Helmsby, Juni 1070

»Cædmon, ich kann mich des Eindrucks einfach nicht erwehren, daß die Dänen die Mönche von Ely ganz besonders ins Herz geschlossen haben.«

»Das scheint mir auch so, Sire.«

»Auf jeden Fall behandeln sie sie weitaus rücksichtsvoller als die bedauernswerten Brüder der Abtei von Peterborough«, fuhr der König fort.

»In Ely ist auch nicht so viel Gold zu rauben wie in Peterborough. Außerdem hat Ely keinen normannischen Abt«, gab Cædmon zu bedenken.

Der König sah ihn finster an. »Soll das vielleicht eine Entschuldigung sein?«

»Nur eine Erklärung, Sire.«

Seit Wochen hatten sich die Dänen auf der Klosterinsel von Ely verschanzt, und die englischen Rebellen unter dem inzwischen sagenumwobenen Hereward hatten sich ihnen dort angeschlossen. Die Mönche, allen voran ihr Abt Thurstan – ein Freund und Waffenbruder von Harold Godwinson, hieß es –, hatten ihre Gäste mit etwas mehr als der ihrem Orden gebotenen Gastfreundschaft aufgenommen. Und als Dänen und Rebellen am zweiten Juni die märchenhaft reiche Abtei von Peterborough überfallen, niedergebrannt und bis auf das letzte golddurchwirkte Altartuch ausgeraubt hatten, selbst da hatte Thurstan sie anschließend wieder herzlich willkommen geheißen. Denn der Abt von Peterborough war ein Normanne, der seine Mönche mit eiserner Hand regierte und sie mit einer normannischen Leibgarde in Angst und Schrecken versetzte, und Abt Thurstan war offenbar der Ansicht, es wäre dem Seelenheil des normannischen Bruders zuträglich, wenn sein Haus vom weltlichen Tand befreit werde und er selbst so zu mönchischer Demut zurückfinden könne.

So waren Dänen und Rebellen gleichermaßen schwer beladen mit Gold und Silber aus Peterborough nach Ely zurückgekehrt, doch langsam, so hatte ein Aalfischer Cædmon erzählt, gab es Reibereien und Engpässe. Selbst die fruchtbare Erde der Klosterinsel und die Bauern ihrer vier Dörfer konnten so viele Menschen auf Dauer nicht ernähren. Die Vorräte wurden knapp. Die Dänen waren seit über einem Jahr auf englischem Boden und hatten praktisch nichts erreicht. Und so kriegswütig sie auch sein mochten, liebten sie den Krieg doch nur dann, wenn er Beute brachte. Peterborough war ihr erster einträglicher Raubzug gewesen, doch jetzt war der König von England mit seinen Truppen in East Anglia. Und den Dänen war letztlich genau das geschehen, was sie in Axholme mit so weiser Voraussicht vermieden hatten: Sie saßen in Ely wie die Ratten in der Falle.

Alfred trat unauffällig heran und brachte dem König einen vergoldeten Becher mit Wein – Cædmons bestes Stück und sein bester Tropfen. Cædmon nickte seinem Vetter dankbar zu, und Alfred schmuggelte ein breites Grinsen und eine komische, halb ehrfürchtige, halb unverschämte Grimasse in seine Richtung, ehe er auch die anderen Gäste bewirtete.

Die Halle war fast menschenleer. Die Leute vom Gut, die Housecarls und ihre Familien, selbst Onkel Athelstan hatten das Feld räumen müssen. Nur eine Handvoll normannischer Adliger und Ritter warteten mit dem König: Etiennes Vater Guillaume fitz Osbern, des Königs Bruder Robert und Guillaume de Warenne, einer der großen Helden von Hastings, der zu den engsten Beratern des Königs zählte. Er ging rastlos hinter der hohen Tafel auf und ab, wobei er in regelmäßigen Abständen die Nase hochzog. Er litt offenbar an einem Sommerschnupfen. Schließlich hielt er vor dem König an und sagte mit mühsam unterdrückter Heftigkeit: »Ich kann nicht begreifen, wieso wir hier sitzen und auf dieses verfluchte Heidenpack warten, um zu verhandeln. Warum räuchern wir das verdammte Rebellennest nicht aus?«

