Rouen, Dezember 1069

Auch in Abwesenheit des Herzogs und seiner Herzogin verzichtete man in Rouen nicht auf Prunk und Pomp zu den Weihnachtsfeierlichkeiten. Williams ältester Sohn Robert, der die Normandie in Abwesenheit seines Vaters inzwischen alleinverantwortlich verwaltete, hielt prachtvoll hof. Adlige, Ritter und Kirchenfürsten aus dem ganzen Land versammelten sich, und wie immer zog es zu Weihnachten auch die normannischen Abenteurer aus Sizilien nach Hause. Sie wurden in Rouen herzlich willkommen geheißen, und alle scharten sich neugierig um sie, um festzustellen, welch fremdländisches, heidnisches Zeug sie wieder mitgebracht hatten. Die größte Attraktion war dieses Jahr ein neuartiges Brettspiel mit kleinen Feldern aus Elfenbein und Ebenholz und verschiedenen Soldaten- und Reiterfiguren. Dieses Spiel hatte einen schier unaussprechlichen Namen, der irgend etwas mit dem Beherrscher der persischen Heiden zu tun hatte.

Das Willkommen für die Bettler war weniger herzlich, aber auch in diesem Punkt folgte Robert dem Vorbild seines Vaters: Jeder, der auf der Burg um Almosen bettelte, bekam eine Schale heißer Suppe und, wenn er Glück hatte, ein paar Abfälle von der hohen Tafel.

Eine große Schar Bettler war nach wie vor eine gute Tarnung. In ihrer Mitte und in ein paar Lumpen gehüllt war Cædmon unerkannt durchs Tor gelangt.

Er hielt seine Schale in gefühllosen Fingern, fror erbärmlich in der eisigen Kälte auf dem Burghof und dachte sehnsüchtig an seinen guten Mantel, den er mitsamt der Rüstung in London verkauft hatte, um Geld für die Überfahrt und Reiseproviant zu bekommen. Das meiste Geld war noch übrig. Ein guter Wollmantel und vor allem das Kettenhemd und der normannische Helm mit dem Nasenschutz waren ein kleines Vermögen wert.

Ein Küchenjunge sammelte die leeren Schalen ein und scheuchte die Bettler mit einer Geste weg, als wolle er eine Schar Krähen von einem Feld verjagen. »Packt euch! Macht Platz für die nächsten.«

Cædmon reichte ihm seine Schale, wandte sich ab und hinkte davon. Als er den Burghof zur Hälfte überquert hatte, glitt er im Schutz der Dunkelheit zum Hauptgebäude hinüber und betrat die Vorhalle. Sie war menschenleer. Er warf nervöse Blicke über die Schulter, während er die Treppen hinaufeilte, aber auch in den Gängen war niemand – vermutlich saßen alle beim Festmahl. Heute war das Fest der unschuldigen Kindlein, das an den Kindermord von Bethlehem erinnern sollte. In England war es der Tag, da die Kinder sich fast alles erlauben konnten, jeder Streich, jeder Unfug ungestraft blieb. Aber solche Disziplinlosigkeiten gab es in der Normandie natürlich nicht. Hier war es einfach der vierte Tag der zweiwöchigen Weihnachtsfeierlichkeiten.

Die langen Gänge wurden nur von wenigen Fackeln erhellt. Die Flammen flackerten in der ewigen Zugluft und warfen gespenstische, zuckende Schatten an die dunklen Mauern. Cædmon hastete weiter, seine Schritte hallten ein wenig unheimlich auf den nackten Steinfliesen. Trotz des schwachen Lichts hatte er keine Mühe, sich zu orientieren. Er war drei Jahre fort gewesen, aber diese Burg war ihm bis in jeden Winkel vertraut. Es befremdete ihn ein wenig, wie heimisch er sich hier fühlte. Ohne anzuklopfen schlüpfte er in die kleine Kammer. »Wulfnoth?« fragte er in den dunklen Raum hinein, während er die Tür schloß. »Bist du hier?«

Er bekam keine Antwort, tastete sich zum Tisch vor und zündete die Lampe an. Wulfnoths Quartier war unverändert bis auf einen schlichten, aber sorgfältig gearbeiteten Teppich an der Fensterwand, der zeigte, wie der heilige Josef von Arimathäa mit dem Jesuskind in England an Land ging. Cædmon fragte sich, wer ihn wohl gestickt hatte. Nicht gerade viele Leute außerhalb Englands wußten von der Kaufmannsfahrt, die den heiligen Josef und das Jesuskind nach Glastonbury geführt hatte. Die geheimnisvolle normannische Dame vielleicht, der offenbar Wulfnoths Herz gehörte?

