Laigle, Oktober 1077

»Gott, wie ich diesen Edgar Ætheling verabscheue«, stieß Eadwig angewidert hervor. »Er ist schlüpfrig wie ein Aal und schlau wie ein Fuchs und verschlagen wie eine Katze und …«

»Katzen sind nicht verschlagen«, protestierte Henry. »Sie sind stolz und unvergleichliche Jäger. Ich mag Katzen gern. Außerdem ist der englische Prinz Roberts Freund, und du solltest solche Dinge nicht über ihn sagen.«

Eadwig sah mit einem reumütigen Lächeln auf den Jungen hinab.

»Henry hat recht«, bemerkte Cædmon. »Du solltest achtgeben, was du redest, Eadwig. Hier haben die Wände Ohren.«

»Aber wir stehen ja glücklicherweise im Freien«, murmelte sein Bruder und hob die Hand, um die langen Haare hinter sein linkes Ohr zurückzustreichen, doch er griff ins Leere. Unbewußt fuhr er sich über den neuerdings kurzen Schopf. Vor zwei Tagen hatte er sich das Haar nach normannischer Sitte schneiden lassen. Es war der Preis für eine verlorene Wette gewesen, die er im Vollrausch mit dem jungen Montgomery eingegangen war. Cædmon hatte keine Ahnung, was der Gegenstand dieser Wette gewesen war, wollte es auch gar nicht wissen. Das einzige, was er mit Sicherheit wußte, war, daß sie alle Langeweile hatten, immer übellauniger wurden und die Neigung, Dummheiten zu begehen, mit jedem Tag stieg. Das galt für ihn ebenso wie für seinen Bruder, die Prinzen und ihr Gefolge. Er verschränkte seufzend die Arme und lehnte sich mit dem Rücken an die Stallwand im Hof der unscheinbaren kleinen Burg.

»Gräm dich nicht, Eadwig. Sie wachsen ja wieder.«

»Hoffentlich bald«, sagte sein Bruder mit einem so unglücklichen Seufzer, daß Leif und Rufus lachten.

»Jedenfalls hast du völlig recht, was Prinz Edgar angeht«, meinte Rufus. »Ich sage, er ist eine Natter, und mir ist gleich, wer mich hört. Immerzu lächelt er.«

Leif sah fragend zu Cædmon. »Mir ist aufgefallen, daß er in letzter Zeit ständig deine Nähe sucht. Was will er von dir?«

»Geld«, erwiderte Cædmon knapp.

Die anderen nickten wortlos. Nur Henry fragte: »Wofür?«

Es herrschte ein kurzes Schweigen, ehe sein Bruder ihm leicht die Hand auf die Schulter legte und erklärte: »Für Robert, Henry. Unser Bruder hat Schulden.«

»Oh. Warum? Er hält mehr Land als du und ich zusammen.«

Sie sahen ihn verblüfft an. Für einen neunjährigen Jungen wußte Henry manchmal die erstaunlichsten Dinge. Vermutlich liegt es daran, daß er ein so ausgezeichneter Zuhörer und Beobachter ist und so still, daß viele dazu neigen, seine Anwesenheit zu ignorieren und einfach zu reden, als sei er gar nicht da, fuhr es Cædmon durch den Kopf. In dieser Hinsicht war Henry genau wie Guthric, der schon als Junge in Helmsby immer die bestgehüteten Geheimnisse gekannt hatte und diese Gabe heute als rechte Hand des mächtigen Erzbischofs äußerst nützlich fand. Rufus seufzte. »Um ehrlich zu sein, mir ist auch nicht so recht klar, wieso Robert Geldsorgen hat. Weißt du es, Cædmon?«

Er schüttelte den Kopf. »Edgar Ætheling beschränkt sich auf vielsagende Andeutungen.«

»Aber er ist hartnäckig«, bemerkte Rufus. »Womit versucht er dich zu ködern, he?«

Cædmon sah ihn eindringlich an. »Das braucht dich nicht zu kümmern. Aber ihr alle solltet euch vor ihm hüten. Das gilt vor allem für dich.«

Rufus hob unbehaglich die Schultern und gab vor, die Warnung nicht zu verstehen. »Oh, ich weiß, daß er mich verabscheut, weil er glaubt, mein Vater ziehe mich Robert vor.«

»Robert glaubt das auch«, murmelte Leif.

