Winchester, März 1076

»Und?« fragte Odo gespannt.

Cædmon strich sich die triefenden Haare aus der Stirn und schüttelte bedauernd den Kopf. »Nichts zu machen, fürchte ich. Sie sagt nein.« »Aber …«

Der Bischof wurde unterbrochen, als Richard zu ihnen trat. »Cædmon. Eadwig. Seid ihr in einen Schauer geraten?«

»Ja«, brummte Eadwig, drehte seine langen Locken zu einem Strang zusammen und wrang sie aus. »Von Helmsby bis Winchester ging ein einziger Schauer nieder.«

Der Prinz lachte und machte eine einladende Geste. »Dann kommt ans Feuer, damit ihr trocknet.«

Sie folgten ihm in die Haupthalle, und der Prinz winkte einen Pagen herbei, der ihnen Becher mit heißem Wein brachte. Es war ungewöhnlich kalt für die Jahreszeit; an den Nordhängen und im Schatten der Wälder lag noch Schnee.

Bischof Odo war ihnen gefolgt. »Cædmon, ich gebe mich mit keinem Nein zufrieden.«

Cædmon legte die eiskalten Finger um seinen Becher und blies behutsam über das kochend heiße Gebräu. »Ich werde es ausrichten, aber ich fürchte, es wird nichts ändern.«

Der Prinz sah mit einem verständnislosen Lächeln von einem zum anderen. »Worum geht es? Wer sagt nein wozu?«

Odo warf Cædmon einen warnenden Blick zu, und es war Eadwig, der antwortete: »Bischof Odo wünscht, daß unsere Schwester eine Stickerei für ihn anfertigt. Es soll ein … kleiner Schmuck für seine Kathedrale in Bayeux werden. Aber sie weigert sich.«

»Oh.« Richard runzelte die Stirn, und Cædmon verbiß sich ein Lächeln, weil wieder einmal so deutlich erkennbar war, was der Prinz dachte: Er fand Hylds Reaktion auf das Ansinnen des Bischofs »unhöflich«.

Richard wandte sich an Odo und hob die Schultern. »England wimmelt nur so von erstklassigen Stickerinnen, Onkel.«

Doch Odo schüttelte entschieden den Kopf. »Ich habe mich umgehört. Keine, von denen man mir berichtet hat, hat je etwas hergestellt, wie ich es mir vorstelle. Auch in Canterbury sagte man mir, Hyld of Helmsby sei die Beste.«

Cædmon trank einen kleinen Schluck und bemerkte: »Es ist kein Wunder, daß Ihr immer die gleiche Antwort bekommt, wenn Ihr immer die gleiche Quelle befragt. Ich bin sicher, diese Auskunft stammt von meinem Bruder Guthric.«

Odo verdrehte ungeduldig die Augen. »Ich werde selbst nach Helmsby reiten und mit Eurer Schwester reden.«

Eadwig schnitt verstohlen eine komische Grimasse und murmelte: »Ich fürchte, das wird auch nichts nützen.«

Odo sah ihn finster an, und Richard lachte in sich hinein. Dann wandte er sich an Cædmon. »Und? Alle Vorbereitungen für den großen Tag abgeschlossen?«

Cædmons Miene verdüsterte sich. »O ja. Meine Mutter wartet nur auf besseres Wetter, ehe sie Helmsby verläßt und nach Maldon ins Kloster geht. Mein Onkel bemüht sich redlich, sich zu Tode zu trinken, ehe meine Braut auf meiner Burg einzieht, und meine Dienerschaft stellt die Halle auf den Kopf in dem hoffnungslosen Bestreben, Gnade vor ihren Augen zu finden. Ja, man kann wohl sagen, die Vorbereitungen werden mit allem gebotenen Eifer getroffen.«

Richard biß sich auf die Unterlippe. »Entschuldige, ich hätte nicht davon anfangen sollen.«

»Warum nicht?« wandte sein Onkel leichthin ein. »Es besteht kein Anlaß, übermäßige Rücksichten darauf zu nehmen, daß Cædmon glaubt, es sei das Ende der Welt, daß der König ihn mit einer Frau verheiratet, die er nicht will.«

Cædmon nickte knapp. »Ihr habt ja so recht, Monseigneur. Besseren Männern als mir ist das schon passiert.«

»Es passiert sozusagen jeden Tag«, stimmte Odo zu.

»Ja. Aber mir zum erstenmal. Sechs Jahre lang habe ich mich erfolgreich gewehrt. Es ist bitter, zuletzt doch noch zu unterliegen.«

Richard sah ihn bekümmert an. »Aber wieso sträubst du dich nur so sehr? Sie ist eine wirklich schöne Frau aus bester Familie und …«

»Ja, Richard, nur leider haßt sie England«, fiel Cædmon ihm hitzig ins Wort. »Und mich.«

Der Prinz stellte seinen Becher auf einem nahen Tisch ab und verschränkte die langen Arme vor der Brust. »Ich bin sicher, du wirst Mittel und Wege finden, sie umzustimmen.«

Cædmon runzelte die Stirn. »Wie?«

Richard mußte lachen. »Oh, Cædmon. Alles, was ich über Frauen weiß, hast du mir beigebracht – wie so viele andere Dinge auch –, und jetzt fragst du mich?«

Cædmon grinste wider Willen. In Wahrheit hatte der Prinz auf diesem Gebiet nie großer Belehrungen bedurft. Er war ein gutaussehender junger Mann mit den dunklen Haaren und Augen und der großen, athletischen Statur seines Vaters. Mit seinen kaum zwanzig Jahren hatte er sich schon den Ruf eines hervorragenden Kommandanten und mutigen Kämpfers erworben. Er war kein solcher Draufgänger wie Rufus oder ihr älterer Bruder Robert, fühlte sich im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit unwohl und war in Gegenwart seines Vaters immer noch schüchtern, aber sein Humor und sein natürlicher Charme machten alle Damen schwach.

»Ja, du hast gut lachen, Richard«, sagte Cædmon kläglich. »Deine schottische Braut ist erst drei Jahre alt. Dir bleiben noch mindestens zehn Jahre Schonfrist.«

»Das ist auch gut so«, brummte Odo. »Solange braucht er mindestens, um sich diese gewaltigen Hörner abzustoßen. Man hört schockierende Dinge über dich, mein Junge. Ich bin verwundert, daß dein Vater das duldet.«

Richard unterdrückte ein Lächeln. »Ich bin diskret, Onkel. Genau wie Ihr.«

Odo stimmte in das Gelächter mit ein, wurde aber schnell wieder ernst und fragte Cædmon: »Also? Was muß ich tun, um Eure Schwester umzustimmen?«

Ehe Cædmon antworten konnte, traten Rufus und Leif hinzu. Sie umarmten Eadwig zum Willkommen, und Leif fragte: »Hyld? Man stimmt sie nicht um, Monseigneur.«

Odo sah den jungen dänischen Ritter verdrossen an. »Was wißt Ihr darüber?«

»Sie ist die Frau meines Bruders. Sie hat Eadwig und meine Schwester und mich damals vor den Todesreitern gerettet. Ihr hättet sie sehen sollen. Selbst der Winter und der Hunger mußten sich ihrem Willen beugen.«

Odo zog spöttisch die Brauen in die Höhe. »Mein Junge, in Euch steckt ein Poet, scheint mir. Vielleicht habt Ihr das Zeug zu einem der großen Sagendichter Eures Volkes.«

»Ich bleibe lieber bei der Wahrheit, Monseigneur«, erwiderte Leif unerwartet ernst. »Niemand könnte eine neutralere Chronik über die Ereignisse in England während der letzten zehn Jahre schreiben als ich, denn ich bin dänisch, englisch und normannisch. Wenn ich darüber nachdenke, bin ich obendrein sogar noch Norweger.«

Odo nahm seinen Arm. »Ihr schreibt eine Chronik?«

Leif nickte. »Das Pergament ist furchtbar teuer, und ich komme nur langsam voran, aber das Jahr der Eroberung habe ich abgeschlossen.« »Das ist großartig, Junge! Ich wußte gar nicht, daß Ihr schreiben könnt.«

Leif war ein wenig verwundert über das unerwartete Interesse des Bischofs, aber er erklärte wahrheitsgemäß: »Wir alle mußten hier lesen lernen, Monseigneur. Vom Lesen zum Schreiben ist es kein großer Schritt.«

»Nein«, stimmte der Bischof zu. »Wenn man erst einmal auf eine so abstruse Idee gekommen ist, nicht. Kommt mit mir, Leif Guthrumson. Ich habe mit Euch zu reden …« Er zog ihn zur Tür, und Leif folgte ihm verblüfft, aber willig.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte Rufus verwundert.