Er sah sich weiter suchend um. Sein Atem formte weiße Dampfwolken. Der unbeheizte Raum war eisig kalt.

Die Laute lehnte immer noch in ihrer abgewetzten Hülle an der Wand gleich neben dem Tisch. Er atmete tief durch, hob sie behutsam hoch und hauchte seine kalten Finger an. Ungeduldig, voller Erwartung stimmte er die Saiten. Dann begann er zu spielen.

 

»Du bist wirklich gut geworden«, sagte Wulfnoth leise an der Tür. »Viel besser als ich.«

Cædmon hielt inne und hob den Kopf. »Dann sollte ich vielleicht erwägen, mich fortan als Spielmann durchzuschlagen«, murmelte er und wischte sich verstohlen mit dem Ärmel übers Gesicht. Er hatte überhaupt nicht gemerkt, daß er weinte, und er schämte sich.

Wulfnoth warf einen kurzen Blick auf den Gang hinaus, schloß dann leise die Tür und trat an den Tisch. Cædmon hatte die Laute beiseite gelegt und stand auf. Sie umarmten sich wortlos. Cædmon kniff die Augen zu und biß sich auf die Zunge, um zu verhindern, daß er irgend etwas unverzeihlich Sentimentales sagte.

Wulfnoth tat es für ihn. »Du hast mir ziemlich gefehlt, weißt du.«

Er klopfte ihm kurz die Schulter, tröstend, so schien es Cædmon, ließ ihn dann los und trat einen Schritt zurück. Sie betrachteten einander mit unverhohlener Neugier.

Wulfnoth schien unverändert, war höchstens eine Spur hagerer geworden. Er trug die immer noch vollen, dunkelblonden Haare länger als früher und hatte sie mit einer Schnur im Nacken zusammengebunden. Seine meergrauen Augen schimmerten feucht, und er verzog einen Mundwinkel, spöttisch und schmerzlich zugleich.

»Du siehst alt aus, mein Freund.«

»Ich fühl’ mich auch alt.«

Wulfnoth legte ihm wieder die Hand auf die Schulter und führte ihn zum Tisch. »Setz dich. Ich denke, ich schicke nach heißem Wein und einem Kohlebecken. Das ist ein übler Husten, den du dir da leistest.« Cædmon winkte ab. »Tu lieber nichts, was Aufmerksamkeit erregt. Nicht nötig, daß sie mich gleich heute abend hier finden.«

Wulfnoth nickte. »Sei unbesorgt. Niemand hier wundert sich über meine Grillen, das weißt du doch. Und ich schicke oft nach Wein, seit ich mir angewöhnt habe, abends hier zu sitzen und zu lesen.«

»Lesen?«

»Tja. Es ist unglaublich, wozu die Langeweile einen Mann treiben kann.« Er legte einen Finger an die Lippen und ging auf den Gang hinaus.

 

Sie redeten viele Stunden lang. Cædmon war nicht verwundert, als er feststellte, daß Wulfnoth über die Ereignisse in England während der letzten drei Jahre genauestens im Bilde war. Zwischen England und der Normandie gab es ein ständiges Kommen und Gehen, auch waren viele englische Geiseln nach der Schlacht von Hastings nach Rouen geschickt worden. Und Wulfnoth war ein aufmerksamer Zuhörer, er hatte ein bemerkenswertes Talent, Dinge in Erfahrung zu bringen.