»Beruhigt Euch, Warenne. Und mäßigt Euch«, riet der König mit einem leicht mißfälligen Unterton. »Uns allen hier ist bewußt, daß Ihr besonderen Grund habt, diesen Hereward zu verabscheuen, aber im Augenblick geht es nicht um englische Rebellen, sondern um den König von Dänemark. Außerdem hat Cædmon durchaus recht, wenn er sagt, Ely sei so gut wie uneinnehmbar.«

Warenne warf Cædmon einen mörderischen Blick zu. »Wenn mein Bruder einer dieser aufständischen Mönche wäre, würde ich gewiß das gleiche sagen. Aber mein Bruder ist tot. Abgeschlachtet, auf schändlichste Weise überfallen und ermordet von Hereward und seiner Bande verlauster Bauernlümmel …«

Williams Geduld erschöpfte sich. »Ja, ich habe mich auch schon häufiger gefragt, wie Euer Bruder ausgerechnet einem solch erbärmlichen Häuflein zum Opfer fallen konnte …«

Warenne wurde kreidebleich und schwieg. Der König lächelte zufrieden. Und Cædmon dachte nicht zum erstenmal: Der Tag wird kommen, da du den letzten deiner Freunde von deiner Seite treibst …

Hufschlag erklang im Innenhof. Kurz darauf öffnete sich die Tür zur Halle, Lucien trat ein und verneigte sich tief vor dem König. »Prinz Knut von Dänemark und sein Mund, Sire.«

William nickte knapp. »Er sei mir willkommen.«

Lucien wandte sich ab, ging zurück zur Tür und hielt sie einladend auf. Mit leichten, federnden Schritten kam der junge dänische Prinz herein. Ohne Scheu und ohne alle feierliche Gemessenheit durchschritt er den langen Raum. Vor William machte er halt und neigte höflich den Kopf. Es war keine Verbeugung. Er sagte etwas in seiner Sprache, die Cædmon nach wie vor unmelodisch und krächzend erschien, und Knuts »Mund«, der junge Mann, der dem Prinzen in gebührlichem Abstand gefolgt war, trat einen Schritt vor und übersetzte:

»Im Namen seines Vaters, König Sven, entbietet Prinz Knut Euch seinen Gruß. Schwager, wo sind meine Frau und mein Sohn?«

Cædmons Miene blieb vollkommen ungerührt, nicht einmal das leiseste Blinzeln hätte verraten können, daß er den Übersetzer des dänischen Prinzen kannte. Wortgetreu übersetzte er seinen Gruß ins Normannische.

»Seid auch Ihr gegrüßt, Prinz Knut, und erweist Uns die Ehre, Uns an der Tafel Gesellschaft zu leisten«, antwortete William mit ausdrucksloser Miene.

Cædmon wiederholte dies in englischer Sprache und fügte nahtlos an: »Hyld ist hier. Es geht ihr gut, sie erwartet ein Kind.«

Erik übersetzte die Einladung. Der Prinz trat an die Tafel, ließ sich ein gutes Stück von William entfernt nieder, stützte flegelhaft die Ellbogen auf und sagte etwas.

»Der Prinz dankt deinem König, und es wird ihm eine Freude sein, mit einem so ruhmreichen Feind zu trinken. Weißt du irgend etwas über meine Geschwister?«

Cædmon übermittelte die Antwort, während Alfred dem Prinzen einen Becher erstklassigen Helmsby-Met brachte. Sie waren übereingekommen, daß Met einen dänischen Prinzen wahrscheinlich versöhnlicher stimmte als der saure, französische Wein, den die Normannen so liebten.

