doch der Teufel, das Knäblein ist ein Weibsstück!« Roh zerrte er an ihren Haaren und brachte sie auseinander, so daß sie ihr lose bis auf die Hüften fielen. »Das wäre aber doch wirklich schade gewesen, wenn du mir durch die Lappen gegangen wärst, was, Engel …«
Hyld riß ihren Kopf weg und blickte zu dem Offizier im Sattel auf. Als er ihr Gesicht sah, weiteten seine Augen sich entsetzt.
»Verflucht sollt ihr alle sein«, sagte sie in ihrem reinsten Normannisch, mit aller Ruhe, die sie aufbringen konnte. »Verflucht sollt ihr sein! Und wenn du eine Schwester hast, dann soll ihr das gleiche passieren, was mir heute hier passiert.«
Die grünen Augen starrten sie immer noch unverwandt an. »Wer bist du?«
»Was kümmert es dich?«
»Sag mir deinen Namen!«
»Ich bin Hyld of Helmsby.«
Sein Mund verzog sich spöttisch nach oben, er schien eigentümlich erleichtert. »Dann hat es dich weit nach Norden verschlagen, Hyld of Helmsby.« Er nickte dem Soldaten knapp zu. »Laß sie los. Sie und alle, die zu ihr gehören, können gehen.«
Wütend stieß der Soldat sie weg und knurrte. »Dann sieh zu, daß du Land gewinnst, du Luder.«
Hyld starrte den einarmigen Offizier ungläubig an, aber sie faßte sich schnell. Sie gedachte nicht, ihr Glück zu hinterfragen. Hastig hockte sie sich vor die Luke. »Kommt raus«, sagte sie leise. »Uns geschieht nichts.«
Leif kam als erster, gefolgt von Irmingard, Eadwig bildete mit Olaf die Nachhut. Sie hielten die Köpfe gesenkt und blickten sich so wenig wie möglich um, wollten die Toten nicht sehen, die zusammengekrümmt im Schlamm lagen, oder die abgeschlachteten Schafe und Ziegen und Kühe und die weinenden Frauen. Hyld sah sie alle. Kein noch so winziges Detail blieb ihr erspart. Rauchwolken quollen von den brennenden Vorratshäusern auf, die Luft war von einem durchdringenden, bitteren Brandgeruch erfüllt, und heiße Asche regnete herab. Sie hob Olaf hoch, der das Gesicht an ihren Hals preßte und leise weinte.
Sie wandte sich noch einmal zu dem Offizier um, denn auf einmal wollte sie eine Erklärung für all dies. Es schien ihr plötzlich furchtbar wichtig. Doch der Reiter war verschwunden.
Sie führte ihre kleine Reisegesellschaft zum Tor in der brennenden Hecke und wandte sich nach Süden.
»Hyld«, sagte Leif nach wenigen Schritten. »York liegt in entgegengesetzter Richtung.«
Sie hielt nicht an. »Wir gehen nicht nach York, Leif.«
»Warum nicht?«
»Weil sie die Ernte verbrennen und das Vieh abschlachten. In York wird es eine Hungersnot geben. Im ganzen Norden.«
»Aber wie soll Erik uns finden, wenn wir nicht heimgehen?« wandte Irmingard angstvoll ein. Sie war furchtbar verstört. Ihre Augen wirkten fiebrig, und zwei kleine rote Punkte brannten auf den Wangen in ihrem bleichen Gesicht.
Hyld lächelte ihr aufmunternd zu. »Er wird uns finden, sei unbesorgt.« »Gehen wir nach Helmsby?« fragte Eadwig hoffnungsvoll.
»Ja.«
Aber was sie tun sollte, damit sie nicht alle verhungerten, lange bevor sie nach Helmsby kamen, das wußte Hyld beim besten Willen nicht.