»Jedenfalls könnte ich mir vorstellen, daß William dich schmerzlich vermissen wird«, bemerkte er, als er den Rest des inzwischen abgekühlten Weins auf die beiden Zinnbecher verteilte. »Er hat dir getraut.« Cædmon zuckte ungeduldig mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob er je irgendwem wirklich traut.«

»Nun, immerhin hat er seine Söhne in deine Obhut gegeben.«

»Wie auch immer. Jetzt ist es jedenfalls vorbei.« Cædmon trank einen Schluck, um den Husten zu unterdrücken. Er war seit Wochen erkältet, und weil er auf der Flucht und kaum je im Warmen war, wurde es nicht besser. Vielleicht war es ja das Winterfieber. Dann wäre er all seine Sorgen bald los …

»Und was willst du tun?« fragte Wulfnoth nach einem längeren Schweigen. Cædmon stützte den Ellbogen auf den Tisch und das Kinn auf die Faust. »Ich will verdammt sein, wenn ich das weiß. Es wird mir nichts anderes übrigbleiben, als irgendwohin zu gehen, wo nicht William der Bastard herrscht.« Er ließ die Faust sinken. »Ist nicht deine Schwester Königin im Reich der Russen?«

Wulfnoth schüttelte den Kopf. »Meine Nichte. Harolds Tochter.«

»Aber du weißt, wo dieses Land liegt?«

»Sicher. Das ist nicht weiter schwierig. Mehr oder minder schnurgerade nach Osten.«

»Oder ich könnte nach Byzanz gehen.« Am Hof des byzantinischen Kaisers gab es eine vielgerühmte angelsächsische Leibgarde, die Waranger, wo er gewiß Aufnahme finden würde. »Oder nach Sizilien und mit den normannischen Glücksrittern zusammen um Land und Beute kämpfen. Oder Williams Feinden hier in Frankreich meine Dienste und die vielen Geheimnisse anbieten, die ich als des Königs Übersetzer mit den Jahren erfahren habe. Ich bin sicher, sie wären begeistert …« »Nur hast du zu all dem nicht die geringste Neigung?«

Cædmon schüttelte trübsinnig den Kopf. »Aber für eine dieser Möglichkeiten werde ich mich entscheiden müssen.«

»Cædmon«, sagte Wulfnoth eindringlich und lehnte sich leicht vor. »Ich bin sicher, der König wird dir verzeihen, wenn du …«

»Verdammt, das ist nicht der Punkt!« unterbrach Cædmon hitzig. »Die Frage ist doch wohl vielmehr, ob ich ihm verzeihen kann.«

»Das wirst du.«

»Nein. Das glaube ich wirklich nicht.«

Wulfnoth widersprach ihm nicht. Er hatte gehört, was in Northumbria geschehen war. Er führte einen regen Briefwechsel mit seiner Nichte Matilda, Williams Königin. Sie hatte ihm davon geschrieben. Und auch wenn sie vorbehaltlos zu ihrem Mann stand und vielleicht der einzige Mensch der Welt war, der das Wunder fertigbrachte, William zu lieben, hatte sie Wulfnoth doch ihr Entsetzen über diese beispiellose Tat gestanden. Und er war erschüttert gewesen, als er es las. Wieviel schlimmer mußte es für Cædmon sein, der es mit eigenen Augen gesehen hatte.

»Weißt du, Cædmon, es mag dir unvorstellbar erscheinen, aber die Frage, ob du William verzeihen kannst oder nicht, ist völlig unbedeutend.« Cædmon sah ihn verständnislos an.

»Das interessiert niemanden als nur dich. Und mich vielleicht. Die umgekehrte Frage hingegen wird Auswirkungen auf dein Leben und das deiner Familie haben. Natürlich kannst du fortgehen. Aber das würde bedeuten, daß es dir so ergeht wie mir. Ein Fremder in einem fremden Land. Und du weißt, was das bedeutet, du warst lange genug hier.«

Cædmon nickte. Er wußte nichts zu sagen.