»Dein Onkel hat neuerdings ein großes Interesse an englischer Geschichtsschreibung«, vertraute Eadwig ihm raunend an.

»Ah ja?« Rufus nahm eine geröstete Haselnuß aus einer Messingschale auf dem Tisch, warf sie in die Luft und fing sie geschickt mit dem Mund auf. Dann ergriff er den verwaisten Becher seines Onkels und leerte ihn in einem Zug. »In dem Fall sollte irgendwer ihn darüber aufklären, daß in fünf oder sechs Klöstern im Land eine Chronik vom Anbeginn der angelsächsischen Besiedlung Englands bis zum heutigen Tag geführt wird. Ich nehme doch an, daß er dort alles findet, was er wissen will.« »Du bist gut informiert, Rufus«, bemerkte Cædmon.

Der Prinz grinste breit. »Ob du es glaubst oder nicht, Cædmon, hin und wieder habe ich zugehört, wenn du uns etwas beizubringen versucht hast.«

»Das zerstreut all meine Zweifel am Sinn meines Daseins.«

Rufus seufzte zufrieden. »Da. Schon wieder einen Mann glücklich gemacht. Komm, Eadwig. Sieh dir meinen neuen Gaul an. Du wirst vor Neid erblassen, das sag’ ich dir …« Er zog seinen Freund mit sich zum Ausgang.

Cædmon und Richard blieben allein zurück. »Und was tun wir?« fragte Cædmon.

»Vielleicht wäre es das beste, du ließest den König wissen, daß du angekommen bist. Seit den frühen Morgenstunden wartet eine Abordnung northumbrischer Thanes auf eine Audienz. Sie wollen um Waltheofs Leben bitten, und mein Vater hat gesagt, er werde sie erst empfangen, wenn du hier bist.«

Cædmon seufzte. »Die northumbrischen Thanes haben den ganzen weiten Weg umsonst gemacht. Waltheofs Schicksal ist besiegelt. Ich wünschte weiß Gott, es wäre anders, aber die Beweggründe des Königs sind durchaus nicht von der Hand zu weisen.«

Richard nickte bedrückt. »Aber niemand könnte das den Thanes so schonend beibringen wie du, die barschen Worte des Königs so diplomatisch abmildern. Wer weiß, vielleicht haben wir Glück, und es gibt keine neue Revolte in Northumbria.«

Cædmon betrachtete ihn einen Augenblick nachdenklich. »Du könntest ebensogut für deinen Vater übersetzen wie ich.«

Richard mußte lachen. »Ich? Du meine Güte, Cædmon, er würde mir nicht einmal seinen Falken anvertrauen, geschweige denn seine Staatsgeschäfte.«

»Und das macht dir gar nichts aus?«

Der Prinz dachte einen Moment nach. »Doch.« Er hob mit einem unbeschwerten Lächeln die Schultern. »Aber ich schätze, die undankbare Aufgabe, Williams Mund und Ohr zu sein, überlasse ich viel lieber dir. Abgesehen davon würde es alle Verhandlungen unnötig in die Länge ziehen, wenn ich für ihn übersetzen müßte. Du weißt doch, wie ich stottere, wenn er nur im selben Raum ist.«

Cædmon klopfte ihm grinsend die Schulter. »Deine Stunde kommt auch noch, Richard. Sag, du weißt nicht zufällig, wo Etienne fitz Osbern ist?«

Der Prinz nickte. »Bei Malachias, dem Juden. Oder genauer gesagt, bei dessen Vater. Er will ihn überreden, in Chester eine Filiale seines Handelshauses zu eröffnen. Etienne ist der Meinung, daß sich der Handel in England zu sehr auf den Süden und den Norden konzentriert, und wenn er Sheriff von Cheshire wird, soll sich das ändern.«

Cædmon riß die Augen auf. »Etienne wird Sheriff?«

»Das wußtest du nicht? Und es würde mich überhaupt nicht wundern, wenn du der nächste wärest. Sobald diese dumme kleine Formalität am übernächsten Sonntag erledigt ist, versteht sich«, fügte er boshaft hinzu. Cædmon hob die Hand; davon wollte er nichts hören. »Nun, ich hoffe, das wird Etienne endlich von dieser albernen Sorge befreien, daß der Groll des Königs gegen seinen Bruder sich auf ihn erstrecken könnte.« »Tja, wenn ich ehrlich sein soll … ich bin keineswegs sicher, ob diese Sorge so unbegründet ist.«

 

Über Ostern hielt endlich der Frühling in Südengland Einzug, und am Tag nach den Feierlichkeiten brach eine große Gesellschaft zur Falkenjagd auf. Viele Adlige hatten bereits die Heimreise angetreten, aber es waren immer noch an die dreißig Ritter und Damen und etwa ebenso viele Falkner und Diener, die an diesem kühlen, aber sonnigen Tag in den Wald südlich von Winchester ritten, den der König so liebte.

»Guten Morgen, Beatrice.«

»Bonjour, Cædmon.«

»Ein herrlicher Tag für die Jagd, nicht wahr?«

Sie hob den Kopf und sah ihn an, und er bewunderte beiläufig, wie mühelos sie ihre mißgelaunte Stute beherrschte. »Ja, das wäre es, wenn ich hoffen könnte, daß Ihr heute ausnahmsweise einmal Eure Bauernschleuder im Gürtel laßt und jagt wie ein Edelmann.«

»Würde ich Euch denn einen so großen Gefallen damit tun?«

Beatrice nickte wortlos.

Er hob ergeben die Schultern. »Also schön. Es ist in gewisser Weise bedauerlich, denn irgendwer wird mir mit Sicherheit eine Wette anbieten, und gerade in diesem Gelände hätte ich gute Chancen, sie zu gewinnen.«

Sie hob das Kinn und sah zu ihm hinüber – sie verstand es wirklich hervorragend, Mißbilligung und Verächtlichkeit zum Ausdruck zu bringen, das mußte man ihr lassen. »Meine Mitgift sollte Euch für die entgangene Wette doch wohl hinreichend entschädigen.«

Cædmon räusperte sich. »Nun, Madame, Ihr mögt meine Jagdmethoden bäurisch finden, ich will mich lieber nicht dazu äußern, wie höfisch oder taktvoll Eure Bemerkungen sind.«

Sie errötete ein wenig und schlug die Augen nieder.

»Beatrice«, begann er. »Ich bedaure, wenn meine Schritte Euch gekränkt haben. Ich habe es nur getan, weil ich verhindern wollte, was weder Euren noch meinen Wünschen entsprach. Aber da die Dinge nun einmal sind, wie sie sind, bin ich bereit, das Beste daraus zu machen.« Er sprach leise und eindringlich, versuchte wie so viele Male zuvor, zu ihr durchzudringen, aber ihre Miene war undurchschaubar. Darum setzte er nach: »Das gleiche erwarte ich von Euch.«

Plötzlich schimmerten Tränen in ihren Augen. Sie wandte hastig den Kopf ab und murmelte: »Ihr werdet gewiß keinen Grund haben, Euch über mich zu beklagen, Monseigneur.«

»Nein, Madame. Da bin ich sicher.« Er betrachtete verstohlen ihr schönes Profil und fragte sich beklommen, wie es gehen sollte, wenn er sich in nur fünf Tagen allein mit ihr in einem prächtig geschmückten Brautgemach wiederfand. Natürlich konnte er an der Mär vom Keuschheitsgelübde festhalten. Aber sobald der König sie vom Hof entließ, würde er Beatrice nach Helmsby bringen müssen, und irgendwann würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als diese Eisprinzessin … aufzutauen. Schon bei dem Gedanken fühlte er sich überfordert.

