3. BUCH
Doch viele, die edel und dem König treu ergeben schienen, verbündeten sich mit seinen Feinden und verrieten ihre Brüder und Väter und ihren obersten Lehnsherrn. So litt das Reich mehr unter den Seinen denn der Kriegswut seiner Feinde und wurde von einer inneren Krankheit verzehrt.
Ordericus Vitalis, Historia Ecclesiastica
Exning, August 1075
»Der Thane of Helmsby!« rief der Bräutigam erfreut aus. »Wie schön, daß Ihr uns an diesem Tag beehrt.«
Cædmon schüttelte ihm die Hand. »Viel Glück und Gottes Segen, Ralph.« Dann verneigte er sich vor der Braut. »Das wünsche ich auch Euch, Emma.«
Mit lachenden Augen strahlte sie ihn an. »Danke, Cædmon.«
Es war das erste Mal seit etwa zehn Jahren, daß er sie wiedersah, und er war nicht verwundert festzustellen, daß sie eine Schönheit geworden war. Schließlich war sie Etienne fitz Osberns Schwester.
Er machte den übrigen Gratulanten Platz, die schon ungeduldig herandrängten, und trat zu Etiennes und Emmas älterem Bruder. »Gut daß wenigstens Ihr in England seid, Roger, sonst hätte Emma mutterseelenallein zum Kirchenportal schreiten müssen.«
Roger fitz Osbern hatte zu helle Haare und zu kantige Züge, um seinen schönen Geschwistern ähnlich zu sein, aber das gewinnende Lächeln war das gleiche. »Ja, ich bin sicher, Etienne hätte allerhand darum gegeben, heute hier zu sein, statt mit dem König im Maine. Aber wenigstens seine Frau ist gekommen, um die fitz Osbern-Delegation zu verstärken.« Er sah kurz über die Schulter. »Aliesa? Hier ist Cædmon of Helmsby.«
Sie entschuldigte sich bei den bretonischen Freunden des Bräutigams, mit denen sie geplaudert hatte, und wandte sich lächelnd um. »Cædmon! Wie schön.«
Er verneigte sich sparsam. Wie immer brachte es ihn aus der Fassung, ihr nach längerer Trennung plötzlich gegenüberzustehen, aber ihr Beispiel an wohldosierter Höflichkeit machte es ihm immer leicht, ungezwungen zu wirken. »Ich hoffe, Ihr hattet einen angenehmen Sommer in Herefordshire, Madame?«
Sie machte eine kleine, wegwerfende Geste. »Oh, es war grauenhaft langweilig auf dem Land. Aber ich nehme an, jetzt, da der König nicht in England ist, war es am Hof auch eher ruhig, nicht wahr?«
Er nickte. »Beschaulich. Beinah ein bißchen eintönig. Eure Schönheit hat uns gefehlt, Madame.«
Er sagte es beinah zerstreut; ein abgedroschenes Kompliment ohne alle Bedeutung, das viele Männer vielen Frauen machten, egal ob schön oder häßlich. Sie bedachte es mit dem gekünstelten Lächeln, das es verdiente, hob nur für einen winzigen Moment die Lider und sah ihm in die Augen. Der Blick dauerte nicht einmal einen Herzschlag lang, aber er beantwortete alle Fragen. Fast ein Jahr war seit ihrer letzten Begegnung vergangen. Nichts hatte sich geändert.
»Ein prachtvolles Fest, nicht wahr«, plauderte sie weiter.
»Wunderbar«, stimmte er enthusiastisch zu, obwohl er für große Menschenansammlungen mit lauter Musik und Prasserei nicht besonders viel übrig hatte.
»Ja, Cædmon ist ein großer Freund von Hochzeitsfeiern, solange es nur nicht seine eigene ist«, bemerkte Bischof Odo trocken und gesellte sich zu ihnen, einen gut gefüllten Becher in der Hand.
Cædmon verneigte sich tief. »Welche Freude, Euch zu sehen, Monseigneur.«
»O ja, darauf wette ich.« Odo lachte leise und fragte vielsagend: »Wie geht es Eurer bildhübschen Verlobten, Cædmon?«
»Ähm … gut, soweit ich weiß.«
»Tatsächlich? Nun ich muß gestehen, daß mich das ein wenig verwundert, sie muß die Geduld eines Engels besitzen.«
Aliesa schüttelte mit einem kleinen Lächeln den Kopf. »Ihr bringt den Ärmsten in Verlegenheit, Monseigneur.«
Aber Cædmon winkte ab. »Nein, nein. Mein unendliches Verlöbnis ist schon viel zu lange Anlaß zur Heiterkeit bei Hofe, um mich noch in Verlegenheit zu bringen, Madame. Alle Welt weiß schließlich, daß meine Braut lieber Euren Bruder heiraten würde und ich lieber Junggeselle bliebe.«
»Ihr solltet sie trotzdem in absehbarer Zeit heiraten«, riet Odo. »Ehe sie grau und runzelig wird«, fügte er boshaft hinzu. »Und nun erzählt uns, Cædmon, wie geht es meinen prinzlichen Neffen?«
Erleichtert ließ er sich auf den Themenwechsel ein und berichtete, womit sie sich den Sommer über die Zeit vertrieben hatten. »Richard und Rufus sind wahrhaft trickreiche Jäger geworden, es vergeht fast kein Tag, da sie nicht für ein paar Stunden hinausreiten. Henry hingegen hat eine merkwürdige Vorliebe für muffige Schreibstuben und Bücher entwickelt.«
»Er ist erst sieben«, entgegnete Aliesa, um ihren geliebten kleinen Prinzen in Schutz zu nehmen. »Er wird schon noch Freude an Pferden und Waffen und all den Dingen, die ihr Männer für so unabdingbar haltet, entwickeln.«
Odo lachte über ihr mißfälliges Stirnrunzeln und fragte Cædmon: »Und Richard und Rufus? Verstehen sie sich besser?«
Cædmon schüttelte seufzend den Kopf. »Nein, im Grunde nicht. Sie gehen einander aus dem Wege. Wenn sie sich begegnen, sind sie höflich, aber in Wahrheit werden sie einander immer fremder.«
»Das ist bedauerlich«, sagte Odo besorgt.
»Ja, ich weiß, Monseigneur. Und ich habe getan, was ich konnte, um es zu ändern, aber ohne Erfolg. Sie sind einfach zu unterschiedlich. Rufus und mein Bruder Eadwig hingegen sind nach wie vor unzertrennlich.« »Nun, das ist immerhin etwas. Ich sorge mich manchmal darum, daß unser Rufus sich immer weiter in sich zurückzieht.«
Cædmon nickte, erwiderte aber: »Ich mache mir derzeit ehrlich gesagt mehr Gedanken um Richard. Es hat ihn sehr gekränkt, daß sein Vater Lanfranc und nicht ihn in seiner Abwesenheit zum Regenten ernannt hat.«
Odo schnitt eine beinah komische Grimasse. »Nun, richtet ihm aus, damit stünde er nicht allein. Ich war auch gekränkt, daß William das Amt nicht mir übertragen hat. Aber sowohl ich als auch Richard müssen uns damit abfinden, daß Lanfranc der bessere Mann dafür ist. Ich bin zu bequem, Richard ist zu jung.«
»Er ist zwanzig, Monseigneur. Als sein Vater so alt war wie er …«
»Sein Vater ist ein Mann, mit dem gewöhnliche Sterbliche sich nicht vergleichen sollten«, fiel Odo ihm ins Wort, und es klang keineswegs ironisch.