»Laßt Eure Köchin wissen, sie kann auftragen, Cædmon«, beschied William. »Und fragt Knut, wie lange sein Vater noch gedenkt, den schönen englischen Sommer zu genießen.«

Cædmon gab Alfred ein unauffälliges Zeichen, der sich auf leisen Sohlen entfernte, um der Köchin Bescheid zu geben. Unterdessen übersetzte Cædmon und sagte zu Erik: »Leif und Irmingard sind beide hier. Sei unbesorgt.«

Prinz Knut warf seinem Übersetzer einen verwirrten Blick zu, vermutlich fragte er sich, was zwei nordische Namen in der Unterhaltung zu suchen hatten.

Erik ignorierte den Blick des Prinzen ebenso wie die Frage des Königs. Die bleigrauen Augen sahen Cædmon unverwandt an.

»Was ist mit meinem Sohn?«

»Erik …«

»Was ist mit meinem Sohn?!«

»Dein Sohn ist tot.«

»Cædmon …«, meldete der König sich beunruhigend leise zu Wort. »Ich weiß, Sire. Ich tue, was ich kann, um Eure Frage an den dänischen Prinzen zu übermitteln, aber …«

Erik hatte sich von der Tafel abgewandt, sie sahen nur seinen Rücken. Der Prinz stellte in schneidendem Tonfall eine Frage und bekam eine einsilbige, leise Antwort. Knut sprach wieder, aber Erik fiel ihm ins Wort, fuhr ihm regelrecht über den Mund und wandte sich endgültig ab. Er hatte noch keine zwei Schritte zurückgelegt, als der Prinz aufgesprungen war, ihn packte, ein großes Jagdmesser an seine Kehle hielt und sehr ruhig, aber drohend etwas zu ihm sagte.

Erik stand reglos, hatte den Kopf abgewandt und schwieg.

Der Prinz schüttelte ihn und sprach eindringlich im Befehlston auf ihn ein, als zu Cædmons größter Verblüffung Eadwig hinzutrat und bedächtig sprach.

Der dänische Prinz ließ von Erik ab, schien ihn augenblicklich zu vergessen und legte Eadwig seine mächtige Pranke auf die Schulter. »Eadwig, mein kleiner Freund!«

Eadwig tauschte ein paar gemurmelte Worte mit ihm, ehe er sich mit einer tiefen Verbeugung an den König wandte. »Der Prinz bittet Euch wegen des ungebührlichen Betragens seines Übersetzers um Verzeihung, Sire.«

Niemand außer Cædmon bemerkte, daß Erik mit gesenktem Kopf zur Treppe eilte, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen.

William sah Eadwig mit hochgezogenen Brauen an. Dann bedachte er Cædmon mit seinem trägen Wolfsgrinsen. »Ihr habt mir nie verraten, daß Euer Bruder dänisch spricht.«

»Ich habe es nicht geahnt, Sire«, erwiderte Cædmon verwirrt.

Fortan übersetzte also Eadwig direkt zwischen den beiden Verhandlungspartnern, aber Cædmon blieb hinter dem Stuhl des Königs stehen, um seinen Bruder wenigstens moralisch zu unterstützen und ihm hier und da notfalls mit ein paar normannischen Worten unter die Arme zu greifen. Er wußte, was für eine schweißtreibende Angelegenheit es war, in schwierigen Verhandlungen zu übersetzen, wie leicht man zum Sündenbock für alle Mißverständnisse wurde. Eadwig merkte schnell, daß es wesentlich einfacher war, aus der dänischen in die verwandte englische Sprache zu übersetzen, also übernahm Cædmon wieder die vertraute Rolle als Ohr und Mund seines Königs.

Der saftige, zarte Rehrücken, den Cædmons Köchin bereitet hatte, besänftigte die Gemüter, und es dauerte nicht allzu lange, bis Prinz und König beinah einvernehmlich plauderten.

»Ich weiß nur zu gut, daß kein Herrscher es sich lange erlauben kann, seinem Reich fernzubleiben. Wie lange, glaubt Ihr, werden die Norweger noch warten, ehe sie Dänemark überfallen, wenn weder Euer Vater noch Ihr und Euer Bruder im Lande seid?« fragte der König.