Es herrschte ein kurzes, unbehagliches Schweigen.

»Wenn wir doch nur endlich aus diesem elenden Drecksloch abziehen würden«, sagte Henry sehnsüchtig. »Ich wünschte, wir wären daheim in England.«

Cædmon empfand genauso.

Er hatte nichts dagegen gehabt, in Rouen zu sein, denn dort war Wulfnoth, dessen Gesellschaft ihm gutgetan hatte. Die Geduld, mit der Wulfnoth Godwinson sein Schicksal hinnahm und seine nun schon fast fünfundzwanzigjährige Geiselhaft ertrug, seine Selbstironie und die beinah heitere Gelassenheit waren ein Beispiel, das Cædmon beschämt und ebenso aufgerichtet hatte. Sie hatten die Laute gespielt, in Wulfnoths Büchern gelesen und geredet, und Cædmon hatte beinah körperlich gespürt, wie heilsam diese Freundschaft für ihn war. Doch als dann die Krise im Vexin eintrat, hatte der König ihn plötzlich vollkommen in Anspruch genommen, und sie alle waren ausgerückt und zogen nun seit Monaten von Burg zu Burg, um die Grenze zu sichern und zu verhindern, daß der französische König normannische Adlige auf seine Seite zog. Es war ein nasser, anstrengender, freudloser Sommer gewesen, und sie alle fragten sich, wie lange William dieses Katz-und-Maus-Spiel mit Philip noch fortsetzen wollte.

»Kommt, laßt uns zurückgehen, es fängt an zu regnen«, forderte Eadwig die anderen auf.

»Aber was wollen wir in der Halle?« fragte Rufus nörgelnd.

»Wir könnten Rätsel raten«, schlug Henry vor.

Die jungen Männer stöhnten vernehmlich.

»Weiß der Himmel, Henry, ich kenne niemanden, der so versessen auf Rätsel ist wie du«, bemerkte sein Bruder mißfällig.

»Richard war genauso«, bemerkte Leif und sah lächelnd auf den kleinen Prinzen hinab. »Du bist ihm in vieler Hinsicht ähnlich, weißt du.« Henry lächelte stolz. »Ist das wahr?«

»Bild dir nur nichts ein«, brummte Rufus. »Er meint, daß deine Nase genauso krumm ist und du ein ebenso erbärmlicher Reiter bist.«

Henry blickte gekränkt zu ihm auf. »Richard war kein schlechter Reiter!«

Cædmon bedachte den älteren Prinzen mit einem vorwurfsvollen Kopfschütteln. Er wußte, es war nicht Rufus’ Absicht gewesen, Richards Andenken zu beleidigen oder Henry zu verletzen, nur eine dieser typisch bissigen, gedankenlosen Bemerkungen, mit denen er ebenso freigiebig war wie sein Vater.

»Also was ist nun, Cædmon?« drängte Henry. »Weißt du nicht noch ein paar Rätsel, die wir noch nicht kennen?«

»Doch, wär’ schon möglich.«

Sie gingen auf die Halle zu, als eine Gruppe von vielleicht einem Dutzend Reitern in den Hof preschte.

»Dann stell mir eins. Bitte.«

Henry blickte im Gehen zu Cædmon auf, und so sah er nicht, daß er den Ankömmlingen fast vor die Hufe lief.

Eadwig packte ihn am Arm und riß ihn zurück. »Bist du blind, Tölpel, paß doch auf!«

Die Reitergruppe hielt an. Die jungen normannischen Ritter glitten aus den Sätteln, und der vordere trat gemächlichen Schrittes auf sie zu. Vor Eadwig blieb er stehen und stemmte die Hände in die Seiten. »Was habt Ihr gesagt?«

Der junge Engländer sah ihn verwirrt an. »Wie bitte?«

»›Bist du blind, Tölpel?‹ Hab ich recht gehört?«

Eadwig verstand und lächelte. »Oh, ich meinte nicht Euch, Montgomery.«

»Nein? Wen dann?«

Eadwig öffnete den Mund, aber er wollte ungern eingestehen, daß er seinen Prinzen einen Tölpel genannt hatte, denn das war genau die Form englischer Ungezwungenheit, die hier niemand verstand.