»Nein.« Cædmon seufzte. »Das ist wohl wahr.«
»Da fällt mir ein, Thane, ich wollte Euch um einen Rat bitten. Wie Ihr wißt, komme ich selten aus Kent heraus. Wenn ich die besten Stickerinnen Englands suche, wohin muß ich mich wenden?«
»Stickerinnen?« wiederholte Cædmon verwirrt.
Odo nickte. »Seht Ihr, meine Kathedrale in Bayeux wird bald fertig. Nun, Ihr wißt, wie das ist, Ihr baut schließlich selbst eine Kirche, alles dauert länger und wird teurer als geplant, aber ich hoffe, nächstes Jahr um diese Zeit fertig zu sein. Und ich will einen Schmuck für meine Kirche, wie die Welt ihn noch nicht gesehen hat. Es soll ein Bildteppich sein, der die Geschichte der normannischen Eroberung Englands erzählt.«
Ein seltsames Thema für eine Kirche, fand Cædmon, aber er sagte lediglich: »Die ganze Geschichte? Das muß ein großer Teppich werden.« Odo nickte ungerührt. »Ich dachte, etwa zweihundert Fuß lang. Die Kirche ist ja groß.«
Cædmon unterdrückte jede Bekundung seines Erstaunens, aber Aliesa zog hörbar die Luft ein. »Dafür braucht Ihr eine Armee von Stickerinnen.«
»Ja, vermutlich«, stimmte der Bischof unbekümmert zu. »Aber ich will nur die besten. Es soll eine Überraschung für William werden, schließlich hat er den Bau meiner Kirche sehr großzügig unterstützt. Dieser Bilderteppich soll ihn ehren. Aber dafür muß er ihm gerecht werden. Also, Cædmon, was ratet Ihr mir?«
Cædmon überlegte einen Moment. »Nun, auf die Schnelle fällt mir nur eine Frau ein, die vermutlich die Richtige für Euer … gewaltiges Projekt ist.«
»Sagt ruhig größenwahnsinnig. Wer?«
»Meine Schwester. Ihre Arbeiten wurden früher in ganz East Anglia und darüber hinaus gerühmt, vor allem ihre Kunst, Muster und Bilder zu entwerfen.«
»Ha. Das ist wirklich die Frau, die ich brauche. Wo finde ich sie?«
»Das ist das erste Problem. Sie lebt in York. Und das zweite Problem ist …«
»Ja, ich kann es mir denken. Wenn sie in York lebt, läge ihr sicher nichts ferner, als den König zu ehren«, knurrte Odo.
Cædmon nickte beschämt. »Ich fürchte, so könnte es sein.«
»Schickt Ihr trotzdem einen Boten. Sagt Ihr, ich mache sie reich.« Cædmon mußte lachen. »Mit Geld werdet Ihr sie nicht ködern können, Monseigneur.«
»Dann sagt Ihr, ich werde Ihr keinen Wunsch abschlagen. Sagt Ihr, was immer nötig ist. Nur, ich will diesen Teppich!«
»Ich werde sehen, was sich machen läßt«, versprach Cædmon, aber in Wirklichkeit hatte er wenig Hoffnung.
Sie redeten noch ein wenig über dies und das, über England, Schottland, die Normandie und das Maine, doch Odo verabschiedete sich bald. Ehe er sich abwandte, raunte er Cædmon zu: »Bleibt nicht zu lange hier bei ihr stehen, mein Freund. Ich werde Euch im Auge behalten, vergeßt das nicht.«
Die Hochzeit wurde ein wahrhaft prachtvolles Fest. Ralph de Gael war einer der führenden bretonischen Adligen in England. Sein Vater hatte schon König Edward treue Dienste geleistet, und Ralph selbst war vor beinah zehn Jahren mit William herübergekommen, besaß große Ländereien in Ost- und Südengland und, seit er das Erbe seines Vaters angetreten hatte, den riesigen Stammsitz der Familie in der Bretagne. Er war Earl of Norfolk und Suffolk und somit einer von Cædmons einflußreichsten Nachbarn. Seine Ehe mit Emma fitz Osbern verband ihn mit einem der mächtigsten normannischen Adelsgeschlechter und bedeutete einen wichtigen Schritt auf seinem Weg zu der herausragenden politischen Machtstellung, die er offenbar anstrebte. Der König hatte den Tod des alten Gael zutiefst bedauert. Der junge Ralph tat sein Bestes, dem König den treuen Vasallen zu ersetzen.
Als die Gesellschaft sich zum Hochzeitsmahl setzte, ließ Cædmon den Blick über die feingekleideten Damen und Ritter schweifen und dachte darüber nach, daß der König sich irgendwann damit würde abfinden müssen, daß ein Generationenwechsel stattfand. Er tat sich letztlich keinen Gefallen, wenn er die erwachsenen Söhne seiner langjährigen Weggefährten ständig ignorierte und überging. Das galt nicht zuletzt für Etiennes Bruder Roger, der gerade auf ihn zuwankte und sich ihm gegenüber auf einen freien Platz sinken ließ.
»Cædmon.«
»Roger.«
»Ist es nicht herrlich, wenn zwei Menschen heiraten?«
Cædmon beäugte ihn argwöhnisch. »Ich hoffe, Ihr wollt Euch nicht der Zermürbungskampagne anschließen, die Bischof Odo gegen mich führt?«
Roger blinzelte. »Was?«
»Oh … gar nichts. Ja, eine Hochzeitsfeier ist immer eine bewegende Sache.«
»Hm. Ich wünschte, Etienne wäre hier. Er wäre so froh, unsere Emma so strahlend und glücklich zu sehen.«
»Das glaube ich auch.«
Roger sah ihn eulenhaft an. »Er liebt Euch mehr als jeden seiner Brüder, wißt Ihr. Etienne, meine ich.«
»Ja, ja. Ihr seid sturzbetrunken, Roger.«
»Stimmt. Würdet Ihr mir einen Gefallen tun?«
»Wenn er sich im Rahmen vernünftiger Grenzen bewegt, sicher.«
»Ihr geht zurück an den Hof, richtig?«
Cædmon nickte. »Ich bleibe ein paar Tage in Helmsby, wo ich schon mal in der Nähe bin, aber dann kehre ich nach Winchester zurück.« »Würdet Ihr meine Schwägerin mitnehmen?«
»Wie bitte?«
»Aliesa. Sie sollte mit mir nach Hereford zurückkommen, aber …«, er kicherte verschwörerisch, »ich habe unterwegs ein paar Dinge zu erledigen, wobei ich keine Zeugen gebrauchen kann, versteht Ihr.«
»Natürlich. Wer ist denn die Glückliche?«
Fitz Osbern grinste entwaffnend. »Tut Ihr mir den Gefallen?«
Cædmon schüttelte mißbilligend den Kopf. »Wie stellt Ihr Euch das vor? Ich reise allein und …«
»Oh, keine Bange. Ich gebe Euch eine Wache zur Begleitung mit und finde eine Anstandsdame für Aliesa.«
»In dem Falle, bitte.«
Fitz Osbern atmete erleichtert auf. »Ich wußte, auf Euch ist Verlaß.«
Cædmon konnte sein Glück kaum fassen. Nur begleitet von zwei von fitz Osberns Rittern und Ralph de Gaels fünfzehnjähriger Cousine Anne, die nach dem tödlichen Jagdunfall ihres greisen Gatten und einer angemessenen Trauerzeit nun an den Hof und damit auf den Heiratsmarkt zurückkehrte, brachte er Aliesa am nächsten Tag nach Helmsby und erfüllte sich damit einen langgehegten Traum.