»Die englische Gastlichkeit hat uns länger als geplant hier festgehalten, aber Ihr habt durchaus recht, Sire, wir alle haben Heimweh«, gestand der Prinz.

Mit Mühe wahrte der König seine ernste Miene und machte eine weitausholende Geste. »Was in aller Welt hält Euch dann? Die Hoffnungen auf eine nordenglische Krone doch sicher nicht mehr?«

Knut schüttelte langsam den Kopf. »Mein Vater ist nicht Harald Hårderåde. Er hat kein Interesse an einer englischen Krone.«

»Sondern woran?«

»An Gold, Sire.«

»Nun, wie ich höre, habt Ihr nicht unbeträchtliche Mengen Gold in Peterborough gefunden.«

»Aber wenn wir uns damit zu unseren Schiffen zurückzögen, würden wir sie unbehelligt erreichen?«

William verspeiste in aller Seelenruhe ein Stück Braten, während er seine Antwort überdachte. »Ich sehe nicht, was dagegen spricht. Das Kloster von Peterborough wird sein Gold schmerzlich vermissen, aber letztlich …«, hier warf er Cædmon einen ironischen Blick zu, »ist es doch nur eitler, weltlicher Tand. Nein, ich könnte mir durchaus denken, daß Ihr Eure Schiffe mit Eurer … Ladung unversehrt erreicht.« »Wenn nun diese Ladung unsere Schiffe aber noch nicht gänzlich füllte?« fragte der Prinz.

Der König zuckte nicht mit der Wimper. »Wieviel würde denn fehlen, Eure Laderäume auszulasten? Sagen wir, zweitausend Pfund?«

Der Prinz zog ungläubig die Brauen in die Höhe. »Andere englische Könige vor Euch haben das Zwanzigfache gezahlt, Sire.«

William lachte. Er nahm einen Zug aus seinem Becher, stellte ihn ab und drehte ihn zwischen den Händen, während er sagte: »Ich könnte es durchaus als Beleidigung auffassen, daß Ihr mich mit diesem unfähigen angelsächsischen Narren Æthelred vergleicht. Der Unterschied ist der, edler Prinz: Ihn hattet Ihr besiegt, darum mußte er Euch das Zwanzigfache zahlen. Mich habt Ihr nicht besiegt, und mich werdet Ihr nicht besiegen. Darum biete ich Euch zweitausend Pfund, um Eure Heimkehr zu versüßen, und keinen Penny mehr.«

»Zehntausend«, erwiderte der Prinz prompt.

William hob den Kopf und sah ihm in die Augen. »Fünf. Fünftausend Pfund und Eure Beute aus Peterborough, und ich sichere Euch freien Abzug zu Eurer Flotte zu. Unter einer Bedingung: Hereward und seine Männer dürfen keinen Anteil bekommen.«

Der dänische Prinz blinzelte verwirrt. »Wie bitte?«

Der König lehnte sich leicht vor. »Nehmt Euer Gold und meine fünftausend Pfund und segelt heim mit meinen Segenswünschen. Aber Hereward muß leer ausgehen.«

Der Prinz zögerte. »Wir haben Absprachen getroffen …«

»Dann brecht sie.« William legte die Hände auf den Tisch und ballte sie zu Fäusten. Und wenn der Prinz nicht bald zustimmt, dachte Cædmon nervös, werden die Fäuste auf den Tisch niederkrachen, daß die Becher springen. Das tat keiner Verhandlung gut. Aber noch sprach der König ruhig, beinah verbindlich. »Ich bin durchaus bereit, mich Euren Abzug etwas kosten zu lassen, weil ich Besseres zu tun habe, als Euch in Ely auszuhungern, was ich natürlich ebensogut tun könnte.« Knut grinste entwaffnend. »Dazu habt Ihr nur keine Zeit, weil Eure Feinde in le Mans das Volk aufwiegeln, gegen normannische Oberherrschaft zu rebellieren und ihr kleines Land von Eurer väterlichen Fürsorge zu befreien. Wie heißt es doch gleich? Maine?«