Rufus und Eadwig ritten heran und drängten sich neben Cædmon und seine Braut. »Wie steht es mit einer kleinen Wette, Cædmon?« schlug Rufus vor. »Mein Vogel gegen deine Schleuder?«

Cædmon schüttelte bedauernd den Kopf. »Heute nicht, mein Prinz.« Rufus sah ihn verwirrt an. »Warum nicht, in aller Welt?«

»Sagen wir einfach, der Sinn steht mir heute nicht danach.«

Rufus sah kurz von Cædmon zu Beatrice und wieder zurück und brummte: »Verstehe. Nun, vielleicht beim nächstenmal.«

Das Gelände stieg langsam an, und die Bäume lichteten sich ein wenig. Der Boden war immer noch sehr naß, das Gras auf dem Pfad von den vielen Hufen bald zertrampelt und in schwarzen Morast verwandelt. Doch die ersten Vögel sangen in den kahlen Bäumen, die Luft roch würzig nach altem Laub und nassem Holz, und am Wegrand zeigten sich die ersten Narzissen und Sternhyazinthen. Cædmon hatte für gewöhnlich keinen ausgeprägten Sinn für die Schönheiten der Natur, aber der Kontrast zwischen ihrem satten Gelb und dem tiefen Blauviolett im strahlend weißen Licht der Frühlingssonne bannte sogar ihn.

Die Jagdgesellschaft verteilte sich. In Gruppen zu dritt oder zu fünft bezogen sie mit ihren Falknern entlang des Hügelkamms Stellung, immer weit genug voneinander entfernt, daß sie sich nicht gegenseitig die Beute streitig machten, aber doch noch so nah, daß man die farbenprächtigen Kleider der Damen durch die unbelaubten Bäume hindurchschimmern sah.

Cædmon und Beatrice schlossen sich mit Etienne, Aliesa und Richard zusammen. Sie machten gute Beute; der Wald wimmelte nur so von Kleinwild und Vögeln, vor allem Fasane waren zahlreich. Cædmon winkte seinem Falkner, nahm seinen Vogel auf die behandschuhte linke Faust und trat zu Beatrice.

»Hier, Madame. Ich wollte ihn Euch eigentlich zur Hochzeit schenken, aber heute scheint doch genau der richtige Tag zu sein.«

Ihr Gesicht erstrahlte vor Freude, und sie hob langsam die Hände, um den Vogel nicht zu erschrecken, schlang die Halteleine um ihr Handgelenk, nahm ihn auf ihren kostbar bestickten Handschuh und streifte die Haube von seinem Kopf. »Oh, Cædmon. Wie wunderschön er ist. So hell!«

Er grinste zufrieden und spürte zum erstenmal einen Hauch von Wärme für sie. »Es ist ein sizilianischer Falke. Daher das helle Gefieder. Der Händler hat geschworen, Robert Guiscard habe ihn höchstpersönlich abgerichtet, aber da bin ich skeptisch …«

Sie lachten, und auch Beatrice stimmte ausnahmsweise einmal mit ein. Es war ein helles Mädchenlachen. Dann schlug sie die Augen nieder. »Ich danke Euch, Monseigneur.«

Cædmon deutete eine kleine Verbeugung an. »Möge er Euch so ergeben sein, wie ich es bin, Madame.«

»Wer ist an der Reihe?« fragte der Prinz.

»Ich«, sagte Beatrice, ohne die Augen von ihrem kostbaren sizilianischen Spielzeug zu nehmen. »Er soll uns gleich zeigen, was er kann.« Cædmon hatte keine Zeit gehabt, den Falken selbst zu erproben, ehe er ihn ihr schenkte, und dachte einen Moment beunruhigt, daß der Vogel, wenn er Beatrice tatsächlich genauso ergeben wäre wie Cædmon selbst, sich zu den weißen Wolken hinaufschrauben und niemals zurückkommen würde.

Sie hob die Faust, und alle sahen sie gespannt an, als es plötzlich zu ihrer Linken vernehmlich knackte. Der Falke sträubte sein wunderbar gezeichnetes Gefieder, legte den Kopf schräg und rührte sich nicht. Zwei der Pferde, die sie nachlässig an nahen Bäumen angebunden hatten, wieherten angstvoll, drei rissen sich los und flohen schnaubend in den Wald. Ehe irgendwer ihnen nachsetzen konnte, stürmte ein gewaltiger Keiler auf die kleine Lichtung. Cædmon war sicher, er hatte nie zuvor einen größeren gesehen: Seine zotteligen Borsten waren fast schwarz, zeigten hier und da aber große kahle Stellen. Einer der gewaltigen Hauer war abgebrochen, die gemeinen, kleinen Augen gelblich verfärbt, und er blutete am Kopf. Kein Zweifel, er hatte beim Kampf mit einem Rivalen den kürzeren gezogen, und jetzt war er auf Rache aus.

Beatrice hatte erschrocken aufgeschrien, niemand sonst gab einen Laut von sich. Cædmon packte seine Braut nicht gerade sanft am Ellbogen, schob sie hinter sich und zog im selben Moment das Schwert. Etienne war vor seine Frau geglitten und tat das gleiche.

Alles ging so rasend schnell, schien zwischen zwei Herzschlägen zu geschehen. Der Keiler rammte den verbliebenen Hauer in die lockere schwarze Erde und hielt mit gesenktem Kopf auf den Prinzen zu, der den Kopf abgewandt hatte und seinem fliehenden, kostbaren Pferd hinterherschaute.

»Gib acht, Richard!« rief Etienne, und auch Cædmon öffnete den Mund zu einer Warnung, doch er bekam keinen Ton heraus. Die Erkenntnis, daß es ein oftmals geträumter Alptraum war, der hier Wirklichkeit wurde, schnürte ihm die Luft ab.

Gleichzeitig sprangen Etienne und Cædmon vor, um dem heranrasenden Keiler den Weg zu versperren, aber er war zu schnell. Unaufhaltsam wie ein rollender Felsbrocken wälzte er sich durch die sich schließende Lücke und rammte seinen gewaltigen Schädel in Richards Leib, ehe der Prinz sein Schwert auch nur zur Hälfte aus der Scheide gebracht hatte. Eine solche Wucht lag in dem Aufprall, daß der stattliche junge Mann sechs oder acht Fuß durch die Luft geschleudert wurde, während Etienne und Cædmon ihre Klingen bis zum Heft in Brust und Hals der abscheulichen Kreatur stießen. Der Keiler erschauerte, und der Waldboden erzitterte, als er zur Seite fiel und röchelnd seinen letzten Atem aushauchte.

Cædmon ließ seine Waffe los und stürzte zu Richard, der am Fuß einer Buche zusammengekrümmt auf der Seite lag.

»Richard?« Er fiel neben ihm auf die Knie, rollte ihn auf den Rücken und fühlte sein Herz. Es schlug. Cædmon bettete den Kopf des Prinzen in seinen Schoß und strich ihm die schwarzen Locken aus der Stirn. »Richard …« Dann sah er kurz über die Schulter. »Hol Hilfe, Etienne.« Sein Freund nickte und stieg auf das Pferd, das sein Falkner ihm brachte, während Aliesa sich bemühte, die weinende Beatrice zu beruhigen. Sie legte ihr tröstend den Arm um die Schultern und führte sie ein paar Schritte weiter weg vom Ort des grausigen Geschehens, warf aber allenthalben besorgte Blicke zurück auf Cædmon und Richard. Zwei der Diener gingen in den Wald, um die ausgerissenen Pferde einzufangen, die übrigen blieben bei den Damen.