»Und es würde bedeuten, daß du nie erfährst, was aus deinem Bruder geworden ist. Das würde dir niemals Ruhe lassen, ich kenne dich. Und wenn William zu dem Schluß kommt, daß du dich endgültig aus dem Staub gemacht hast, wird er dein Lehen einem anderen geben. Einem Normannen. Lucien de Ponthieu vielleicht? Das wäre einer der grausamen kleinen Scherze, die William so gerne mit seinen Feinden treibt. Was für ein Leben hätten deine Bauern dann?«

»Gott, Wulfnoth, warum tust du das …«

»Und deine Mutter? Natürlich, sie ist Normannin, das wird ihr manches ersparen, aber letztlich wäre ein Kloster der einzige Ort, wo sie hingehen könnte. Und Richard und Rufus? Wie sollen sie England verstehen lernen, wenn sie dich nicht mehr haben?«

»Hör auf.«

»Und Aliesa?«

Cædmon donnerte die Faust auf den Tisch. »Ist Etiennes Frau!«

»Aber sie liebt dich.«

Cædmon saß wie erstarrt. »Woher … woher willst du das wissen?«

Wulfnoth lächelte und stand auf. »Laß uns schlafen gehen. Du wirst das Bett mit mir teilen müssen … ich vertraue auf deinen Anstand.« »Aber Wulfnoth … Weißt du eigentlich, was du da gesagt hast?« drängte Cædmon flehentlich. »Wie kommst du dazu? Es ist nur eine Vermutung, oder?«

Wulfnoth seufzte tief. »Glaub einfach, was ich sage. Jetzt komm endlich. Du bist krank und müde, Cædmon, du mußt ins Bett. Und wenn es dunkel ist, dann erzähl mir von Hastings. Niemand, den ich bislang gesprochen habe, konnte mir sagen, wie Harold gestorben ist. Aber du hast es gesehen, nicht wahr?«

Cædmon nickte abwesend. Dann riß er sich zusammen. »Ja. Ich hab es gesehen.«

Doch kaum lagen sie vollständig bekleidet und ein wenig verlegen nebeneinander unter der dicken Felldecke, war Cædmon schon eingeschlafen.

 

Er holte sein Versäumnis am nächsten Tag nach. Er hatte Fieber, und als er vom Abort zurückkam, waren seine Knie butterweich, und er erhob keine Einwände, als Wulfnoth ihm mit gestrenger Miene einen Tag Bettruhe verordnete. Wulfnoth verbrachte den Großteil des Tages an seiner Seite, wenn er nicht gerade in die Halle oder die Küche hinunterschlich, um unter irgendeinem Vorwand ein paar Leckerbissen für seinen heimlichen Gast zu organisieren.

Cædmon war dankbar für den einigermaßen warmen, trockenen Unterschlupf, dankbar, dem gnadenlosen Winter dort draußen vorläufig entronnen zu sein. Und er fühlte sich seltsam sicher in Wulfnoths Gegenwart, obwohl er genau wußte, daß Wulfnoth ihn nicht würde retten können, wenn man ihn hier entdeckte.

Er war bis in die Knochen erschöpft und schlief bis zum Nachmittag. Als er aufwachte, erzählte er Wulfnoth von Hastings. Es war lange her, aber es erschütterte ihn immer noch, davon zu sprechen.

Und es erschütterte Wulfnoth. Er saß reglos auf der Bettkante, den Kopf tief gesenkt.

»Erst Tostig bei Stamford und dann Harold, Leofwine, Gyrth. All meine Brüder auf einmal«, murmelte er.

»Ja.«

»Wenn mein Vater geahnt hätte, daß nur ich übrigbleiben würde, hätte er sicher einen der anderen als Geisel zu William geschickt.«

Cædmon setzte sich auf und zog die Knie an. »Ja. Und hätte mein Vater geahnt, wie es Dunstan bei Hastings ergehen würde, dann hätte er ihn an meiner Stelle mit Harold in die Normandie geschickt. Mein Bruder Guthric, der inzwischen ein ziemlich gelehrter Mann ist, nennt es ›Ironie des Schicksals‹.«

Wulfnoth biß sich auf die Unterlippe und nickte. »Und vermutlich hat er recht.«

»Besser für deine Brüder, daß sie gefallen sind, weißt du«, bemerkte Cædmon.