William hob langsam die Schultern. »Ich hätte die Zeit. Wenn wir das Maine verlieren, kann ich es jederzeit zurückerobern. Aber es ist sinnlos, darüber zu streiten, wo wir uns doch im Grunde schon einig sind: Nehmt Euer Gold und zieht ab. Aber nehmt all Euer Gold. Hereward mag in Euren Augen einer der letzten großen angelsächsischen Krieger sein, doch im Grunde ist er nur ein Dieb.«

»Wollen wir nicht vielleicht lieber ein anderes Wort wählen, Sire?« fragte Cædmon murmelnd, ehe er übersetzte. »Denn die größten Diebe von allen sind doch die Dänen, und wenn wir das andeuten, könnte …« »Ihr habt recht. Sagt ihm, Hereward sei ein Verräter. Sagt ihm, was Ihr wollt. Hauptsache, sie verschwinden und entblößen dieses Rebellennest, ohne Hereward auch nur einen Penny zu überlassen, mit dem er neue Truppen anheuern könnte. Hereward führt den letzten englischen Widerstand gegen die normannische Herrschaft, und das muß ein Ende nehmen. Ich will endlich Ruhe in diesem Land!«

Cædmon nickte seinem Bruder zu. »Sag dem Prinzen einfach, ein Abzug der Dänen ist dem König nur dann fünftausend Pfund wert, wenn er Hereward ans Messer liefert.«

Knut lauschte Eadwig und sah William unverwandt in die Augen. Er zögerte nur noch einen Moment. Dann siegte der Geschäftssinn.

»Einverstanden.«

 

Cædmon fand Hyld und Erik in der kleinen Kammer, die Hyld seit ihrer Ankunft in Helmsby mit Irmingard teilte. Eriks Schwester hatte sich diskret zurückgezogen, und der Wikinger saß mit seiner Frau auf dem Bett. Hyld hatte den Rücken an seine Brust gelehnt, und er hatte die Arme um sie gelegt.

Als Cædmon eintrat, wandte er hastig den Kopf ab, aber Cædmon hatte seine geröteten Augen längst gesehen. Er bedauerte Erik ebenso wie Hyld. Ein Kind zu verlieren blieb fast niemandem erspart, viele traf es mehr als einmal. Aber es war immer schrecklich. Er erinnerte sich noch an den kleinen Bruder, den er einmal gehabt hatte und der im ersten Winter nach der Geburt gestorben war. Sein Vater war völlig von Sinnen gewesen vor Schmerz, tagelang betrunken und gefährlich wie ein verwundeter Bär, so daß niemand sich in seine Nähe wagte. Erst als Cædmon selbst Vater geworden war, hatte er das verstehen können. »Prinz Knut ist fort«, sagte er und schloß die Tür. »Er wollte nicht nach dir schicken.« Und der König hatte es sich natürlich nicht nehmen lassen, Cædmon zuzuraunen, daß eben nicht alle Männer soviel Geduld mit ihren Übersetzern hätten wie er selbst.

Erik hob gleichgültig die Schultern. »Wir hatten uns schon vorher geeinigt, daß dies hier mein letzter Dienst für ihn sein sollte und ich von hier aus nach Hause zurückkehre.«

Cædmon nickte. »Und was werdet ihr jetzt tun?«

»Genau das«, sagte Hyld. »Wir gehen nach Hause.«

»Nach York?« fragte Cædmon fassungslos. »Aber es ist ein Trümmerhaufen. Und der ganze Norden hungert.«

Erik schüttelte langsam den Kopf. »York wird wieder auferstehen. Es wird nicht lange dauern, bis es wieder das blühende Handelszentrum ist, das es letzten Sommer noch war. Aber es braucht Leute mit Kapital, und es braucht Unterstützung. Der ganze Norden. Wir wollen tun, was wir können, es ist unsere Heimat. Und wir wollen so weit weg wie nur möglich von deinem Mörderkönig sein.«

Cædmon nickte. Er konnte Eriks Bitterkeit gut verstehen. Er hatte sie schließlich selbst verspürt, obwohl der König ihn keinen Sohn gekostet hatte. »Du wirst feststellen, daß dein Bruder anders denkt«, sagte er vorsichtig.