Es waren etwa zwanzig Meilen von Exning, doch weil sie fast den ganzen Weg der königlichen Straße folgen konnten, die London mit Norwich verband, und weil die Damen nichts dagegen hatten, zügig zu reiten, war es kaum mehr als ein halber Tagesritt.
Aliesa sah sich mit leuchtenden Augen um. »Wer behauptet, East Anglia sei ein flaches Ödland?«
»Euer Bruder, zum Beispiel, Madame«, antwortete Cædmon.
»Aber meine Augen sehen dort drüben eine Hügelkette.« Sie wies auf die welligen Anhöhen östlich von Exning.
»Man nennt sie die ›Downs‹«, erklärte er. »Und die Leute sagen, das Gras auf diesen Hügeln würde bis in den Himmel wachsen, wenn die Schafe es nicht abfräßen. Wenn man ein Stück in die Downs reitet, kommt man an einem Steilhang mit einem Weißen Pferd vorbei.«
»Ein weißes Pferd?«
Cædmon nickte. »Es gibt sie hier und da in ganz England. Irgendwer hat vor langer Zeit das Gras und Gebüsch auf diesem Hügel so zurückgeschnitten, daß der kreideweiße Felsen darunter sichtbar wird, und zwar in Form eines Pferdes. Irgendwer schneidet es immer noch bei.« Aliesa schnalzte in gespielter Mißbilligung mit der Zunge. »Das klingt sehr heidnisch. War es nicht der Gott Odin, dem Eure Vorfahren Pferdeopfer darbrachten?«
»Stimmt. Genau wie Eure Vorfahren.« Sie lachten, aber dann fuhr er kopfschüttelnd fort: »Die Weißen Pferde waren schon lange vor der Ankunft der Angelsachsen hier. Ich vermute, das Alte Volk hat sie gemacht.«
»Und was ist das dort drüben?« Sie wies nach links, wo sich im typisch flachen Gras- und Schilfmeer der Fens ein langgezogener Wall bis zum Horizont erstreckte. »Es sieht beinah aus wie von Menschenhand gemacht.«
»Ist es auch. Die Leute hier nennen es den Teufelsdeich. Es heißt, die Angeln von East Anglia haben ihn zum Schutz gegen ihre nördlichen Nachbarn in Mercia gebaut, kurz nach der Besiedlung.«
»Wer waren denn diese nördlichen Nachbarn? Sachsen? Jüten?«
»Nein, auch Angeln. Aber sie haben sich trotzdem nicht vertragen.« Er hob lächelnd die Schultern. »Damals waren wir ein kriegerisches Volk und ließen uns nicht so einfach erobern wie heute.«
Er war nicht wirklich überrascht, daß sie zu den wenigen Menschen gehörte, die der stillen Gleichförmigkeit der Fens etwas abgewinnen konnten. Sie hatten in so vieler Hinsicht den gleichen Geschmack; es hätte ihn eher gewundert, wenn Aliesa die leise Melancholie der Landschaft nicht als angenehm und erholsam empfunden hätte, so wie er es tat. Ebensowenig überraschte es ihn zu erleben, wie sie das Herz seines wackeren Vetters Alfred im Sturm eroberte.
»Willkommen daheim, Thane«, sagte dieser, als er sie wie üblich am Tor begrüßte.
Cædmon saß ab. »Danke, Alfred.« Er half Aliesa aus dem Sattel und führte sie zu ihm. »Aliesa, dies ist mein Cousin Alfred, mein Steward«, sagte er auf normannisch und zu Alfred gewandt auf englisch: »Aliesa fitz Osbern, die Frau meines Freundes Etienne.«
»Schade«, murmelte Alfred, ehe er sich verneigte und seinen gesamten normannischen Wortschatz zum besten gab: »Enchanté, Madame.« Aliesa reichte ihm mit einem leisen Lachen die Hand und sagte in fließendem, fast akzentfreiem Englisch: »Ich bin geschmeichelt, Alfred.«
Alfred errötete bis in die Haarwurzeln, nahm die Hand wie in Trance und schüttelte sie emsig. Cædmon sah Aliesas verwirrtes Blinzeln und hatte Mühe, sich ein Lachen zu verbeißen.
»Ihr sprecht unsere Sprache, Madame?« fragte Alfred entzückt.
»Ich lebe seit beinah zehn Jahren in England. Es ist meine Heimat. Ich müßte mich schämen, wenn ich in all der Zeit seine schöne Sprache nicht erlernt hätte.«
Alfred grinste. »Wenn alle Normannen so denken würden, wären sie so damit beschäftigt, sich zu schämen, daß ihnen gar keine Zeit mehr bliebe, uns auszupressen.«
Cædmon seufzte leise. »Alfred …«
Aber Aliesa hob gebieterisch die Hand. »Es ist schon gut, Cædmon. Euer Vetter hat völlig recht.« Sie nahm Alfreds Arm, da er keine Anstalten machte, ihn ihr zu reichen, und führte ihn über den Hof Richtung Zugbrücke. »Und wie geht es Eurem Vater, dem berühmten Onkel Athelstan, von dem ich schon so viel gehört habe …«, hörte Cædmon sie noch sagen. Er sah ihr einen Augenblick verträumt nach, ehe er sich seiner anderen Gäste entsann und mit einiger Verspätung auch der jungen Witwe aus dem Sattel half.