»Ja, ich weiß. Und ich mache mir nichts vor, Harold wird kein besserer Mann dadurch, daß er tot ist. Und um Tostig und Gyrth ist es auch nicht so besonders schade. Aber Leofwine … war ein wirklich anständiger Mensch. Der einzige Godwinson mit einem unbestechlichen Gewissen.«

»Außer dir.«

»Das weiß ich nicht. Mein Gewissen ist nie erprobt worden. Ich war ja immer nur hier.«

Cædmon lächelte schwach. »Ja, du hast es wirklich leicht gehabt …«

 

Er hatte nicht die Absicht gehabt, länger als eine Nacht in Rouen zu bleiben – Rouen war in gewisser Weise die Höhle des Löwen. Bei all den Wirren der letzten Monate war zwar vielleicht noch nicht bis hier vorgedrungen, daß Cædmon in Ungnade gefallen war, aber schon sein Auftauchen würde reichen, um Argwohn zu erregen. Doch Wulfnoths Gesellschaft tat ihm so unendlich gut, und außerdem war er so krank, daß er sich außerstande sah, gleich wieder aufzubrechen. Ein paar Tage war das Fieber so hoch, daß Wulfnoth in größter Sorge war und erwog, ob Cædmons Entdeckung nicht das kleinere Übel wäre und er sich dem jungen Prinzen Robert anvertrauen und ihn bitten sollte, einen Arzt oder eine Kräuterfrau kommen zu lassen. Doch Cædmon erriet seine Gedanken und ließ ihn schwören, niemandem ein Sterbenswort zu sagen.

Anders als sein Bruder Harold nahm Wulfnoth einen Eid nicht auf die leichte Schulter. Er hielt Wort und sagte zu niemandem etwas. Er schrieb statt dessen einen Brief.

Nach der Jahreswende wurde es noch kälter, aber der Himmel über der Normandie klarte auf, die See wurde ruhiger und der Schiffsverkehr auf dem Kanal wieder reger. Kaum waren die Weihnachtsfeiertage vorbei und Cædmon soweit genesen, daß er rastlos und reizbar wurde, da erhielt Wulfnoth Antwort.

Als er am frühen Nachmittag aus der Halle zurück in sein Quartier kam, fand er Cædmon am Fenster. Wulfnoth trat zu ihm und zog ihn einen Schritt zurück. »Sei bitte vorsichtig.«

Cædmon wies in den Hof hinunter, wo Jehan de Bellême wie eh und je eine Schar halbwüchsiger Jungen herumscheuchte. »Da werden neue Helden für Williams Kriege geschmiedet«, bemerkte er. »Gestählt und gehärtet, um englische Bauern und ihr Vieh abzuschlachten.«

Jehan zerrte einen Unglücksraben aus dem Sattel, brüllte ihn an, zog die berüchtigte Gerte aus dem Gürtel und drosch auf den Burschen ein. Wulfnoth wandte sich seufzend ab. »Du tust gerade so, als würden angehende englische Housecarls anders erzogen. Bei uns zu Hause war es schlimmer, glaub mir.«

Cædmon schüttelte langsam den Kopf. »Es ist anders. Kein englischer Housecarl hätte für seinen Lord oder König das getan, was Lucien de Ponthieu für William getan hat.«

Wulfnoth widersprach ihm nicht. Aber er erinnerte sich an den einen Feldzug, den er im Gefolge seines Bruders miterlebt hatte. Harold hatte eine Strafexpedition gegen ein paar Grenzdörfer angeführt, die sich auf die Seite des walisischen Prinzen Gruffydd geschlagen hatten, und Harolds Horden hatten in diesen Dörfern nicht einen Mann leben lassen und nicht eine Frau verschont. So war der Krieg. Natürlich gab es einen Unterschied zwischen der Rückeroberung einer Handvoll Grenznester und Williams systematischer Verwüstung Nordenglands, die vielleicht vornehmlich dazu hatte dienen sollen, den dänischen Invasionstruppen den Nachschub abzuschneiden, die aber auf eine Entvölkerung ganzer Landstriche hinauslief. Diese Tat war beispiellos. Aber nicht in ihrer Grausamkeit. Nur in der Zahl ihrer Opfer.