Ein scheues Klopfen kündigte Gytha an. Cædmon hatte sie gebeten, einen Krug Met heraufzubringen. Er öffnete ihr, und sie stellte Krug und Becher auf den kleinen Tisch am Fenster. Dann schenkte sie ein. Cædmon lächelte ihr zu, als sie ihm sein Met reichte. Er war seit einer Woche zu Hause, und sie teilte sein Bett wie eh und je. Er schämte sich dessen ein bißchen; er hatte das Gefühl, Aliesa untreu zu sein. Doch als Gytha ihm am ersten Abend in der Halle einen verstohlenen, fragenden Blick zugeworfen hatte, hatte er genickt. Sie war die Mutter seines Sohnes und hatte gewisse Rechte. Hätte er sie zurückgewiesen, wäre das niemandem in Helmsby verborgen geblieben, und er sah keinen Grund und hatte vor allem nicht den Wunsch, sie zu kränken. Als sie gegangen war, setzte Cædmon sich auf einen Schemel am Fußende des Bettes und nahm die Unterhaltung wieder auf. »Leif und Eadwig haben sich prächtig eingelebt am Hof. Sie lernen viele nützliche Dinge – auch viel überflüssigen Unsinn –, aber vor allem sind sie unzertrennlich. Wenn du deinen Bruder mit nach York nimmst, reißt du sie auseinander.«

»Ich kann nicht glauben, daß Leif freiwillig in den Dienst dieses normannischen Ungeheuers getreten ist«, stieß Erik hervor.

»O ja. Leif bewundert die Normannen. Genau wie Eadwig. Sie haben längst vergessen, was sie im Winter gesehen und erlebt haben. Sie sind jung. Vielleicht könnte man sagen, sie sind leicht zu blenden. Aber du solltest froh sein um deines Bruders willen. Denn England ist normannisch, und nur wer mit dieser Tatsache seinen Frieden macht, wird hier in Frieden leben können.«

»Du meinst, nur wer sich ihnen unterwirft, wird hier in Frieden leben können. Ich muß meine dänischen Wurzeln verleugnen so wie du deine angelsächsischen. Wir müssen weichen oder untergehen?«

Cædmon schüttelte den Kopf. »Das glauben der König und all die normannischen Adligen, die denken, daß sie sich in England nur halten können, wenn sie alles, was englisch oder dänisch ist, unterdrücken. Aber sie irren sich. So wird es nicht sein.«

Erik winkte ärgerlich ab. »Du machst dir etwas vor, Cædmon. Genau so wird es sein.«

»Nein. Denn die Normannen, die hier in England leben, sind unseren Einflüssen ausgesetzt, genau wie wir den ihren. Ich meine, die Eroberung liegt erst vier Jahre zurück, aber schon fangen sie an, unsere englischen Heiligen zu verehren. Sie bauen ihre Burgen auf ihren neuen, englischen Landsitzen und erlernen zwangsläufig unsere Sprache, wenn vielleicht noch nicht die Adligen selbst, dann zumindest ihre Stewards, denn die müssen sich mit den englischen Bauern ja irgendwie verständigen. Viele normannische Adlige haben reiche englische Witwen geheiratet. Was, denkst du, werden ihre Nachkommen sein? Normannen, Engländer oder normannische Engländer? Und die jüngeren normannischen Ritter, wie mein Freund Etienne fitz Osbern, sind England und den Engländern sehr zugetan, weil sie wissen, daß hier ihre Zukunft liegt, und sie übernehmen unsere Bräuche und unsere Geschichten und unser Bier so selbstverständlich und unbekümmert wie Eadwig und Leif die ihren. Und Prinz Richard, der, wenn Gott meine Gebete erhört, der nächste König von England wird, spricht beinah ebensogut Englisch wie Normannisch und fühlt sich dem englischen Volk schon heute verbunden und verpflichtet. Und er kann so viel von Eadwig und Leif lernen.«

Erik starrte blicklos auf einen Punkt an der Wand und rang mit sich. Schließlich nickte er unwillig. »Leif ist alt genug. Er soll selbst entscheiden, was er will.«

Cædmon war erleichtert. Er wußte, wie sehr Leif davor gegraut hatte, sein Bruder könnte ihn zwingen, den Hof zu verlassen. Und Cædmon war froh um jeden Engländer oder Dänen am Hof, je jünger, um so besser.