Der junge normannische Ritter nahm den Helm ab und reichte ihn mitsamt den Zügeln seines Pferdes einem herbeigeeilten Stallknecht. Auch die übrigen Pferde wurden weggeführt, und die Normannen scharten sich um Montgomery, der Eadwig mit verschränkten Armen den Weg versperrte.

»Also? Ich höre.«

Eadwig schüttelte achselzuckend den Kopf. »Ich hab Euch nichts zu sagen, Mann. Ich habe nicht zu Euch gesprochen, und ich habe auch keine Veranlassung, Euch zu beleidigen. Jetzt seid so gut und laßt mich vorbei.« Mit einer fast komischen Grimasse legte er die Hand auf den Hinterkopf. »Es regnet, und es ist ein gräßliches Gefühl, wenn der Regen einem in den Nacken fällt. Ich weiß nicht, wie ihr Normannen das aushaltet.«

»Wir sind eben nicht solche Weichlinge wie ihr Engländer«, erwiderte Montgomery prompt.

Eadwig stieß hörbar die Luft aus und trat beiseite, um den Normannen zu umrunden. Aber Montgomery glitt in dieselbe Richtung. »Erst werdet Ihr Euch entschuldigen. Dann dürft Ihr ins Trockene.«

»Was soll das werden, Montgomery?« fragte Cædmon ungehalten. »Er hat Euch nicht beleidigt.«

»Ach je.« Montgomery legte in gespielter Ergriffenheit die Hand aufs Herz. »Der furchtlose Thane springt für seinen kleinen Bruder in die Bresche.«

Eadwigs Hände hatten sich zu Fäusten geballt. Aber ehe er etwas sagen oder tun konnte, trat Rufus einen Schritt näher an ihn heran und warnte leise: »Ihr seid streitsüchtig und betrunken, Montgomery. Besser, Ihr verschwindet, ehe der König Euch so sieht. Schlaft Euren Rausch aus.«

Montgomery wagte nicht, dem Prinzen die Antwort zu geben, die ihm offenbar auf der Zunge lag, aber sein verächtlicher Gesichtsausdruck sagte genug.

Rufus legte Eadwig leicht die Hand auf den Arm. »Komm, laß uns gehen.«

Zögernd wandte Eadwig sich ab. Seine finstere Miene verriet, wie zornig er war, aber er beherrschte sich. Doch als er Montgomery den Rücken zuwandte, stellte einer der anderen Normannen ihm ein Bein, und er fiel hart auf die schlammige Erde. Noch ehe er wieder auf die Füße gekommen war, hatte der Normanne einen Dolch gezückt, und Leif riß Eadwig zurück und trat dem fremden Ritter die Waffe aus der Hand. Sogleich stürzten drei der Normannen sich auf ihn. Zwei hielten ihn an den Armen, der dritte schlug auf ihn ein, bis Eadwig ihn packte und mit einem gewaltigen Faustschlag zu Boden schickte. Vier von Henrys englischen Rittern kamen aus der Wachkammer am Tor, erfaßten die Lage auf einen Blick und stürzten sich mit Feuereifer ins Getümmel. Sie alle litten seit Wochen unter der Hochnäsigkeit von Roberts Anhängern ebenso wie unter der angespannten Lage und dem endlosen Warten auf die Schlacht, die niemals kam. So war ihnen diese kleine Ablenkung von Herzen willkommen.

Beinah beiläufig packte Cædmon einen der Normannen, der Eadwig von hinten in die Nieren getreten hatte, und schleuderte ihn mit Macht in die nächstbeste Schlammpfütze, ehe er sich mit jeder Hand einen seiner Prinzen schnappte und sie aus der Gefahrenzone zog. Mit einer Mischung aus Erstaunen und Entsetzen beobachteten sie, wie immer mehr Männer aus allen Richtungen herbeiströmten und mitmischten. Erbittert prügelten sich Roberts Ritter mit Rufus’ und Henrys; innerhalb kürzester Zeit war eine regelrechte Massenschlägerei im Gange.

Rufus kaute nervös an seinem Daumennagel und brummte: »Gott, wie gern würde ich mitmachen.« Er warf Cædmon einen Blick zu und hob grinsend die Schultern. »Was schaust du so mißbilligend? Laß sie doch. Wird ihnen guttun, sich mal ein bißchen Luft zu machen.«

»Das ist keine harmlose Rauferei, Rufus«, widersprach Cædmon. »Dafür steckt zuviel dahinter.«

»Ach komm. Du läßt dich doch normalerweise auch nicht zweimal bitten.«

Cædmon verzichtete auf eine Antwort. Als er sah, wie Montgomery und einer von Rufus’ Rittern die Schwerter zogen und kreuzten, wandte er sich ab. »Kommt mit.«

»Aber Cædmon …«, protestierte Rufus.