Richards für gewöhnlich schon blasses Gesicht wirkte grau. Er bewegte die blutleeren Lippen und schlug die Augen auf. »Cædmon …«

»Lieg still, Richard. Etienne holt Hilfe, wir bringen dich im Handumdrehen nach Hause.«

Die glatte Stirn zeigte plötzlich tiefe Furchen. »Sie ist zurückgekommen und hat ihren Fluch selbst erfüllt. Das alte Weib steckte in dieser Bestie, ich hab’s in den Augen gesehen.«

Cædmon nahm seine Hand. Sie war eiskalt und klamm. »Das ist dummes Zeug. Sie war nichts als eine verzweifelte alte Frau, und ihr Fluch kann dir nichts anhaben.«

Richards Atem wurde flacher, und er begann zu keuchen. Ein Blutfleck breitete sich links des Bauchnabels auf seinem tiefgrünen Gewand aus. Cædmon schob den zerrissenen Stoff auseinander, um den Schaden in Augenschein zu nehmen. Der Hauer hatte eine häßliche Wunde gerissen, die stark blutete, aber sie war nicht groß.

»Es sieht nicht schlimm aus, Richard. Alles wird gut.«

Der Prinz schien ihn nicht zu hören. »Hätte er sie doch geschont. Hätte er nur ein einziges Mal irgendwo irgendwen geschont … aber wozu?« Er lachte atemlos. »Er kann ja gut auf mich verzichten. Er hat … Söhne genug.« Schweiß glänzte auf seiner Stirn.

Cædmon fuhr behutsam mit dem Ärmel darüber. »Hast du Schmerzen?«

Richards Blick glitt hilflos suchend über die nackten Baumkronen, ehe er Cædmons Gesicht fand. Er nickte. »Es fühlt sich an, als sei alles zerrissen.« Seine Worte wurden undeutlich. »Cædmon …«

»Du darfst nicht soviel reden.«

»Es ist aber wichtig. Rufus hat … du mußt …« Er erschauderte, dann schoß ein beängstigender Blutschwall aus seinem Mund auf Cædmons Gewand, und sein Kopf fiel zur Seite. Cædmon lauschte seinem mühsamen Atem und betete. Hufschlag näherte sich, und der König preschte auf die kleine Lichtung und sprang aus dem Sattel.

Richard starb, ehe sein Vater ihn erreichte.

 

Der König hockte auf einem Knie im Morast, beinah so reglos wie sein toter Sohn. Dann hob er langsam die Linke und drückte behutsam die dunklen, starren Augen zu. Cædmon fühlte sich matt und dumpf vor Schmerz und dachte bitter: Hättest du ihm nur ein einziges Mal eine so liebevolle Geste geschenkt, solange er lebte.

William wandte den Kopf ab und stand auf. »Wischt ihm das Blut vom Gesicht, ehe seine Mutter ihn sieht«, sagte er heiser und ging zu seinem Pferd zurück.

Cædmon antwortete nicht, tat aber, was er gesagt hatte.

Bald wimmelte es auf der kleinen Lichtung von Menschen. Etienne stand eine Weile neben Cædmon, der immer noch mit Richards Kopf im Schoß am Boden kniete, sah tief bekümmert auf den toten Prinzen hinab, legte seinem Freund dann kurz die Hand auf die Schulter und wandte sich ab, um leise ein paar Anweisungen zu geben. Er hieß die Männer, den Kopf des Keilers vom Rumpf zu trennen und auf eine Lanze zu stecken, so daß er über dem Tor der Halle aufgepflanzt werden konnte, den restlichen Kadaver fortzuschaffen und zu verbrennen.

Als William die Königin zu der Buche am Rand der Lichtung führte, verstummte auch das leise Tuscheln, und die Leute bildeten eine Gasse, um sie hindurchzulassen.

Matilda stützte sich schwer auf Williams Arm. Als Cædmon aus dem Augenwinkel ihre winzigen Lederschuhe sah, hob er den Kopf und sah zu ihr auf. Die Lippen der Königin bebten. Bislang war ihr erspart geblieben, was die meisten Mütter schon viel früher durchlitten; Richard war das erste ihrer neun Kinder, das starb. Aber sie bewahrte Haltung. Fassungslos, bewundernd und befremdet zugleich beobachtete Cædmon, was sich auf ihrem Gesicht abspielte, wie sie den Schmerz zurückdrängte, den Schrei des Protests hinunterwürgte, all das auf später verschob, wenn sie allein war. Sie wandte den Kopf ein wenig, und ihre Blicke trafen sich.

»Bringt den Prinzen nach Hause, Cædmon«, bat sie.

»Natürlich, Madame.«

Rufus, Leif und Eadwig hatten sich am weitesten von der Jagdgesellschaft entfernt und kamen erst, als William und Matilda schon fort waren. Und das war vermutlich auch gut so, denn anders als seine Eltern hielt Rufus eiserne Disziplin in allen Lebenslagen für keine sehr erstrebenswerte Tugend. Er fiel neben seinem Bruder auf die kalte Erde, packte ihn und zog seinen leblosen Körper an sich, schloß ihn in die Arme und wiegte ihn. Er hatte die Augen zugekniffen, und Tränen liefen über sein Gesicht. »Oh, Richard …« Er weinte so hemmungslos, daß einige der Anwesenden das Gesicht abwandten, ob mitleidig oder beschämt, konnte Cædmon nicht sagen.

»Was mache ich denn nur ohne dich, Bruder? Was soll ich denn jetzt tun?«

Leif und Eadwig stellten sich vor die Prinzen, um ihren toten Freund anzusehen und ihn und seinen verstörten Bruder gleichzeitig vor den neugierigen Blicken abzuschirmen.

Cædmon stand langsam auf und wäre um ein Haar wieder hingefallen. Seine Beine waren eingeschlafen. Sein Bruder streckte ihm eine Hand entgegen, um ihn zu stützen, aber Cædmon schüttelte den Kopf, lehnte sich an den Stamm der Buche, sah auf dieses Bild des Jammers hinab und dachte: Ja, Rufus, du hast ganz recht. Was sollen wir jetzt nur tun? Sie brachten Richard auf einer aus Ästen und Mänteln zusammengeschusterten Bahre zurück nach Winchester. Die Leute der Stadt, die den traurigen Zug in den Straßen sahen, erzählten es voll Schrecken ihren Nachbarn, und bis zum Abend hatte sich beinah die ganze Stadtbevölkerung vor dem geschlossenen Tor versammelt, um dem König und der Königin ihr Mitgefühl zu bekunden, vor allem aber dem toten Prinzen ihren Respekt zu erweisen. Richard war ebenso wie Rufus bei den einfachen Leuten beliebt, aus keinem anderen Grund als daß sie stattliche, hübsche junge Prinzen waren, die den ehrerbietigen Gruß des Volkes auf der Straße in dessen Sprache erwiderten.

Richard wurde in der Kapelle aufgebahrt, und Odo las eine Messe für seinen toten Neffen. Vermutlich ist er dankbar, daß er das mit dem Rücken zur vollbesetzten Kirche tun kann, dachte Cædmon, denn der Bischof fuhr sich während der stillen Zeremonie immer wieder verstohlen mit dem Ärmel über die Augen.