»Wann wollt ihr aufbrechen?«

»Sobald das Kind geboren ist«, sagte Hyld. Sie war stiller und ernster geworden, hatte Cædmon festgestellt, erwachsener. Sie trauerte um ihren Sohn, aber das schlimmste hatte sie überwunden. Olaf war wenige Tage vor Weihnachten gestorben, mehr als ein halbes Jahr war vergangen, und die Schwangerschaft war ein großer Trost. Das Kind konnte jetzt jeden Tag kommen. Und nun, da ihr Mann zurückgekommen war, schien sie beinah versöhnt. »Es gefällt uns nicht besonders, unter einem Dach mit dem König zu sein, aber daran ist im Moment nichts zu ändern.«

»Er bricht morgen auf«, beruhigte Cædmon sie. »Er will nach Peterborough, um den Schaden zu begutachten, dann weiter nach Norwich. Und sobald er sicher ist, daß die Dänen abziehen, geht er in die Normandie. Dort gibt es Schwierigkeiten, um die er sich dringend kümmern muß.«

»Gehst du mit ihm?« fragte Hyld.

Er schüttelte den Kopf. »Vorläufig nicht. Ich habe … etwas anderes zu tun.«

»Was?«

»Ich nehme an, der König schickt ihn nach Ely. Er soll es auskundschaften und herausfinden, ob Hereward den Normannen gefährlich werden kann«, mutmaßte Erik.

Cædmon sah ihn an. »Und? Wie gefährlich ist Hereward der Wächter?«

Erik hob kurz die Hände. »Ich weiß es nicht, Cædmon. Ich war nicht in Ely. Ich war auch nicht bei der Plünderung von Peterborough. Als König Sven im Frühjahr herüberkam, schickte er mich als Gesandten nach Schottland, um festzustellen, ob König Malcolm und der angelsächsische Prinz, Edgar Ætheling, bereit und in der Lage wären, mit den dänischen Truppen zusammen eine gezielte, organisierte Invasion Englands durchzuführen.«

»Und?« fragte Cædmon atemlos.

Erik schüttelte den Kopf. »Ich muß dich leider beruhigen. Edgar Ætheling ist nicht in der Lage, König Malcolm ist nicht bereit. Er fürchtet William. Und weil das so ist und weil König Sven ein kluger Mann ist, werden die Dänen tun, was Prinz Knut zugesichert hat. Ich bin sicher, sie ziehen ab.«

»Gebe Gott, daß du recht hast«, murmelte Cædmon. »Es ist auch ohne sie alles schwierig genug. Also du weißt nichts über Hereward? Wie viele Männer er hat, welche Mittel, wie ernst wir ihn nehmen müssen?«

Erik schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, und wenn ich es wüßte, würde ich es dir nicht sagen. Du hast dich entschieden, William weiter zu dienen, und ich bin sicher, du hast gute Gründe. Aber ich würde mich nie durch dich zu seinem Handlanger machen lassen.«

 

Nach dem augenscheinlich erfolgreichen Treffen mit dem dänischen Prinzen war der König gutgelaunt zur Jagd geritten. Etienne, Warenne und Robert hatten ihn begleitet und Lucien de Ponthieu natürlich auch – er wich kaum je von des Königs Seite. Folglich gab es an der hohen Tafel an diesem Abend wiederum Wildbret, Cædmons teurer, importierter Wein floß in Strömen, und die Stimmung war nahezu ausgelassen. Leif und Eadwig versahen den Mundschenkdienst an der hohen Tafel.