»Bitte, Rufus, tu nur dieses eine Mal, was ich sage. Das hier ist kein Spaß.«

Rufus zuckte ungeduldig mit den Schultern, folgte aber Henrys Beispiel und begleitete Cædmon zur Halle. Auf der obersten Stufe vor dem Eingang blieben die beiden Prinzen stehen und verfolgten weiter das muntere Treiben, an dem inzwischen wenigstens dreißig junge Männer beteiligt waren.

Cædmon hastete weiter in die Haupthalle, wo der König mit seinem ältesten Sohn und dem Befehlshaber der Burg zusammensaß.

»… müssen einen Teil der Ernte beschlagnahmen, wenn Ihr hier überwintern wollt, Sire«, sagte der normannische Adlige ernst. »Und das bedeutet …«

»Ich bedaure, daß ich Euch störe, Sire, aber ich bitte Euch, kommt mit nach draußen«, fiel Cædmon ihm unhöflich ins Wort.

Die drei Männer sahen stirnrunzelnd auf.

»Was fällt Euch ein, Cædmon?« fragte Prinz Robert entrüstet.

Cædmon ignorierte ihn einfach – eine weitere, unverzeihliche Unhöflichkeit – und sah dem König in die Augen.

William erhob sich ohne ein Wort. Mit langen Schritten ging er neben Cædmon her, und erst als sie an die Tür kamen, raunte er: »Ich hoffe um Euretwillen, daß es wichtig ist, Thane.«

Cædmon antwortete nicht, sondern führte ihn, so schnell der König es zuließ, in den Innenhof.

William blieb neben seinen jüngeren Söhnen am Eingang stehen und nahm das wilde Durcheinander in Augenschein. Drei, vier Männer lagen schlammverschmiert und reglos im strömenden Regen. Ein Karren mit Mehlsäcken war umgekippt und hatte seine Ladung in den Hof ergossen; einige der Säcke waren aufgeplatzt, und ihr kostbarer Inhalt lief in kleinen, milchigen Rinnsalen aufs Tor zu. Die Soldaten der Wache hatten ihre Posten verlassen, standen mit verschränkten Armen am Rande des Geschehens und sahen grinsend zu.

Der König schritt die Hälfte der Stufen hinab und donnerte: »Das ist genug!«

Er hätte ebensogut flüstern können. Nur diejenigen, die direkt unterhalb der Treppe balgten, hörten ihn, ließen augenblicklich voneinander ab und standen dann mit hängenden Schultern und betretener Miene da und wagten nicht, ihn anzusehen. Alle anderen prügelten sich weiter, hier und da hatten sie auch die Waffen gezogen.

William ging den Rest der Treppe hinab, ließ den Blick über das wilde Getümmel schweifen, packte schließlich einen der emsigsten Teilnehmer mit seinen gewaltigen Pranken und riß ihn zurück. Der so rüde Gestörte fuhr mit erhobenen Fäusten wütend herum, und weil der König keinen Zoll wich, fand er sich praktisch Kinn an Kinn mit ihm. Der volle, rote Mund unterhalb des Nasenschutzes verzog sich zu einer Grimasse des Schreckens, dann sank der Raufbold auf die Knie, senkte den Kopf und rührte sich nicht mehr. William stand ebenso reglos vor ihm. Dieser eigentümliche Ruhepol blieb nicht lange unbemerkt. Nach und nach wurden alle, die in die Schlägerei verwickelt waren, darauf aufmerksam und stellten ihr wüstes Balgen ein. Manche standen vornübergebeugt und keuchten. Andere tupften sich mit dem Ärmel über blutende Gesichter oder drückten die Hand auf ihre Blessuren. Und alle sahen kleinlaut auf ihre Fußspitzen.

Schließlich kehrte Ruhe ein, eine so vollkommene Stille, daß man den Regen plätschern hörte.

»Wer ist der Offizier der Wache?« fragte William leise.

»Hamo fitz Hugh, Sire«, antwortete Rufus.