»Cædmon, ich habe Nachrichten für dich.«

Cædmon sah verwundert auf. »Aber wie sollte das möglich sein? Von wem?«

»Hör zu.« Wulfnoth zog eine schmale Pergamentrolle aus seinem Ärmel, setzte sich damit an den Tisch und breitete sie aus.

»Liebster Onkel«, las er vor. »Gott, ich hasse es, wenn sie mich so nennt …«

»Wulfnoth, was hast du getan?«

Wulfnoth sah nicht von seinem Brief auf. »Ich habe einen Weg gefunden, dir zu helfen, ohne meinen Eid zu brechen. Jetzt halt den Mund und hör zu: Die Nachrichten aus dem Norden sind schlecht. Die Rebellion im Westen ist nicht niedergeschlagen. Der König ist gleich nach Weihnachten von York aufgebrochen und hat den Gebirgszug der Pennines überquert, um nach Chester zu gelangen, ehe die Aufrührer dort mit ihm rechnen. Das Wetter in den Bergen ist entsetzlich. Er hat viele Männer verloren, unter den Truppen droht eine Meuterei. Mehr weiß ich nicht, und mein Herz ist schwer. Ich hoffe, Euer Freund Cædmon hatte nicht recht, als er prophezeite, Gott werde William seine Taten nicht vergeben. Ich hoffe, Gott hat ihn nicht verlassen, denn er ist der einzige, auf den William wirklich vertraut.« Wulfnoth hielt kurz inne und warf Cædmon mit gerunzelter Stirn einen Blick zu, ehe er fortfuhr. »Ich muß Euch gewiß nicht vorwerfen, daß Ihr mich in einen bösen Konflikt bringt – Ihr wißt es selbst. Sagt Cædmon nicht, er habe mit seiner Flucht Schande über sich gebracht, denn die Schande des Königs wiegt schwerer. Sagt ihm auch nicht, daß er zurückkommen muß, um einen englischen König aus Richard zu machen, denn die Krone mag ebenso an Robert gehen. Sagt ihm nur soviel:

Wer es erfahren hat, weiß,

Welch grausame Gefährtin die Trauer ist

Wenn alle Freunde seines Herzens verloren sind.

Ihm bleiben nur die dunklen Pfade des Exils

Nach dem strahlend hellen Gold der Ringe.

Nur die taube Kälte seines Herzens

Nach allen Schätzen der Welt.

Er entsinnt sich der Männer in der Halle

Und der Pracht der Gaben,

der Tage seiner Jugend, da sein huldreicher Herr

beim Bankett ihn ehrte.

Alles Glück ist vergangen für den,

der ohne die weise Führung seines Herrn ist.«

 

Cædmon schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat.«

»Warum bist du dann so bleich geworden?«

»William ist nicht huldreich. Und seine Führung nicht weise.«

»Nein.« Wulfnoth seufzte tief. »Es sind nur ein paar Zeilen aus einem alten englischen Gedicht. Es heißt ›Der Wanderer‹. Und Matilda hat recht, dieser ziellos umherirrende Wanderer bist du im Moment.«

Cædmon ergriff die Laute, spielte aber nicht. Er sah auf den birnenförmigen Korpus hinab und hob unbehaglich die Schultern. »Der werde ich immer sein. Ganz gleich, wo ich bin, hier oder in England.«

»Aber in England hast du Freunde, Cædmon. Matilda, Etienne, Roland Baynard, deine Familie.«

»Und meinen huldreichen Herrn«, murmelte Cædmon bissig.

»Willst du den Rest hören?«

»Meinetwegen.«

Wulfnoth breitete die raschelnde Pergamentrolle wieder aus: »Sagt ihm, er soll nach Flandern zu meinem Bruder gehen und dort bleiben, bis ich ihm Nachricht schicke. Sagt ihm, es sei mein Wunsch. Matilda, Regina Anglorum.«

Das zweite Königreich
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