Nicht nur Onkel Athelstan, sondern ganz Helmsby lag Aliesa zu Füßen. Dabei gab sie sich keine besondere Mühe, irgendwen für sich einzunehmen, war weder auffallend leutselig zum Gesinde, noch zeigte sie größeres Interesse an Cædmons Housecarls oder deren Frauen. Sie war schließlich nur ein Gast auf der Durchreise, und auch wenn die Leute sie mit Ehrfurcht und Neugier betrachteten, weil sie eine normannische Adlige und Vertraute der Königin war, signalisierte sie doch allen, daß es unpassend wäre, ein allzu großes Gewese um ihren Besuch zu machen. Nur Cædmons Familie begegnete sie mit echter Herzlichkeit und fand bei jedem exakt den richtigen Ton: gutmütigen Spott für den stammelnden, ständig errötenden Alfred, Hochachtung für den zutiefst geschmeichelten Onkel Athelstan, aufrichtige Verehrung für Marie, die mit größerer mütterlicher Wärme reagierte, als sie ihrer eigenen Tochter in den letzten Jahren je hatte angedeihen lassen.
»Ich bin froh, Euch so glücklich und wohlauf zu sehen, mein Kind.« »Danke, Madame. Für mein Wohlbefinden stehe ich immer noch in Eurer Schuld.«
Marie tätschelte ihr den Arm. »Gott, das ist so lange her. Und seither?« Aliesa schlug die Augen nieder und schüttelte den Kopf.
»Nun, für Eure Gesundheit ist es zweifellos das beste so. Aber gewiß eine Enttäuschung für Euren Gemahl.«
»Ja, ich fürchte, so ist es.«
»Er ist mit dem König auf dem Kontinent?«
Aliesa nickte. »Er hofft, daß sie vor Weihnachten zurückkommen …« Cædmon saß mit dem Rücken zur Halle und dem Gesicht zum Feuer auf der Bank, spielte leise auf der Laute, hörte ihnen zu und wunderte sich nicht zum erstenmal darüber, wie mühelos normannische Frauen in scheinbarer Aufrichtigkeit plaudern konnten und dabei jegliche brisante Themen umschifften, selbst wenn sie beide an nichts anderes dachten. Gewiß fand Marie Aliesas Besuch in Helmsby verwerflich und unklug. Gewiß hätte Aliesa ihr gerne erklärt, daß es weder ihre noch Cædmons Idee gewesen war. Doch sie wären im Traum nicht darauf gekommen, sich diese Dinge zu sagen.
Er hatte ihr großmütig seine Kammer überlassen und sich bei Alfred einquartiert. Als sein Vetter schlief, stand er leise auf und schlich zu ihr. Die Nacht war sehr warm, und Aliesa hatte sowohl den Bettvorhang als auch den Fensterladen weit geöffnet. Der volle Erntemond schien herein und tauchte den Raum in silbriges Licht. Das ausladende Bett warf tiefblaue Schatten.
Langsam trat er darauf zu und sah einen Moment auf sie hinab, beinah andächtig. Sie saß aufgerichtet an das breite Kopfteil gelehnt, ein Kissen im Nacken. Die dunkle Haarflut hing offen herab und reichte bis auf den Schoß ihres weißen Hemdes. Der Anblick machte seine Kehle eng.
Er kniete sich auf die Bettkante, zog sie ungeduldig in die Arme und küßte sie.
Ihre Finger verschränkten sich in seinem Nacken, und er spürte den nachgiebigen, aber doch so wunderbar festen Druck ihrer Brüste. Er ließ die Hand unter den Saum ihres Hemdes gleiten und schob es hoch. Aliesa löste ihre Lippen von seinen. »Ich war nicht sicher, ob du kommen würdest«, flüsterte sie.
Er hob verblüfft den Kopf. »Wie konntest du daran zweifeln?«
»Man erzählt sich, du habest ein Keuschheitsgelübde abgelegt. Die Meinungen gehen allerdings auseinander, ob für ein Jahr, zwei oder länger.«
Er lachte leise und schob die Träger über ihre Schultern, sah gebannt zu, wie der spitzenbesetzte Ausschnitt abwärts glitt. »Die Mär vom Keuschheitsgelübde ist das letzte Bollwerk gegen meine drohende Eheschließung mit Beatrice Baynard. Es war nicht einmal schwierig, das Gerücht in die Welt zu setzen.« Jeder war geneigt, es zu glauben, da alle Welt wußte, daß Cædmon of Helmsby den Bau einer steinernen Kirche begonnen hatte. Ein kostspieliges Unterfangen, und man war sich allgemein darüber einig, daß es sich um eine Buße handeln müsse, die er selbst oder auch sein Beichtvater ihm für irgendeine schwere Sünde auferlegt hatte – auch wenn leider niemand sagen konnte, worum es sich dabei handelte –, und zu der eben auch das besagte Keuschheitsgelübde gehörte. »Es war ein segensreicher Einfall. Sogar der König glaubt es, und jetzt kann nicht einmal er mir wegen Beatrice die Hölle heiß machen.«
Aliesa umfaßte seine abwärts wandernden Hände und schob sie weg. »Besser, du machst aus der Lüge Wahrheit.«
Er ließ die Hände sinken und sah sie an. »Was hast du?«
»Gar nichts. Aber Etienne ist seit einem halben Jahr auf dem Kontinent, Cædmon. Wenn ich jetzt schwanger würde, hätten wir wirklich ein Problem.«
Er streckte sich seufzend neben ihr aus und zog sie zu sich herunter. »Ja, ich weiß. Du wirst nicht schwanger werden, sei unbesorgt.«
»Aber wie willst du das verhindern?«
»Wie?« Er lachte leise. »Komm her, du Unschuldslamm, und ich zeig’ es dir.«
Er ritt mit ihr nach Helmsby und führte sie zur Baustelle seiner Kirche. Aliesa zeigte sich tief beeindruckt. »Du meine Güte! Ich wußte nicht, daß du eine Kathedrale im Sinn hattest.«
Er warf ihr einen amüsierten Blick zu. »Nun übertreib nicht. Sie wird nicht viel größer als die Kapelle am Hof in Winchester.«
Aber er mußte selbst gestehen, daß die hohen, massigen Mauern des Chors mit der halb fertigen Apsis wuchtig wirkten, man kam sich in ihrem Schatten immer winzig und zerbrechlich vor. Er brachte sie ins Innere, wo die ersten vier der stämmigen Säulen errichtet worden waren, die eines Tages das Deckengewölbe tragen sollten. Jeder der runden Pfeiler hatte ein anderes Muster.