 

Auch Tod und Trauer folgten einem vorgeschriebenen Ritual. Viele empfanden dies als tröstlich, denn so waren alle trotz ihrer dumpfen Hilflosigkeit mit irgend etwas beschäftigt. Rufus, Eadwig, Leif, Cædmon, Etienne und alle anderen jungen Männer am Hof hielten in der Kapelle jeweils zu sechst die Totenwache, Tag und Nacht. Steinmetze kamen und nahmen einen Tonabdruck vom Gesicht des Toten, nach dem das der ruhenden Statue auf seinem steinernen Sarg geformt werden sollte. Die Dienerschaft traf die nötigen Vorbereitungen für die Beerdigung – und natürlich für die Hochzeitsfeier, die nur drei Tage später stattfinden würde, wenn auch wegen des Trauerfalls im kleineren Rahmen als Baynard dies ursprünglich geplant hatte. Cædmon war es gleich. Er dachte einfach nicht daran. Die Trauer um den toten Prinzen hatte sich wie eine betäubende Kälte in seinem Innern ausgebreitet, so daß ihm alles gleichgültig und belanglos schien. Er kam sich vor wie eins dieser rätselhaften mechanischen Spielzeuge, die die Normannen gelegentlich aus dem Maurenland mitbrachten: ein lebloses Stück Holz, das sich nur durch irgendeinen faulen Zauber bewegte.

In der Nacht vor der Beerdigung wich die dumpfe Gleichgültigkeit ganz plötzlich ohne jeden erkennbaren Anlaß, und Cædmon schlich sich in den entlegensten Winkel des finsteren Hofs hinter dem Hühnerhaus, setzte sich auf die kalte Erde und weinte, wie er nicht mehr geweint hatte, seit sein Vater ihn von zu Hause weggeschickt hatte.

Und so fand Aliesa ihn. Sie hatte ein geradezu unheimliches Gespür dafür, ihn ausfindig zu machen, das war ihm schon früher aufgefallen. Er sah einen dunklen Schatten vor dem sternenübersäten Nachthimmel und hörte ihre leise Stimme. »Cædmon?«

Er genierte sich furchtbar, preßte den Arm auf den Mund und biß hinein, aber ein ersticktes Schluchzen stahl sich trotzdem noch heraus. »Laß mich. Bitte.«

Statt dessen beugte sie sich über ihn, zupfte seinen Mantel zurecht und setzte sich darauf. Dann zog sie seinen Kopf an ihre Schulter und hielt ihn fest. Er schloß die brennenden Augen, vergoß noch ein paar stille Tränen auf ihr makelloses grünes Kleid und hatte plötzlich das Gefühl, ein Jahr lang schlafen zu können.

Sie drückte die Lippen auf seine Schläfe. »Du fühlst dich betrogen, nicht wahr? Du hast das Gefühl, daß du jahrelang die Zeche bezahlt hast und jetzt nichts dafür bekommst.«

Er hob verwundert den Kopf. »Woher weißt du das?«

»Ach, Cædmon …« Sie lachte traurig. »Manchmal kann man deine Gedanken von deinem Gesicht ablesen wie die Wörter von der Seite eines Buches. Wann immer der König irgend etwas getan hat, das du mißbilligtest, wanderte dein Blick früher oder später zu Richard. Und wenn du gesehen hast, daß der Prinz genauso dachte wie du – die Dinge aus englischer Sicht betrachtete, dann war ein zufriedenes, kleines Lächeln auf deinem Gesicht, und man konnte förmlich sehen, wie du dachtest: Eines Tages, eines Tages, wenn Richard König von England ist, wird sich alles ändern.«

Hunderte Gelegenheiten fielen ihm ein, da er genau das gedacht hatte, und er spürte schon wieder einen Kloß im Hals, den er mühsam hinunterwürgte. »Ja. Genauso war es. Es ist erst ein paar Tage her, daß ich mit ihm darüber gesprochen habe. Deine Stunde kommt auch noch, habe ich zu ihm gesagt. Ich … habe mich getäuscht.«

Sie fuhr ihm über den Kopf, und es war einen Moment still. Dann sagte sie leise: »Nun wird es Rufus’ Stunde sein. Ihr alle neigt dazu, ihn zu vergessen.«

Cædmon atmete tief durch, sog ihren Duft ein, der sich wie Balsam auf seine Sinne legte, und dachte einen Moment nach. »Rufus … ist ein heller Kopf und teilt die Vorurteile seines Vaters gegen England nicht. Aber er liebt England auch nicht besonders. Rufus liebt vor allem Rufus.«

»Mag sein. Ich kenne ihn nicht wirklich gut. Aber genau wie ihr Rufus vergeßt, vergeßt ihr Henry.«

»Henry ist acht Jahre alt.«

»Aber das wird er nicht immer bleiben. Und dann ist da immer noch Robert. Er ist der einzige Sohn des Königs, den der gleiche brennende Ehrgeiz treibt wie seinen Vater. Schon jetzt regiert er die Normandie praktisch allein. Aber das wird ihm nicht reichen. Wenn der Tag kommt, da ein Nachfolger für den König bestimmt werden muß, wird Robert Ansprüche geltend machen, glaub mir. Und ich bin nicht sicher, daß einer seiner Brüder ihm gewachsen ist, auch Richard wäre das nicht gewesen.«

Cædmon schüttelte den Kopf. »Mag sein. Ich weiß es nicht. Ich glaube, es ist mir im Moment auch ganz gleich, Aliesa. Ich vermisse den Jungen so furchtbar. Ich weiß, es wird vergehen, aber im Moment ist mir egal, daß Richard nicht König von England wird. Der Grund, warum ich hier sitze und heule wie ein Bengel, ist, daß ich ihn nie mehr wiedersehe.« »Ich weiß.« Sie nahm seine Hand und drückte sie an ihre Wange. »Ich weiß, mon amour.«

Eine kleine Weile hüllte er sich noch in den Trost ihrer Gegenwart wie in einen wärmenden Mantel, aber dann stand er auf und zog sie mit sich in die Höhe. »Besser, wir gehen. Heute nacht finden so viele keinen Schlaf, irgendwer könnte uns sehen.«

Sie küßte ihn, schlang die Arme um seinen Hals und preßte sich an ihn. »Komm morgen nach Mitternacht in die Leinenkammer«, flüsterte sie ihm ins Ohr.

»Abgemacht.«

 

Sie betteten Richard in der Kirche des alten Klosters von Winchester zur letzten Ruhe. Lanfranc war aus Canterbury zurückgekehrt und hielt zusammen mit Odo das Requiem. Es war eine stille, würdevolle Zeremonie, und viele fanden Trost darin.

Still und würdevoll ging es auch beim anschließenden Essen zu. Die Tischgespräche in der etwa zur Hälfte gefüllten Halle waren gedämpft. Die Königin, die der Beisetzung ihres Sohnes trockenen Auges beigewohnt hatte, saß bleich und still an ihrem Platz und rührte die Speisen nicht an. Gebrochen, aber gefaßt, dachte Cædmon, genau wie meine Mutter damals, nachdem Vater bei Hastings gefallen ist.

Was der König empfand, war wie immer unmöglich zu sagen. Cædmon war überzeugt, daß er um Richard trauerte, aber man merkte es nur daran, daß seine Zunge noch schärfer war als gewöhnlich und sein Jähzorn leichter entflammte. In der Kirche hatte er den achtjährigen Henry geohrfeigt und hinausgeschickt, weil der kleine Junge nicht aufhören konnte zu weinen, als sie seinen großen Bruder in das kalte, steinerne Grab legten.

Rufus schien so abwesend und teilnahmslos, daß Cædmon sich fragte, ob der Prinz vielleicht sinnlos betrunken war. Doch er verwarf den Gedanken, als Rufus sich von seinem Platz an der hohen Tafel erhob und sich bedächtig an seinen Vater wandte. »Sire, darf ich sprechen?« William hob stirnrunzelnd den Kopf, nickte aber.