»Hol ihn her«, befahl der König ohne aufzusehen und sagte dann zu dem Mann, der vor ihm kniete: »Laßt mich Euer Gesicht sehen.«

Der Angesprochene riß sich den Helm vom Kopf.

William sah unbewegt auf ihn hinab. »Guillaume fitz Osbern?«

Cædmon zuckte fast unmerklich zusammen und starrte den fremden Ritter an. Kein Zweifel. Die Ähnlichkeit mit Etienne war unübersehbar. Dieser Mann war der älteste Sohn des einstigen Seneschalls.

»Ja, Sire. Ich … ich …« Fitz Osbern schluckte sichtlich und senkte den Kopf wieder. »Vergebt mir, Sire.«

William sagte weder ja noch nein. »Mir war nicht bekannt, daß Ihr hier seid. Wann hattet Ihr die Absicht, mir Eure Aufwartung zu machen?« »Ich bin eben erst eingetroffen, mein König.«

»So, so. Nun, Ihr habt nicht lange gezögert, auf Euch aufmerksam zu machen. Ich bin froh, daß Euer Vater das nicht erleben muß, Guillaume. Ihr solltet Euch schämen!«

»Ja, Sire.«

Rufus kehrte mit dem Offizier der Wache aus der Halle zurück, der sich respektvoll verneigte. »Mein König?«

William sah zerstreut auf, schien sich einen Moment nicht erinnern zu können, wieso er nach ihm geschickt hatte. Dann wies er auf die Wachsoldaten, die ohne großen Erfolg versuchten, zum Tor zurückzuschleichen. »Diese Männer haben ihren Posten verlassen, Hamo. Sorgt dafür, daß sie bestraft werden.«

Hamo fitz Hugh nickte grimmig. »Sofort, Sire.«

William blickte wieder auf seinen zerknirschten jungen Verwandten hinab. »Ihr dürft Euch erheben, fitz Osbern. Aber ich verlange eine Erklärung. Wie kam es zu dieser unwürdigen Szene?«

Guillaume fitz Osbern fuhr sich verlegen mit dem Ärmel über die blutige Lippe, sah sich suchend um und wies dann mit dem Finger auf Eadwig. »Auf dem Weg hierher traf ich Robert Montgomery und ein paar weitere Freunde, Sire«, erklärte er dann. »Als wir in den Hof einritten, hat dieser englische Flegel Montgomery beleidigt. Als der ihn zur Rede stellte, hat der Engländer gekniffen. Er wollte sich verdrücken, ich habe ihn aufgehalten, und da hat dieser dänische Hund da vorn zugeschlagen.«

»Leif? Eadwig? Was habt Ihr zu sagen?« fragte der König mit deutlich erkennbarer Ungeduld.

Beide schwiegen beharrlich. Sie wußten, daß ihr Wort gegen das eines fitz Osbern nichts gelten konnte, ganz gleich, was sie sagten.

Der König nickte knapp und wandte sich an Rufus. »Es sind deine Ritter. Du wirst sie zur Rechenschaft ziehen.«

Rufus schüttelte ungläubig den Kopf. »Aber Sire, so war es nicht. Ich war doch dabei!«

Ehe der König etwas erwidern konnte, trat Robert vor, der inzwischen ebenfalls in den Hof hinausgekommen war. Er baute sich vor seinem Bruder auf. »Du willst Guillaume fitz Osbern der Lüge bezichtigen?« fragte er ungläubig. »Bist du auch sicher, daß du weißt, wer er ist?«

Rufus stieß hörbar die Luft aus, schien mehr verwirrt als verärgert. »Natürlich weiß ich, wer er ist, Robert, und ich will niemanden bezichtigen. Ich sage nur, daß es so nicht war.« Er wandte sich kurz an den jungen, aber mächtigen und hoch angesehenen fitz Osbern. »Ihr irrt Euch, Monseigneur. Eadwig of Helmsby hat Montgomery nicht beleidigt.« »Helmsby?« Fitz Osbern spie den Namen voller Verachtung aus. »Jetzt wundert mich nichts mehr.«

Der König ließ es sich nicht nehmen, Cædmon, der kreidebleich geworden war, einen boshaften Blick zuzuwerfen, ehe er wieder zu Rufus sah. »Dann sag du mir, was geschehen ist.«