»Sie wird wunderschön, Cædmon«, sagte Aliesa mit aufrichtiger Begeisterung. »Und wie ich sehe, baust du in normannischem Stil.«
Er nickte. »Er ist dem angelsächsischer Kirchen weit überlegen. Normannische Kirchen sehen nicht nur besser aus, ihre Dächer stürzen auch seltener ein.«
Sie fuhr mit dem Finger das Zahnornament der vorderen linken Säule nach. »Ich hoffe, du verzeihst meine Offenheit, aber du mußt reicher sein, als ich angenommen hatte.«
Er lächelte geheimnisvoll. »Ich würde sagen, ich kann nicht klagen. Aber sie verschlingt alles, was ich verdiene.«
»Warum tust du es?«
Er verengte die Augen und sah scheinbar konzentriert zum Kapitell hinauf. »Ich habe ein Geschäft mit Gott gemacht. Ich habe ihn um etwas gebeten und im Gegenzug diese Kirche geboten.«
»Also hast du bekommen, worum du gebeten hast?«
»O ja.«
»Verrätst du mir, was es war?«
»Tut mir leid. Gott und ich haben Stillschweigen vereinbart.«
Sie lachte leise. »Ich hoffe jedenfalls, daß du trotz der hohen Kosten mit dem Geschäft zufrieden bist.«
»Das bin ich. Anders als meine armen Bauern. Sie fanden die alte Kirche völlig ausreichend, und sie sind gar nicht glücklich über all die fremden Handwerker in Helmsby, ganz zu schweigen von einem normannischen Baumeister.«
»Wer ist er?«
»Turold von Canterbury. Lanfranc hat ihn mir geliehen. Obwohl seine neue Kathedrale noch längst nicht fertig ist, aber er sagte, er habe Baumeister im Überfluß.«
»Vermutlich hat dein Bruder ein gutes Wort für dich eingelegt.«
»Wahrscheinlich.« Er reichte ihr seinen Arm. »Komm, laß uns gehen. Sieh dich vor, der Boden liegt voll zerbrochener Mauersteine.«
Vor der Kirche trafen sie Vater Cuthbert und Offa, den Schmied. Cædmon stellte Aliesa vor und redete ein paar Sätze mit den beiden Männern. Aliesa staunte über den ungezwungenen Umgangston zwischen dem Thane und den einfachen Leuten von Helmsby. Sie begegneten ihm mit Respekt, aber ohne alle Scheu, und es war unschwer zu erkennen, daß sie sich freuten, ihn zu sehen. Wie anders ist es mit Etiennes Bauern in Cheshire oder Herefordshire, fuhr es ihr durch den Kopf. Obwohl er ein so nachsichtiger Dienstherr war und nicht duldete, daß auf seinen Gütern irgendwer schlecht behandelt wurde, ganz gleich ob Pächter oder Sklave, zitterten sie doch alle vor ihm wie die Hühner vor dem Fuchs. Und das würde niemals besser werden, solange er ihre Sprache nicht beherrschte. Aber er lehnte es ab, darüber zu debattieren. »Dafür habe ich meine Stewards«, wandte er jedesmal ein …
»Aliesa, träumst du?«
»Entschuldige. Was sagtest du?«
»Ich bringe dich zur Burg zurück und reite dann weiter nach Metcombe«, wiederholte Cædmon geduldig.
»Zu ihr«, fügte sie hinzu. Weder ihre Stimme noch ihr Blick verrieten ihre Eifersucht. Sie hatte es verstanden, sie zu verbergen, seit Cædmon ihr zum erstenmal von Gytha erzählt hatte. Denn er hatte noch niemals das geringste Anzeichen von Eifersucht auf ihren Mann erkennen lassen. Und was er konnte, konnte sie schon lange.
»Zu meinen Söhnen«, korrigierte er ohne besonderen Nachdruck.
»Nimm mich mit«, bat sie impulsiv. »Ich würde die beiden so gerne kennenlernen.«
»Das wirst du. Ich bringe sie für ein paar Tage mit nach Helmsby. Aber es ist besser, du läßt mich alleine reiten. Es wäre nicht schicklich, wenn du und ich für Stunden zusammen im Wald verschwinden.«
In der Mühle herrschte Hochbetrieb. Das ganze Gebäude war von einem dichten Nebel aus Mehlstaub erfüllt, der durch die Ritzen in der Holzdecke aus dem Obergeschoß rieselte, wo der Mühlstein sich drehte, und aus den Säcken unter dem Trichter im Erdgeschoß aufwirbelte. Das eigentliche Mahlgeräusch wurde übertönt vom unablässigen Quietschen des Mühlrades und dem zischenden Tosen und Schäumen des Ouse, der es antrieb.
Cædmon blieb an der Tür stehen. Er hatte kein gesteigertes Interesse daran, von Kopf bis Fuß eingestäubt zu werden. »Hallo? Hengest! Gytha!«
Er hörte rennende Schritte in seinem Rücken und wandte sich um. »Vater! Vater!«
Der sechsjährige Ælfric lief über die Dorfwiese auf ihn zu, sein zwei Jahre jüngerer Bruder folgte ihm, so gut er konnte.
Ælfric sprang ungestüm, und Cædmon fing ihn lachend auf. »Ælfric! Wie geht es dir, mein Sohn?«
»Warst du im Krieg, Vater? Wie lange kannst du bleiben?«
Cædmon stellte seinen quirligen Ältesten auf die Füße und fuhr ihm über die samtweichen, blonden Kinderlocken. Ælfric erinnerte ihn immer an Eadwig in diesem Alter. Cædmon war sich nicht bewußt, wie sehr der Junge ihm selbst glich. »Nein, in England ist derzeit kein Krieg, Gott sei Dank. Aber es kann nicht lange dauern, bis der nächste Unruheherd uns alle wieder aufschreckt.«
Er stützte die Hände auf die Oberschenkel und beugte sich zu seinem jüngeren Sohn herab. »Nun, Wulfnoth?«
Der kleine, elfenhaft schmale Junge krallte die Hand um den Mantelsaum seines Vaters, sah ernst zu ihm auf und sagte kein Wort.
Cædmon legte ihm leicht die Hände auf die Schultern und küßte ihn auf die Stirn. »Weißt du, wer ich bin?«
Wulfnoth nickte. »Vater.«
»Und trotzdem hast du Angst vor mir?«
Der Junge schüttelte den Kopf so nachdrücklich, daß die dunkelblonden Haare flogen.
Cædmon mußte lächeln. »Gut. Ich hatte gedacht, ich nehme euch für ein paar Tage mit nach Helmsby. Aber wenn dir das nicht geheuer ist und du lieber bei deiner Mutter bleibst, sag es ruhig.«
Wulfnoth äußerte sich nicht, sah nur unverwandt zu ihm auf. Cædmon konnte den Blick nicht deuten. Er kannte seine Söhne nur so flüchtig. Hengest trat aus der Mühle, kam lächelnd auf sie zu und wischte sich die Hand an der Kleidung ab, ehe er sie Cædmon reichte. »Thane.« »Hengest.«
Der Müller sah zu Ælfric. »Lauf, hol deine Mutter.«
Der ältere der beiden Jungen ging folgsam ins Haus.