Rufus holte tief Luft und räusperte sich. »Vater, ich weiß, daß lange Reden Euch mißfallen, aber was ich Euch und dem Hof zu sagen habe, fällt mir sehr schwer, und ich bitte Euch um ein wenig Geduld.«

Eadwig, der auf der Bank weiter unten saß, stand unvermittelt auf. »Rufus, um Himmels willen …«

Rufus blinzelte fast unmerklich, warf dem Freund einen unglücklichen Blick zu und sah sofort wieder zu seinem Vater.

Der König ignorierte Eadwigs ungehörige Unterbrechung und sagte: »Sprich, Rufus. Ich werde dir zuhören, du hast mein Wort.«

Rufus befeuchtete die Lippen. »Vor ein paar Jahren habe ich eine Entdeckung gemacht, die mich sehr … bestürzt hat. Es betraf eine Sache, die ich Euch eigentlich gleich hätte zur Kenntnis bringen müssen, doch es waren Menschen davon betroffen, die mir nahestehen, und ich wußte nicht, was ich tun sollte. Also wandte ich mich an meinen Bruder Richard, vertraute mich ihm an und bat ihn um Rat. Und Richard nahm mir das Versprechen ab, das Geheimnis zu bewahren. Ich war erleichtert, weil es Euch und allen anderen Kummer ersparte. Aber dann fing dieses Geheimnis an, mich zu quälen, denn es machte mich zum Mitwisser, zum Komplizen eines schweren Verbrechens.« Er brach ab, als habe ihn plötzlich der Mut verlassen.

Der König sah seinen Sohn unverwandt an, den Kopf leicht gesenkt, die Rechte lose um seinen unberührten Becher gelegt. »Nur weiter. Ich glaube, du hattest selten ein aufmerksameres Publikum.«

Rufus legte nervös die Hände zusammen und senkte kurz den Blick. »Es … es tut mir leid, daß ich Euren Kummer mehre, Sire, statt Euch Trost zu bieten. Aber Richard ist tot und begraben, und mein Versprechen bindet mich nicht mehr. Und die Umstände zwingen mich, heute zu sprechen und nicht länger zu warten. Ihr habt … kürzlich gesagt, vom Ehebruch zum Hochverrat sei nur ein winziger Schritt, nicht wahr? Denn wer die Ehe breche, verstoße gegen die weltliche Ordnung ebenso wie gegen das göttliche Gebot, richtig?«

William hatte den Kopf noch ein wenig tiefer gesenkt. »Wer?« fragte er leise.

Rufus sah ihm in die Augen, wie das Kaninchen den Blick der Schlange erwidert, starr, völlig gebannt. »Cædmon of Helmsby und Etienne fitz Osberns Frau, Sire.«

Jedes Augenpaar in der Halle hing an seinen Lippen. Nur Cædmon starrte auf einen Fleck in der Tischdecke vor sich, seit er erkannt hatte, was Rufus seinem Vater zu sagen versuchte, und er rang verbissen um die Kontrolle sowohl über seine Blase als auch seinen leeren Magen. Aus dem Augenwinkel sah er Etienne an seiner Seite zusammenzucken, als die beiden Namen fielen.

Es war totenstill in der Halle.

»Das ist nicht wahr«, murmelte Etienne, stand langsam auf und wiederholte mit mehr Entschlossenheit: »Das ist nicht wahr. Cædmon?« Cædmon riß sich vom Anblick des Soßenflecks los und erhob sich ebenfalls.

»Es ist wahr«, widersprach Rufus in Etiennes Rücken. »Es tut mir leid. Aber was ich gesehen habe, war unmißverständlich.«

Etienne sah seinen besten Freund unverwandt an, und als er das Eingeständnis in Cædmons Blick las, weiteten sich seine Augen voller Entsetzen. Er wich zurück, stolperte beinah, als er über die Bank hinwegstieg, und sah kopfschüttelnd von Cædmon zu seiner Frau, die hoch aufgerichtet und mit vollkommen ausdrucksloser Miene auf ihrem Platz zu seiner Rechten saß. Auch vor ihrem Anblick schien er zurückzuzucken. Dann wurde ihm anscheinend bewußt, daß der versammelte Hof ihn anstarrte. Einen Moment stand er mit kraftlos herabbaumelnden Armen da, so als wisse er einfach nicht, was er tun sollte. Schließlich räusperte er sich und sah den König an, der wortlos nickte. Etienne nahm den Arm seiner Frau. Die Geste wirkte zaghaft und behutsam, aber sein Griff war so fest, daß die Knöchel seiner großen Hand weiß hervortraten.

»Madame …«

Sie stand sofort auf, und als sie sich zum Ausgang wandten, trafen sich Cædmons und Aliesas Blicke für einen Moment. Furcht und Schmerz verdunkelten ihre graugrünen Augen, sie schienen ein Spiegel seiner eigenen Empfindungen. Dann war sie fort. Ein paar Atemzüge lang hörte er noch die eiligen, langsam verklingenden Schritte. Als sie verhallt waren, drehte Cædmon sich zur hohen Tafel um. Rufus hatte den Kopf gesenkt und stand mit hängenden Schultern da wie ein gescholtener Bengel. Lanfranc und die Königin betrachteten Cædmon mit unverhohlener Verachtung, der kleine Henry angstvoll und verständnislos, Odo und der König mit unverkennbarem Zorn.

Dann nickte der König den Wachen zu und ruckte sein Kinn in Cædmons Richtung. Während sie hinzutraten, sagte er leise: »Sperrt ihn ein und legt ihn in Ketten, damit er mir nicht wieder davonläuft. Ich muß darüber nachdenken, was mit ihm geschehen soll.« Er wandte den Kopf zu einer dunkel gekleideten Gestalt, die, von allen anderen unbemerkt, im Schatten der Säulen gestanden hatte. »Erst einmal gehört er Euch, Lucien.«

Die Soldaten packten Cædmon bei den Armen und zerrten ihn zur Tür, dabei ging er ganz folgsam mit ihnen. Er konnte nicht viel anderes tun, denn er war vollauf damit beschäftigt, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Etienne, was tust du mit ihr, war der einzige Gedanke, dessen er fähig war, was tust du mit ihr …

Das letzte Gesicht in der Halle, das er sah, ehe er endgültig den Kopf senkte, war das seines Bruders. Eadwig stand bleich und stockstill an seinem Platz. Aber es war nicht Cædmon, den er anstarrte, sondern Rufus.

 

Die Wachen brachten Cædmon in den Hof hinaus. Dankbar atmete er die kühle Abendluft ein, ehe sie ihn eine Treppe hinab- und in einen kleinen, von einer einzelnen Fackel erhellten Wachraum hineinzerrten, wo rostige Ketten unterschiedlicher Länge von Haken an der Wand hingen. Der Sergeant, der an dem wackeligen Tisch in der Wachkammer bei seinem Abendessen gesessen hatte, erhob sich umständlich, schätzte mit geübtem Kennerblick Cædmons Größe und wählte zwei aus. Er verstand sein Geschäft. Als die kalten, vom Rost rauhen Schellen die Hand- und Fußgelenke umschlossen, hatten sie gerade noch genug Spiel, um den Blutfluß nicht abzuschneiden. Der Sergeant verscheuchte den Gefangenen samt Begleitern mit einem mißgelaunten Brummen und einem ungeduldigen Wedeln, und die Wachen brachten Cædmon einen kurzen, dunklen Gang entlang zu einer Tür.

Lucien war ihnen gefolgt. »Nein, nicht da hinein. Eins weiter«, befahl er.

Die Soldaten führten Cædmon zur nächsten Tür, der eine zog den Riegel zurück und öffnete, und der andere stieß ihn vorwärts. Cædmon stolperte über die Schwelle, geriet durch die ungewohnten Fußfesseln ins Straucheln und fiel hart auf den festgestampften Lehmboden.

Lucien folgte ihm mit einer Fackel in der Hand, die er in einen Eisenring an der Wand steckte. »Verschwindet«, herrschte er die Wachen an, und sie zogen sich hastig zurück und lehnten die schwere Eichentür an.