Der Prinz schilderte mit knappen Worten die Ereignisse, die zu der Schlägerei geführt hatten. »Ich weiß nicht, warum fitz Osbern sich bedroht fühlte«, schloß er, »aber jedenfalls hat er seinen Dolch gezückt, als Eadwig am Boden lag, und Leif hat instinktiv reagiert, um Eadwig zu schützen. Hätte ich an seinem Platz gestanden, hätte ich das gleiche getan, Sire.«

William ließ ihn nicht aus den Augen, während er fragte: »Henry?« Sein jüngster Sohn hob unbehaglich die Schultern, antwortete aber entschlossen: »Es war, wie Rufus sagt, Vater.«

»Cædmon?«

Warum fragst du mich, William, dachte er ärgerlich. Eadwig ist mein Bruder und Guillaume fitz Osbern mein Feind. Darum wird meine Antwort die Wahrheit unglaubwürdig machen. Doch er sagte lediglich: »Ja, Sire, so war es.«

Der König wandte sich an seinen Ältesten. »Wie es scheint, waren es deine Ritter, die diesen schändlichen Zwischenfall ausgelöst haben.« »Augenblick mal«, widersprach Robert, so empört, daß er vergaß, was sich gehörte. »Ihr stellt das Wort eines überführten, obendrein englischen Betrügers über das eines normannischen Edelmannes, der Euer Verwandter ist, Sire?«

William zuckte nicht mit der Wimper. »Ich sehe nicht, was Nationalität mit dieser Sache zu tun hat, Robert. Und was ist mit dem Wort deiner Brüder?«

»Das liegt doch wohl auf der Hand! Sie stellen sich vor ihre Ritter.« »So wie du es auch tun würdest?«

»Natürlich!«

»Tatsächlich?« William sah seinen Ältesten scharf an. »Dafür würdest du mir die Unwahrheit sagen?«

Robert geriet in Bedrängnis und tat genau das, was sein Vater auch getan hätte: Er unternahm die Flucht nach vorn. »Man könnte glauben, Ihr wolltet mir das Wort im Munde verdrehen! Ich war nicht dabei, darum kann ich nicht sagen, was geschehen ist, und bin meinen Brüdern gegenüber im Nachteil. Aber ich brauche für meine Ritter nicht zu lügen, denn ich weiß, daß fitz Osbern und Montgomery die Wahrheit sagen!«

William runzelte die Stirn. »Montgomery hat sich ja noch gar nicht geäußert.« Er betrachtete den Sohn des mutigen Earl of Shrewsbury ohne große Sympathie. »Nun, Montgomery? Ich bin gespannt.«

Der junge Normanne schüttelte den gesenkten Kopf. »Ich … kann nicht fassen, was hier vorgeht, Sire. Wie … wie könnt Ihr fitz Osberns Wort anzweifeln? Ist er nicht der Sohn Eures treuesten und engsten Vertrauten?«

»Und der Bruder eines Hochverräters«, versetzte der König kühl.

Empörtes Raunen erhob sich unter Roberts Rittern.

Montgomery sah flehentlich zum König auf. »Und was ist mit meinem Vater? Steht nicht auch er Euch nah wie ein Bruder?«

Der König betrachtete ihn, und solche Verachtung lag in den schwarzen Augen, daß Montgomery ihrem Blick nicht standhalten konnte.

»Ihr beruft Euch auf Eure Väter, um von Eurer erbärmlichen Schwäche abzulenken«, versetzte der König eisig. »Weil Ihr selbst nichts, nicht das geringste vorzuweisen habt, das für Euch spräche.« Er fuhr zu seinem ältesten Sohn herum und wies auf die gesenkten Köpfe im Hof. »Robert, du wirst all diese Männer aus deinen Diensten entlassen. Sie werden noch heute von dieser Burg verschwinden. Ich will keinen von ihnen wiedersehen.«

Robert war sehr blaß geworden. Ein Muskel in seiner rechten Wange zuckte, bemerkte Cædmon, auch das hatte der Prinz von seinem Vater geerbt.

»Wenn Ihr meine Ritter von Eurem Hof verbannt, werde ich mit ihnen gehen«, drohte Robert leise.

William starrte ihn einen Moment ungläubig an. Dann lächelte er kalt. »So? Und du erwartest, daß mich das erschüttert, ja?« Er ruckte sein Kinn zur Tür und wandte sich brüsk ab. »Wir reden unter vier Augen weiter.« Er stieg die Stufen hinauf, ohne auf Robert zu warten, der ihm hastig folgte.