»Haltet Euch nicht unnötig lange in Ely auf«, sagte William zu Cædmon und legte mit einem Kopfschütteln die flache Hand auf seinen Becher, als Leif ihn auffüllen wollte. »Ich hätte nichts dagegen, Eure Neuigkeiten zu hören, ehe ich den Kanal überquere.«

»Ich werde mich beeilen, Sire.«

»Sollte ich bei Eurer Rückkehr schon aufgebrochen sein, berichtet Lanfranc und meinem Bruder Odo. Dann müssen sie eben entscheiden, wie mit diesem Hereward zu verfahren ist.«

Cædmon nickte. Ihm war alles andere als wohl bei diesem Auftrag. Mochte Hereward auch ein Verräter sein, weil er gegen den von den Witan erwählten König rebellierte, war er doch Engländer und bestimmt überzeugt, das Richtige für sein Volk zu tun. Cædmon hätte es vorgezogen, ihm niemals begegnen zu müssen. Nun, falls er Glück hatte, war Hereward längst von der Klosterinsel abgezogen, wenn er hinkam.

»Wie ich höre, habt Ihr einen Sohn, Cædmon«, bemerkte William nach einem kurzen Schweigen. Aus verständlichen Gründen nahm er das Wort ›Bastard‹ ungern in den Mund.

Cædmon war so verdutzt, daß er fragte: »Wer hat Euch das gesagt?« »Nun, ich wäre beinah über ihn gestolpert, als ich vorhin von der Jagd zurückkam. Seine Mutter – ich nehme zumindest an, sie ist seine Mutter …?« Er wies auf Gytha, die an einem der unteren Tische auftrug, wo Etienne und Alfred zusammen saßen und sich aufgrund der Sprachbarriere stockend, aber einvernehmlich unterhielten. Cædmon nickte. »Sie kam herbeigelaufen, hob ihn auf und entschuldigte sich«, fuhr der König fort. »Und da der Junge Euch wie aus dem Gesicht geschnitten ist, habe ich sie gefragt.«

Cædmon nickte wiederum und machte sich auf eine Moralpredigt gefaßt. Es war allgemein bekannt, daß William über solcherlei Unzucht mißfällig die Stirn runzelte. Was der König indes sagte, traf ihn vollkommen unvorbereitet.

»Ich denke, es wird Zeit, daß Ihr heiratet.«

Cædmon fiel vor Schreck der Fasanenflügel aus der Hand. »Heiraten … ähm, ich glaube wirklich nicht, daß ich …«

»Ralph Baynards Tochter«, fuhr der König fort, als wäre er nicht unterbrochen worden. »Ich habe schon daran gedacht, bevor … vor Eurer Abwesenheit. Baynard ist einverstanden. Die Mitgift macht Euch nicht reich, aber Ihr werdet zufrieden sein, da bin sich zuversichtlich.« »Rolands Schwester?« fragte Cædmon und schüttelte wie benommen den Kopf. »Aber sie muß noch ein Kind sein.« Er wußte, es war ein schwacher Einwand. Aliesa war noch keine drei Jahre alt gewesen, als man sie mit Etienne verlobt hatte. Aber ihm fiel auf die Schnelle nichts Stichhaltigeres ein.

William hob lächelnd die Schultern. »Die Zeit vergeht. Sie ist dreizehn und heiratsfähig. Hübsches Mädchen, übrigens. Hervorragend erzogen. Im Kloster in Caen.«

»Sire, ich will nicht heiraten.«

Der König ignorierte seinen Protest. »Ich werde noch einmal mit Baynard reden, ehe ich in die Normandie gehe. Aber Ihr könnt die Angelegenheit als abgemacht betrachten. Ein Haus in London wird übrigens zur Mitgift gehören. Baynard ist regelrecht besessen von London. Aber er hat nicht unrecht, das Haus wird Euch irgendwann noch von Nutzen sein. London nimmt jeden Tag an Bedeutung zu.«

»Aber …«

Der König wandte ihm brüsk den rabenschwarzen Hinterkopf zu und sprach mit Cædmons Mutter, die an seiner anderen Seite saß. »Wie denkt Ihr über London, Madame?«

Das zweite Königreich
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