Cædmon richtete sich halb auf und sah sich um. Er hatte in seinem sechsundzwanzigjährigen Leben mehr Verliese gesehen, als die meisten Gevattern von sich behaupten konnten, aber dieses, erkannte er auf einen Blick, war von allen das grausigste. Kein Fenster, kein noch so winziges Luftloch verband es mit der Außenwelt. Der Boden war feucht und schien eisige Kälte auszustrahlen, Schimmel leuchtete grünlich an den Wänden. Die eisenbeschlagene Tür war massiv und unüberwindlich. Dicke steinerne Pfeiler stützten das Gewölbe, denn der Raum war verhältnismäßig groß. Doch wenn die Fackel ausgebrannt war, würde ihm das wenig nützen. Er sah, daß die Finsternis vollkommen sein würde. »Warum hier und nicht nebenan?« fragte er.

»Ich brauche Platz«, erklärte Lucien und sah ihn konzentriert an.

Cædmon rieb sich das Kinn an der Schulter und unterdrückte ein Schaudern. »Ich wünschte, du würdest gehen und Etienne hindern, irgend etwas zu tun, das er nachher bereut. Komm einfach später wieder, he?«

Lucien schüttelte langsam den Kopf. »Was immer Etienne tut, ist sein Recht. Und was immer aus meiner Schwester wird, verdankt sie allein dir.«

Cædmon nickte und wollte sich aufrichten, aber ein harter Tritt traf ihn an der Schulter, und er fiel zur Seite.

»Bleib unten, du würdest doch nicht lange stehen«, sagte Lucien leise. Er griff mit der einen Hand, die ihm geblieben war, unter seinen dunklen Mantel und zog sie mit einer eingerollten Ochsenpeitsche wieder hervor.

»Weißt du noch, was ich dir gesagt habe, als du mein Pferd gestohlen hast?« fragte Lucien und schüttelte sie aus, bis das lose Ende wie eine dünne Schlange auf dem dunklen Boden lag.

»Nein, nicht mehr so genau. Das ist über elf Jahre her, Lucien.«

»Stimmt. Es ist eine lange, lange Rechnung, Cædmon.«

Er trat einen Schritt zurück, maß mit konzentriert zusammengekniffenen Augen die Entfernung und glitt noch einen halben Schritt nach hinten. Cædmon legte schützend die Arme um den Kopf, nahm seinen Ärmel zwischen die Zähne und bezahlte seine Rechnung.

 

Er existierte form- und zeitlos in Schmerz und Dunkelheit, verlor sich in wirren, lichten Traumbildern, stunden- oder tagelang, er wußte es nicht. Er träumte von seiner Kindheit in Helmsby, Erinnerungen, die er längst vergessen hatte, dann wieder Dinge, die er sich erträumt hatte und die nie eingetreten waren, von Richard, von Aliesa, von dem Kind, das sie verloren hatten, und in seinen Träumen war dieses gesichts- und geschlechtslose Ding, das sie beinah umgebracht hätte, ein kleines Mädchen mit dunklen Locken und graugrünen Augen. Und manchmal war er so weit entrückt, daß er in der Ferne einen Korridor zu sehen glaubte, aus dem ein gleißendes Licht strömte, das aber die Augen nicht blendete. Er fühlte sich magisch angezogen von diesem Licht und schien ihm jedesmal näher zu kommen, um dann doch letztlich immer nur zu Schmerz und Dunkelheit zurückzukehren. Bis der Schmerz schließlich nachließ und Eadwig kam und mit seiner Fackel die Dunkelheit vertrieb.

Anders als das Zauberlicht in seinem Traum stach ihm das der Fackel gleißend in die Augen, und Cædmon blinzelte viele Male, ehe er seinen Bruder erkennen konnte, der wie vom Donner gerührt an der Tür stand und eine Hand auf den Mund gepreßt hatte.

»O Jesus Christus … Cædmon!«

»Also wer nun?« Sein lahmer Scherz mißglückte vollends, weil seine Stimme nur ein dürres Krächzen war, und er räusperte sich. »Fall mir bloß nicht in Ohnmacht, Junge. Und … starr mich nicht so an.«

»Entschuldige.« Eadwig gab sich einen Ruck, kniete sich neben den Bruder, hob behutsam dessen Kopf an und hielt ihm einen Krug an die Lippen.

Cædmon trank gierig. Er war vollkommen ausgetrocknet.

Eadwig setzte den Krug ab. »Schön langsam. Ich wäre eher gekommen, aber sie haben mich nicht zu dir gelassen.«

»Nein.« Cædmon keuchte, als sei er eine weite Strecke gerannt, stützte sich aber aus eigener Kraft auf einen Ellbogen und trank noch einen langen Zug. Dann sagte er: »Vermutlich haben sie befürchtet, ich würde ihnen verrecken, und in dem Fall hätten sie es vorgezogen, dir ein schönes Märchen zu erzählen.«

»Ich sorge dafür, daß der König hiervon erfährt«, stieß sein Bruder wütend hervor. »Er würde niemals gutheißen …«

»Das wirst du nicht tun. Er heißt es gut, sei versichert. William glaubt fest daran, daß er den Menschen letztlich einen Dienst erweist, wenn er sie auf Erden für ihre Sünden büßen läßt.« Er schwieg einen Augenblick. »Wer weiß. Vielleicht hat er recht. Was ist mit Aliesa?«

Eadwig hob kurz die Schultern. »Etienne hat ihr kein Haar gekrümmt. Gut informierte Quellen, das heißt, die Mägde, die sich an der Tür die Ohren plattgedrückt oder durch einen Spalt spioniert haben, berichten, daß sie es die ganze Nacht getrieben haben wie die … ähm, entschuldige, Cædmon.«

»Ja. Schon gut. Weiter.«

»Am nächsten Morgen hat er den König wissen lassen, daß er sie nicht wiedersehen will. Der König hat sie seinem Bruder übergeben. Das Gesetz sagt, bei Ehebruch soll der Bischof die Frau bestrafen und der König den Mann. Aber William wollte es nicht dem Bischof von Winchester überlassen, sondern hat die Sache lieber Odo anvertraut. Er schickt sie nach Caen ins Kloster.«

Cædmon bettete den Kopf auf die Arme und schloß die Augen. »Fort aus England.«

Eadwig antwortete nicht. Mit erstaunlich geschickten, sanften Händen streifte er seinem Bruder das zerfetzte, blutverschmierte Übergewand ab, soweit die Ketten es zuließen, und wusch ihm mit lauwarmem Wasser aus einem Eimer, den er mitgebracht hatte, das getrocknete Blut vom Körper. Brust, Rücken und Arme waren mit schauderhaft tiefen Striemen übersät, die sofort wieder zu bluten begannen.

»Gott verdamme Lucien de Ponthieu«, brachte Eadwig gepreßt hervor. »Was für ein Monstrum er ist.«

Cædmon stützte die Stirn auf die Faust und antwortete nicht. Ausnahmsweise war er einmal nicht in der Stimmung, Lucien de Ponthieu in Schutz zu nehmen.

Eadwig hängte ihm behutsam eine Decke um die Schultern. »Eisig kalt hier unten. Sieh zu, daß du dir nicht den Tod holst.«

»Vielleicht wäre es das beste.«

»Cædmon … reiß dich zusammen.«

»Ja. Gleich.«

Es war eine Weile still. Schließlich hob Cædmon den Kopf, nahm den Krug in beide Hände und trank. Zum erstenmal registrierte er, was seine Zunge schmeckte: Es war süßer Met. Alle Engländer schworen darauf; er war das Allheilmittel in jeder Lebenslage, Seelentröster in der größten Not.