Rufus lehnte sich an die grobe Holzwand neben der Tür zur Halle und verbarg das Gesicht in den Händen. »O Gott …«, flüsterte er. »Ich habe solche Mühe, an dich zu glauben. Aber wenn du mir beweisen willst, daß es dich gibt, dann wäre jetzt der richtige Moment.«

Cædmon bemühte sich nach Kräften, Guillaume fitz Osberns mörderische Blicke zu ignorieren, und legte dem Prinzen tröstend die Hand auf den Arm. »Komm, Rufus, nicht hier. Laß uns hineingehen.«

Sowohl Rufus als auch Henry folgten ihm ins Innere der Halle, Eadwig und Leif stiegen nebeneinander die Treppe hinauf und schlossen sich ihnen an.

»Oh, Cædmon, was soll nur werden, wenn mein Vater und Robert sich überwerfen?« fragte Rufus verstört. »Das … das hab ich nicht gewollt. Wirklich nicht. Aber fitz Osbern hat gelogen, und Leif und Eadwig haben keinen Ton gesagt, um sich zu verteidigen … Warum, warum muß es nur so sein, daß ich immer allen Unglück bringe, die ich liebe?«

 

Niemand erfuhr je, was der König und sein Sohn sich unter vier Augen sagten, doch die Unterredung führte zum endgültigen Bruch. Noch vor Sonnenuntergang zog Prinz Robert mit seinem Gefolge von der Burg in Laigle ab, und der König zeigte sich weder am Abend noch am nächsten Tag und war für niemanden zu sprechen.

Robert sammelte seine Getreuen um sich, hörte auf die Schmeicheleien von Edgar Ætheling und anderen Günstlingen und unternahm den tollkühnen, aber doch unglaublich törichten Versuch, Rouen einzunehmen. Der Befehlshaber der Burg schlug den Angriff ohne die geringste Mühe zurück, eher verdattert als ernstlich bedrängt.

Dennoch stellte der Zwist innerhalb der Herrscherfamilie einen Riß dar, der sich bald auf das ganze Land auswirkte und es spaltete. Nach der erfolglosen Belagerung von Rouen floh Robert mit seinen Getreuen zu seinem Onkel, dem Herzog von Flandern, der ein erklärter Feind des Königs war. Dort empfing er Gesandte des Königs von Frankreich und schmiedete Ränke gegen seinen Vater. Und während die Monate ins Land gingen, schlossen sich ihm mehr und mehr normannische Adlige an. Vor allem die jungen Männer, die ältesten Söhne derer, die William mit nach England genommen und dort belehnt hatte. Ihre Erstgeborenen, Roberts Altersgenossen, waren mehrheitlich daheim geblieben, um den Familienstammsitz zu verwalten, genau wie Robert es für seinen Vater getan hatte. So war es nur natürlich, daß sie sich dem Prinzen enger verbunden fühlten als dem König, und William saß in Rouen und mußte mit ansehen, wie die Söhne seiner treuen Vasallen sich dem abtrünnigen Sohn in Flandern anschlossen. Auch Ralph de Gael, der einstige Earl of Norfolk, der Emma fitz Osbern geheiratet und mit ihrem Bruder Williams Sturz in England geplant hatte, bot Robert Hilfe und bretonische Burgen als Stützpunkte an.

Eadwig gab sich selbst die Schuld für diesen folgenschweren Familienzwist und bat Prinz Rufus, ihn für eine Weile aus seinen Diensten zu entlassen, damit er sich ein paar Monate in ein normannisches Kloster zurückziehen konnte, um dort zu beten, zu fasten und zu büßen.

Aber Rufus lehnte ab. Er konnte die flehentlichen Bitten seiner Ritter genauso hartherzig ignorieren wie sein Vater. Doch anders als sein Vater gab er wenigstens eine Erklärung: »Es ist nicht deine Schuld, Eadwig, sondern meine. Jedenfalls ist es das, was der König denkt. Wie soll ich meine Furcht vor seinem Zorn aushalten, wenn du nicht da bist? Und er ist zornig, weißt du. Du willst Buße tun, sagst du? Dann bleib hier.«

Das zweite Königreich
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