Hengest und Cædmon setzten sich auf die Bank vor der Mühle und fanden nichts zu sagen, wie meistens in den letzten Jahren. Hengest nahm Cædmon übel, welche Rolle er bei der Niederschlagung des letzten angelsächsischen Widerstandes in Ely gespielt hatte. Er wußte natürlich nicht genau, was sich im einzelnen abgespielt hatte. Aber Edwin of Mercia war tot, Morcar ein Gefangener in Rouen, Hereward »der Wächter« seit Jahren spurlos verschwunden. Und Cædmons eigener Bruder war tot, während Cædmon selbst lebte und höher denn je in der Gunst des normannischen Königs stand. Mehr brauchte Hengest nicht zu wissen. Cædmon seinerseits verübelte dem Müller seine rebellische Gesinnung. Vor allem aber verübelte er ihm, daß er Gytha geheiratet hatte. Auf Etienne fitz Osbern war er niemals wirklich eifersüchtig. Er dachte so selten wie möglich daran, was sich zwischen Etienne und Aliesa abspielte, aber die Tatsache an sich hatte ihn nie wütend gemacht. Hengest hingegen hätte er am liebsten den Hals umgedreht. Dabei war es doch Aliesa, die er liebte, nicht Gytha. Er hatte ungezählte schlaflose Nächte damit zugebracht, seine Gefühle zu erforschen und zu versuchen, diesen eigentümlichen Widerspruch zu begreifen. Aber alles, was er erreicht hatte, war, zu der Erkenntnis zu gelangen, daß der Verstand in diesen Angelegenheiten keine große Rolle spielte.
»Ihr wollt die Jungs mit nach Helmsby nehmen?« fragte Hengest. Es klang neutral, aber die Furchen auf seiner Stirn hatten sich fast unmerklich vertieft.
»Wenn ihre Mutter einverstanden ist, ja.« Er wollte nicht deutlicher werden. Aber was er meinte, war: Was geht es dich an?
Hengest sah auf das kleine Kleefeld in der Wiese vor ihnen und nickte. »Kann ich Euch ein Bier anbieten, Thane?«
Früher hast du es geholt, ohne zu fragen. »Nein, vielen Dank.«
Beide Männer waren erleichtert, als Gytha aus der Mühle kam. Sie führte den dreijährigen Hengest an der Hand und hielt den sechs Monate alten Oswin im Arm. Ælfric folgte ihr dicht auf den Fersen, und Wulfnoth glitt unauffällig an ihre Seite.
Cædmon erhob sich und trat lächelnd zu ihr. »Gytha.«
»Da bist du also.« Sie sah ihm nicht in die Augen.
»Da bin ich«, sagte er mechanisch. Er sah auf das schlafende Baby in ihren Armen, und als er den Kopf hob, trafen sich ihre Blicke unbeabsichtigt. Er lächelte. »Du bist wirklich reichlich mit Söhnen gesegnet.« Auch ihre Mundwinkel verzogen sich verräterisch nach oben. »Es kommt wieder eins. Ich bete, daß es eine Tochter wird. Du kannst dir nicht vorstellen, wie gern ich ein kleines Mädchen hätte.«
Er nickte. »Nun, dann werden es vermutlich Zwillingssöhne.«
Sie lachte ihr glockenhelles Mädchenlachen. Dann fragte sie: »Ælfric sagt, du willst ihn und Wulfnoth für eine Weile mitnehmen?«
»Wenn du einverstanden bist, ja.«
»Wir haben jetzt viel Arbeit hier in der Mühle«, bemerkte Hengest, der immer noch in seinem Rücken auf der Bank saß. »Wir können eigentlich nicht auf Ælfric verzichten.«
Cædmon wandte sich nicht um. Zu Gytha sagte er: »Aber Ælfric wird niemals Müller von Metcombe werden, das wissen wir alle.«
Gytha nickte und verzichtete darauf, die durchaus berechtigte Frage zu stellen, was statt dessen aus Ælfric werden sollte. Und aus Wulfnoth. Vermutlich hätte sie es getan, wenn sie allein gewesen wären. Aber Hengests Anwesenheit machte sie befangen. Pflichtschuldig sah sie zu ihrem Mann hinüber. »Ich bin einverstanden, wenn du es bist.«
Der Müller nickte, ohne zu zögern. »Schön, meinetwegen.«
Es gefiel Cædmon nicht, daß seine Söhne ihm erst auf Erlaubnis des Müllers übergeben wurden, und er rächte sich, indem er nur sagte: »Dann verabschiedet euch von eurer Mutter, Jungs.«
Er hatte wenig Übung darin, ein Vater zu sein, aber als sie in Helmsby waren, lief es reibungsloser als erwartet. Aliesa entwickelte sofort eine Schwäche für den stillen, verschüchterten kleinen Wulfnoth, der mehr Ähnlichkeit mit seiner Mutter als mit dem Letzten der Godwinsons hatte, dessen Namen er trug. Der ungestüme, lebhafte Ælfric fand in seinem Onkel Alfred und seinem Großonkel Athelstan dicke Freunde. So blieb Cædmon genügend Zeit, sich den vernachlässigten Geschäften seiner inzwischen so komplizierten Gutsverwaltung und dem Bau seiner Kirche zu widmen, obwohl er sich bemühte, jede Mußestunde mit seinen Söhnen zu verbringen. Bald hatte sein Tagesablauf sich eingespielt. Zum erstenmal seit vielen Jahren genoß er es, in Helmsby zu sein. Er war seltsam unbeschwert. Mit der beiläufigen Leichtigkeit eines Jongleurs teilte er seine Tage zwischen seinen vielen Aufgaben und seinen Söhnen auf. Und die Nächte gehörten Aliesa.
Eine bislang ungekannte Vertrautheit hatte sich zwischen ihnen entwickelt. Ihre vertrackte Situation quälte sie, es war eine allabendliche, beinah rituelle Prüfung, das Bett zu teilen ohne den eigentlichen Akt zu vollziehen. Doch die Dinge, die sie statt dessen taten, waren auf eigentümliche Weise persönlicher. Und sie redeten viel. Mehr als je zuvor. Sie saßen im Bett, mit angezogenen Knien und ans Kopfteil gelehnt, teilten einen Becher Wein oder Bier und redeten bis kurz vor Sonnenaufgang.
»Cædmon?«
»Hm?«
»Was hast du für Pläne mit deinen Söhnen?«
»Oh, ich weiß noch nicht. Ich hoffe, daß sie eines Tages als Knappen an den Hof kommen, wenn Richard König wird. Ich meine, sie mögen nur Bastarde sein, aber vermutlich die einzigen Söhne, die ich je haben werde. Wenn es nach mir geht, soll Ælfric als mein Erbe Thane of Helmsby werden. Und Wulfnoth?« Er hob langsam die Schultern. »Er ist so ernst und still. Wie Guthric früher. Vielleicht stellt er eines Tages fest, daß er berufen ist.«
Aliesa nickte versonnen »Was auch immer du vorhast … Ich hoffe, du bist nicht ärgerlich, wenn ich dir einen Rat gebe?«
Er schüttelte den Kopf. »Wenn es ein guter Rat ist, nein.«
Sie lächelte schwach. »Es ist mir ernst, Cædmon.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Schick sie nicht zurück nach Metcombe. Wenn du wünschst, daß eines Tages Ritter aus ihnen werden, sollten sie nicht unter Bauern leben.« »Nun, noch sind sie sehr klein. Und sie brauchen ihre Mutter.«
»Aber der Müller behandelt sie nicht gut.«
Er hob den Kopf. »Was heißt das?«
Sie zuckte ungeduldig mit den Schultern. »Was glaubst du wohl? Er prügelt sie. Vor allem Wulfnoth.«
Cædmon winkte ab. »Darüber mach dir keine Sorgen. Jungen geraten außer Rand und Band, wenn man es nicht tut, glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Mein Vater hat damit auch nie gegeizt, und es hat keinem von uns geschadet.«
»Nein«, stimmte sie sarkastisch zu. »Es hat nur einen gefühllosen Klotz aus dir gemacht.«
»Aliesa …«
Sie hob gebieterisch die Hand. »Sieh ihn dir an. Sieh ihn dir einmal genau an, und dann urteile selbst.«
»Herrgott noch mal …« Ein Klopfen ließ ihn jäh verstummen.