Er reichte seinem Bruder den Krug, und auch Eadwig nahm einen tiefen Zug. »Fast leer. Ich besorge neuen.«

»Und wie geht es weiter? Bin ich enteignet?«

Eadwig schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein. Der König geht nächste Woche zurück auf den Kontinent. Er hat Bischof Odo angewiesen, dich mit nach Dover zu nehmen und dort einzusperren. Er scheint wirklich zu befürchten, daß du ihm wieder entwischst, so wie damals in Penistone.«

Cædmon grinste geisterhaft. »Da lagen die Dinge ein wenig anders. In Penistone hat Lucien de Ponthieu mich auf mein Pferd gesetzt und meiner Wege ziehen lassen.«

»Was? Wieso?«

»Wegen Aliesa. Er hat es die ganze Zeit gewußt. Von Anfang an. Und weil er seine Schwester so innig liebt, war er bereit, seinen Groll gegen mich ruhen zu lassen, bis … Na ja, bis passiert, was eben jetzt passiert ist. Bis ich sie ins Unglück stürze.« Er unterbrach sich kurz und drückte Daumen und Zeigefinger der Linken gegen die geschlossenen Lider. »Also ein Kloster in der Normandie für Aliesa, ein finsteres Loch wie dieses in Dover für mich, richtig?«

»So sieht es im Moment aus, ja.«

»Und … Etienne?«

»Er geht zurück nach Cheshire, schließlich ist er Sheriff dort und muß sich um allerhand kümmern. Er spricht nicht mehr mit mir, aber er hat mir ausrichten lassen, daß er dich ebensowenig wiederzusehen wünscht wie seine Frau.«

Cædmon nickte mit geschlossenen Augen. »Weiter, Eadwig. Laß dir nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen.«

»Ich hatte … ich war besorgt, wie du das aufnehmen würdest«, gestand sein Bruder beklommen.

Cædmon schlug die Augen auf. »Du hast befürchtet, es würde mich härter treffen als alles andere? Nun, in gewisser Weise hast du recht. Aber ich habe damit gerechnet, weißt du. Ich habe immer gewußt, daß die Hölle losbricht, wenn es herauskommt. Wir beide haben es gewußt und in Kauf genommen.«

»Du mußt sie sehr lieben.«

Cædmon ging nicht darauf ein. »Ich nehme an, auch Roland Baynard wird mich hier unten nicht aus alter Freundschaft besuchen?«

»So ist es. Die schöne Beatrice ist zu Tode beleidigt, und er meint, du habest sie entehrt. Ich verstehe allerdings nicht so recht, worüber er sich so aufregt, denn sie heiratet in zwei Wochen Lucien de Ponthieu, und er verlangt nur die Hälfte dessen, was du wolltest, wird erzählt. Also sollten die Baynards dankbar sein.«

»Nun, zumindest Beatrice wird dankbar sein. Es war nicht zu übersehen, daß sie Lucien anhimmelt. Und was ist mit Rufus? Ich könnte mir vorstellen, daß ihm die Geschichte schwer im Magen liegt.«

Eadwig senkte den Kopf. »Kannst du ihm je verzeihen, Cædmon?« »Früher oder später bestimmt.«

»Sein Vater hat sich erstaunliche Mühe gegeben, Rufus von seinem Konflikt zu befreien, und hat ihm mehrfach gesagt, er habe wie ein treuer, ergebener Sohn gehandelt. Aber es reißt ihn trotzdem in Stücke.«

»Armer Rufus«, sagte Cædmon bitter. »Das ist typisch für ihn. Er lenkt den Karren in den Sumpf und ist todunglücklich, wenn er untergeht. Klär mich auf, Eadwig. Ich bin sicher, du kennst die Wahrheit. Wann und wie hat er es herausgefunden?«

»Kurz nachdem ich an den Hof gekommen bin. Bei einer Jagd. Er ist dir nachgeritten, als du dich von der Gesellschaft entfernt hast, weil er einmal mit dir allein sein wollte, und dann hat er euch gesehen.«

Cædmon erinnerte sich gut an diese Jagd kurz nach seiner Rückkehr aus Flandern. Und er erinnerte sich auch, daß seine Schwierigkeiten mit Rufus etwa zu dieser Zeit begonnen hatten. »Und was hatte es mit diesem ›Versprechen‹ an Richard auf sich? Ich kenne Rufus, ihn bindet kein Versprechen. Richard muß irgend etwas gegen ihn in der Hand gehabt haben, um sein Stillschweigen zu erpressen. Was war es?«

Eadwig hob den Kopf und sah ihm in die Augen. »Weißt du das wirklich nicht?«

Cædmon hatte so eine Ahnung. »Du teilst mit ihm das Lager?«

»Ja.«

»Schon lange?«

»Vom ersten Tag an.«

Cædmon nickte. Er war nicht schockiert. Natürlich hatte die Kirche es verboten. Vor allem normannische Priester wetterten eifrig gegen Männerliebe, und der König verurteilte sie als die widerwärtigste Art der Unzucht. Auch Angelsachsen rissen gern Zoten darüber, aber kaum jemand nahm diese Dinge besonders tragisch. Jedermann wußte schließlich, was sich des Nachts in den Klöstern abspielte. Und niemand glaubte ernsthaft, daß die rauhbeinigen, kampffreudigen und goldgierigen Krieger, die dereinst die Hallen angelsächsischer Thanes und Earls bevölkert und ihre endlosen Kriege ausgefochten hatten, sich immer allein in ihre Decken eingerollt hatten, wenn es in den Hallen dunkel wurde, doch die alten Lieder erzählten auffallend wenig von Frauen …

»Es … na ja, es hat angefangen, als ich damals zu dem dänischen Prinzen kam«, erklärte Eadwig.

Cædmon schüttelte den Kopf. »Das tut mir leid, Bruder.«

»Nein, nein, versteh mich nicht falsch. Er war sehr gut zu mir. Eine Erlösung nach der Zeit auf dem Schiff. Ich hätte es nicht so unerträglich gefunden, bei ihm zu bleiben. Prinz Knut ist ein guter Mann, glaub mir.«

»Laß das nicht die Leute von York hören.«

Eadwig lächelte freudlos. »Ja. Ein wilder Krieger. Aber ein sanfter Liebhaber.«

»Und das also hat Richard gewußt und gedroht, es dem König zu offenbaren, wenn Rufus sein Wissen über Aliesa und mich preisgibt?«

»So war es. Rufus hat natürlich den Mund gehalten. Er zittert davor, daß der König es herausfinden könnte. Rufus wäre ein für allemal erledigt.«

»Ja, ganz bestimmt.«

»Und nachdem Richard tot war …«

»Ja.«

»Ich habe ihn angefleht, es nicht zu tun. Und er hat zu mir gesagt, er wolle noch einmal darüber nachdenken. Dann hat er es doch getan, ohne mich vorzuwarnen. Es war sehr schwer für ihn, weißt du. Er hängt so sehr an dir. Aber er fand, daß er dir im Grunde nichts schuldet, denn du hast Richard immer vorgezogen.«

»Ich fürchte, so war es. Was ist mit dir? Kannst du Rufus verzeihen? Ich könnte mir denken, daß deine Position bei Hofe auch nicht einfacher geworden ist.«

Eadwig seufzte tief und hob die Schultern. »Nein. Aber ich habe ihm trotzdem verziehen. Ich verzeihe ihm alles, Cædmon. Das weiß Rufus ganz genau, und er nutzt es schamlos aus.«

Die Tür flog krachend auf, und eine der Wachen trat über die Schwelle. »Das war lange genug. Verschwinde, Bürschchen.«

Eadwig sprang auf die Füße. »Ich komme wieder, Cædmon. Gibt es irgendwas, das ich dir bringen kann? Deine Laute?«

Cædmon schüttelte den Kopf. »Nichts. Vielleicht noch eine Decke. Und richte Lucien und Beatrice meine besten Wünsche zur Verlobung aus.«

Eadwig verdrehte die Augen. »Nein. Lieber nicht.«

Das zweite Königreich
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