Sie wechselten einen entsetzten Blick. Es klopfte noch einmal.
Aliesa sah hilflos zu Cædmon, räusperte sich und fragte mit vorgeblich schlaftrunkener Stimme: »Was gibt es denn?«
»Cædmon, ich weiß, daß du da drin bist«, rief Alfred gedämpft. »Es tut mir leid, daß ich mich nicht länger blind und taub stellen kann, aber Waltheof of Huntingdon ist unten in deiner Halle und besteht darauf, dich sofort zu sprechen.«
Cædmon machte eine beruhigende Geste und flüsterte: »Sei unbesorgt. Auf Alfred ist Verlaß.« Dann rief er: »Ich komme sofort.«
Er schwang die Beine aus dem Bett und griff nach seinen Hosen.
Aliesa umfaßte seinen Arm. »Was immer Waltheof of Huntingdon von dir will, sei vorsichtig.«
Er streifte die Hosen über und stand auf. »Wieso?«
Sie lehnte sich in die Kissen zurück. »Tu einfach, was ich sage.«
»Tue ich das nicht immer?«
Waltheof of Huntingdon war der letzte der großen angelsächsischen Earls, der noch in Amt und Würden war, obwohl oder vielleicht auch gerade weil er nie eine so herausragende Rolle wie das Haus von Mercia oder das Haus Godwinson gespielt hatte. Der König schätzte ihn sehr. Waltheof hatte gute Verbindungen nach Northumbria – sein dänischer Vater Siward war dort einst Earl gewesen –, und obwohl er vor sechs Jahren den Aufstand im Norden unterstützt hatte, hatte William ihm nicht nur verziehen, sondern ihn kürzlich gar zum Earl of Northumbria ernannt, in der Hoffnung, daß Siwards Sohn vielleicht gelingen könnte, was keiner vor ihm bewerkstelligt hatte, nämlich die Unruheprovinz mit dem normannischen Regime auszusöhnen. Waltheof hielt sich jedoch weitaus lieber auf seinen Gütern in Huntingdon und Northamptonshire auf als im rauhen Norden und war somit Cædmons Nachbar.
Cædmon eilte mit einem Öllicht in der Hand die Treppe hinunter und fragte sich beunruhigt, was dieser ungewöhnliche Besuch zu dieser noch ungewöhnlicheren Stunde zu bedeuten hatte.
»Waltheof! Seid gegrüßt.«
»Entschuldigt die nächtliche Störung, Cædmon.«
»Euer Besuch ist mir immer eine Ehre, Mylord, egal um welche Tageszeit.«
»Das werdet Ihr nicht wiederholen, wenn Ihr gehört habt, was ich zu sagen habe.«
Cædmon sah ihn einen Moment an. Waltheof hatte äußerlich keinerlei Ähnlichkeit mit seinem blonden, meeräugigen Wikingervater, der, wollte man der Legende glauben, groß wie ein Troll gewesen war und in seinen zahllosen Kriegen gegen König Macbeth die Schotten dutzendweise mit der bloßen Faust erschlagen hatte. Waltheof war vielleicht Mitte Dreißig und schon fast kahl. Was ihm von seinem Haar geblieben war, war nach normannischer Sitte geschoren und mausgrau. Er war hühnerbrüstig und auf dem linken Auge fast blind. Aber Cædmon wußte, es wäre ein Fehler gewesen, sich von der äußeren Erscheinung täuschen zu lassen.
»Laßt mich Euch einen Becher Met holen, Ihr seid ja ganz außer Atem.«
Waltheof schüttelte den Kopf und nahm seinen Arm. Er ruckte sein Kinn zu den reglosen Gestalten, die entlang der Wände im Stroh lagen. »Können wir irgendwohin gehen, wo wir ungestört sind?«
Cædmon nickte und nahm von Alfred dankend zwei gefüllte Becher entgegen. »Folgt mir, Mylord.«
Er führte Waltheof ins oberste Stockwerk der Burg in eine kleine Schreibstube, wo Alfred und Vater Odric, Cædmons schreibkundiger Hauskaplan, die Bücher der Gutsverwaltung führten. Die Luft stand in der kleinen Kammer, es war heiß und stickig. »Verzeiht den bescheidenen Rahmen, aber ich habe Gäste, und mein Haus ist voll. Hier sind wir unter uns.«
Waltheof nickte, trank dankbar an dem Becher, den Cædmon ihm in die Hand gedrückt hatte, und begann unvermittelt: »Es gibt eine Verschwörung, Cædmon.«
Cædmon ließ seinen Becher sinken und nahm beiläufig wahr, daß sein Herzschlag sich beschleunigte. »Von wem gegen wen?«
»Gegen den König natürlich. Sie wollen seine Abwesenheit ausnutzen, um England auf einen Streich unter ihre Kontrolle zu bringen.«
»Wer sind sie?«
Waltheof sah ihm in die Augen. »Ralph de Gael und Roger fitz Osbern.« Cædmon brach in schallendes Gelächter aus.
Waltheof runzelte ärgerlich die Stirn. »Ja, seht Ihr, das ist der Grund, warum ich zu Euch gekommen bin, statt sofort zu Lanfranc zu reiten. Niemand wird es glauben. Das ist ihr großer Vorteil. Niemand wird es für möglich halten, bis es passiert ist.«
Cædmon sah ihn unsicher an. »Aber wie kommt Ihr nur auf einen solchen Gedanken? Welchen Grund könnten sie haben, den König entmachten zu wollen? Kaum jemand steht so hoch in seiner Gunst wie gerade diese beiden, kaum jemand hält mehr Land in England.«
»Und vielleicht hat genau das sie gierig gemacht. Ich weiß nicht, warum. Sie wollen mehr Macht, als der König irgendeinem seiner Vasallen zugesteht. Es mißfällt ihnen, daß die Sheriffs als Vertreter der Krone die Macht der Earls in ihren Grafschaften beschneiden. Sie sind es satt, William ständig seine Feldzüge zu finanzieren. Und sie finden plötzlich, daß kein Bastard auf dem Thron einer christlichen Nation sitzen sollte. Philip hat hier seine Hand mit im Spiel, versteht Ihr.«
»Der König von Frankreich?« fragte Cædmon beinah tonlos.
»Wer sonst? Er ist erwachsen geworden, Cædmon, und es gefällt ihm nicht, daß er im Norden einen Nachbarn hat, der mächtiger ist als er. Er paktiert mit Flandern und den Aufständischen im Maine. Jetzt hat er seinen begehrlichen Blick auf die Bretagne gerichtet. Und in der Bretagne ist Ralph de Gael ein sehr einflußreicher Mann.«
Cædmon räusperte sich. »Woher wißt Ihr das alles?«
Waltheof sah ihm in die Augen. »Sie haben mich auf der Hochzeit vor zwei Wochen eingeweiht. Sie brauchen Northumbria, sonst kann ihr Plan nicht funktionieren.«
»Ihr wißt es seit zwei Wochen?«
»Ihr müßt verstehen, Thane, diese Männer haben nicht völlig unrecht mit dem, was sie sagen, und ich mußte abwägen …« Er brach unvermittelt ab, als Cædmon einen Schritt zurücktrat und den Inhalt seines Bechers demonstrativ ins Stroh am Boden schüttete.
»Jedes Wort, das Ihr aussprecht, ist Verrat.«
»Und was für ein König ist es, den man nicht kritisieren darf, ohne ein Verräter zu sein?«
»Ihr kritisiert ihn nicht, Ihr wollt ihn stürzen. Obwohl er Euch mit Ehren und Gunstbeweisen regelrecht überhäuft hat! Euch mit seiner Nichte vermählt hat!«
»Aber ich bin doch zu Euch gekommen, um zu verhindern, daß es zum Schlimmsten kommt. Gerade wegen Judith.«
Cædmon schnaubte verächtlich. »Wenn es nicht schon zu spät ist.« Er schüttelte fassungslos den Kopf. »Gott, wißt Ihr eigentlich, was Ihr England antut? Ihr wart der letzte angelsächsische Earl, dem William zu trauen bereit war. Obwohl Edwin und Morcar ihn betrogen haben, von Harold Godwinson ganz zu schweigen. Euch hat er eine Chance gegeben. Und wie dankt Ihr es ihm? Es ist wahrlich kein Wunder, daß er das englische Volk mit Füßen tritt, wenn der englische Adel so ein schlechtes Licht auf das Volk wirft!«
Waltheof schien einen Augenblick versucht, mit Empörung zu reagieren und Cædmon daran zu erinnern, wen er vor sich hatte. Aber er konnte seinem Blick nicht standhalten. Seine Schultern sackten herab, und er nickte schuldbewußt. »Ihr sagt mit jedem Wort die Wahrheit. Reitet zu Lanfranc, Cædmon. Er wird es nicht bereitwilliger glauben als Ihr, aber Euer Bruder ist sein Vertrauter, und der Erzbischof hält große Stücke auf Euch und Eure Familie. Ihr müßt ihn überzeugen. Und er muß schnell handeln.«
Cædmon nickte grimmig. »Ihr könnt wetten, daß er das tut. Und jetzt sagt mir genau, was sie vorhaben.«
Waltheof schluckte. »Sie marschieren aus zwei Richtungen. Roger fitz Osbern kommt mit seinen Männern von Westen, Ralph zieht von hier aus los. Sobald sie sich vereinigt haben, wenden sie sich nach Süden.« Cædmon brummte verächtlich. »Wie können sie nur hoffen, erfolgreich zu sein? Wie viele Männer haben sie denn schon? Zweihundert? Dreihundert?« Er bekam keine Antwort und sah seinen kleinlauten Besucher argwöhnisch an. »Gibt es vielleicht noch etwas, das ich wissen sollte?«
Waltheof riß sich zusammen und hob den Kopf. »Sie haben den König von Dänemark um Unterstützung gebeten. Prinz Knut rüstet eine Flotte aus.«
Cædmon starrte ihn einen Augenblick sprachlos an. Dann sagte er leise: »Gott vergebe Euch, Waltheof.« Er wandte sich abrupt zur Tür, hielt sie auf und machte eine auffordernde Geste. »Nach Euch, Mylord«, sagte er sarkastisch.
Waltheof trottete vor ihm her die Treppe hinab. Alfred wartete mit besorgt gerunzelter Stirn am Eingang zur Halle. Cædmon wollte ihn bitten, seine Männer zu wecken, als er erkannte, daß sie alle bereits am hastig aufgeschürten Feuer standen, Becher und Brotstücke in den Händen hielten und sich leise murmelnd unterhielten.
Cædmon nickte Alfred dankbar zu und weihte ihn flüsternd ein.
Alfred war sichtlich erschüttert. »Was … was ist zu tun?«
»Ich muß sofort nach Canterbury.« Cædmon wandte sich kurz um. »Edric, geh und weck den Stallknecht und seinen Sohn. Sie sollen satteln, Widsith zuerst.«
»Ja, Thane.«
Cædmon sprach wieder zu Alfred: »Erkläre es meiner Mutter und Aliesa. Sei behutsam, Roger fitz Osbern ist Aliesas Schwager, es wird ein furchtbarer Schock für sie sein, aber ich muß einfach sofort aufbrechen.«
Alfred nickte. »Sei unbesorgt. Ich bring’ es ihr schon bei.« Er ruckte den Kopf in Waltheofs Richtung. »Was wird mit ihm?«
»Er kommt mit mir nach Canterbury, aber ich kann nicht auf ihn warten. Drei Mann sollen ihn hinbringen. Und sie dürfen ihn auf keinen Fall entwischen lassen, sonst sind wir in Schwierigkeiten.«
»Ich werde unter keinen Umständen …«, begann Waltheof entrüstet, aber Cædmon schnitt ihm das Wort ab. »O ja, Ihr werdet. Ihr habt es vielleicht noch nicht gemerkt, aber Ihr seid mein Gefangener, Mylord. Alfred, binde ihm die Hände.«
Alfred sah unsicher von einem zum anderen. »Ähm … Cædmon …« »Tu es!«
»Na schön.« Alfred fischte eine Lederschnur aus seinem Beutel und fesselte dem Earl die Hände, ohne ihm in die Augen zu sehen. Er tat es so untypisch zögerlich, als rechne er damit, daß Siwards legendäre Hammerfaust jeden Moment aus dem Jenseits auf ihn niederkrachen werde.
Cædmon nickte zufrieden. »Wulfstan soll in die Dörfer und zu den Gütern reiten. Alle sollen sich auf einen möglichen Däneneinfall einrichten. Wer sich Ralph de Gael anschließt, ist gut beraten, mir nie wieder unter die Augen zu treten. Und meine Söhne bleiben auf der Burg, bis diese ganze Sache vorbei ist.«
»Ja, Thane.«
»Schicke einen der Männer nach York. Wenn Erik dort ist, weiß er sicher längst, daß die Dänen kommen. Aber vielleicht ist er auf See. In dem Fall soll Hyld mit den Kindern hierherkommen.«
Alfred nickte. »Mach dich auf den Weg, Cædmon. Ich kümmere mich um alles, sei unbesorgt.«