Rouen, April 1079
Bei ihrer Rückkehr erwartete sie die Nachricht, daß Malcolm von Schottland in Northumbria eingefallen war und das Land nördlich des Tees verwüstete. Darüber hinaus erwarteten sie der Earl of Shrewsbury, Roger Montgomery, Hugh de Grandmesnil, der greise Roger de Beaumont und eine Schar weiterer mächtiger normannischer Adliger, deren Söhne, Brüder oder Neffen sich Roberts Rebellion angeschlossen hatten und gegen den König ins Feld gezogen waren. Aus England und den entlegensten Winkeln der Normandie waren sie nach Rouen gekommen, um zu vermitteln, den König zu überreden, mit Robert zu verhandeln und diesen Zwist zu beenden, der das anglo-normannische Reich spaltete und Kräfte vergeudete, die anderswo dringend gebraucht wurden, und die Sicherheit ernstlicher gefährdete, als es der König von Frankreich, der König von Schottland, der Herzog von Flandern oder die feindlichen Kräfte im Maine und der Bretagne je vermocht hätten. Anfangs lehnte der König empört ab. Sein ältester Sohn hatte gegen göttliches Gebot und natürliches Gesetz verstoßen, hatte seinem Vater erst den Gehorsam verweigert und ihn dann obendrein bei Gerberoi gedemütigt – William stand der Sinn nicht nach Aussöhnung, sondern nach Genugtuung. Nach Rache. Doch nach und nach zeigten die hartnäckigen Bemühungen der Vermittler erste Erfolge. Wieder einmal war es vor allem Montgomery, der den richtigen Ton fand. Hatte denn nicht sein eigener Sohn sich genauso gegen Gott, König und Vater versündigt? Gar die verhängnisvolle Rauferei angezettelt, die zum Bruch zwischen dem König und dem Prinzen geführt hatte? Saßen sie als Väter nicht praktisch im selben Boot, waren sie nicht gleichermaßen gekränkt und beleidigt worden? Genau wie all die anderen Väter, die nach Rouen geeilt waren? Wenn sie alle gewillt waren, ihren Söhnen zu vergeben, konnte der König es nicht auch? Mußte er das nicht sogar? Durfte er die Kränkung als Vater über seine Pflichten als Herzog und König stellen? Und so weiter und so fort. Als die Eisschollen auf der Seine zu schmelzen begannen, die ersten verwegenen Narzissen im struppigen Gras erblühten und die Fastenzeit einsetzte, hörte der König schließlich auf zu toben und fing an zuzuhören. Matilda verstärkte mit ihrem unverminderten Einfluß die Fraktion der Vermittler. Und als Prinz Robert seinem Vater schließlich einen Boten schickte, ließ der König ihm nicht den Kopf abschlagen, um ihn Robert zurückzusenden, wie er ursprünglich beabsichtigt hatte, sondern hörte ihn nach nur drei Tagen Wartezeit an. Alle atmeten erleichtert auf.
»Dieser Bote war ein extrem nervöses Knäblein, das kannst du mir glauben«, berichtete Cædmon Wulfnoth. »Als ich ihm die Nachricht brachte, daß der König ihn empfangen wolle, wurde ihm so schlecht, daß ich mich in Sicherheit bringen mußte, damit er mir nicht auf die Schuhe spuckte.«
Wulfnoth seufzte tief. »Man kann’s ihm kaum verübeln. Und? Was hatte Prinz Robert seinem Vater zu sagen?«
»Daß er ihr Zerwürfnis zutiefst bedauert.«
»Guck an. Das heißt, Robert ist endgültig pleite, ja?«
Cædmon nickte. »Es sieht danach aus. Offenbar hatte Philip von Frankreich sich mehr von Gerberoi versprochen, als Robert erreicht hat, und hat ihm weitere finanzielle Unterstützung verwehrt. Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Vielleicht hat es Robert auch einfach erschüttert, daß sein Vater beinah gefallen wäre, und er ist sich des Ausmaßes seiner Sünde bewußt geworden. Jedenfalls ist er auf Versöhnung aus und bescheiden geworden. Keine Rede mehr davon, daß er die Herzogswürde verlangt.«
»Sondern was?«
»Ein uneingeschränktes Pardon für sich selbst und seine Getreuen. Und die erneute Zusicherung, daß die Normandie nach dem Tod des Königs an ihn fällt.«
Wulfnoth brummte. »Hm. Dahinter könnte durchaus Philip von Frankreich stecken.«
Cædmon nahm einen Schluck aus seinem Becher und drehte ihn dann versonnen zwischen den Händen. »Möglich. Aber auf jeden Fall sieht es so aus, als werde der Familienkrach in absehbarer Zeit beigelegt. Zu schade, daß erst ein paar hundert gute Männer wie Toki Wigotson dafür ihr Leben lassen mußten …«
Ein leises Klopfen unterbrach ihn; im nächsten Moment öffnete sich die Tür, und Eadwig trat ein.
Wulfnoth lächelte ihm entgegen. »Was macht der Schwertarm, wackerer Eadwig? Kannst du schon wieder einen Bierkrug damit stemmen? Dann setz dich zu uns.«
Eadwig trat grinsend näher. »Er ist so gut wie neu.« Zum Beweis bewegte er den tadellos verheilten rechten Arm ein paarmal auf und ab. »Cædmon, eine der Wachen hat mir eine Nachricht für dich aufgetragen.« Sein Bruder sah ihn an. »Und?«
Eadwig hob beklommen die Schultern. »Etienne fitz Osbern verlangt nach dir.«
Cædmon dachte unbehaglich, daß er für dieses Treffen nicht bereit war, was immer Etienne auch von ihm wollte. Er ging trotzdem noch am selben Abend zu ihm, denn er wußte, daß er sich dieser Begegnung am nächsten oder übernächsten Tag ebensowenig gewachsen fühlen würde.
Als er die Außentreppe zum Gewölbe hinabstieg, spürte er eine Gänsehaut auf den Armen, die nichts mit der kühlen Aprilnacht zu tun hatte. Über einen Monat lang hatte er hier unten zusammen mit Wulfnoth in Angst und Ungewißheit geschmort, nachdem Harold Godwinson damals die englische Krone an sich gerissen hatte. Er dachte an die Ratten, die Kälte, die Feuchtigkeit und das unreine Stroh – die Trostlosigkeit dieses Ortes, die sich mit jedem Tag schwerer auf Gemüt und Glieder gelegt hatte. Und Etienne hatte unbeirrbar zu ihm gestanden und den Zorn des Königs und des Seneschalls riskiert, indem er zu ihnen gekommen war. Ein wahrer Freund …
»Was verschlägt Euch hierher?« fragte der Wachsoldat in dem kleinen, niedrigen Vorraum verwundert.
»Ich möchte zu Etienne fitz Osbern.«
»Tut mir leid, Thane. Niemand außer Vater Maurice darf zu ihm.«
Cædmon hielt ihm einen Penny hin. »Guck in die andere Richtung.« Der Soldat nickte zögernd, ließ die Münze verschwinden und wies auf den Weinschlauch und den halben Brotlaib, die Cædmon trug. »Das könnt Ihr hier lassen. Seit Beginn der Fastenzeit ißt und trinkt er so gut wie nichts mehr.«
»Wenn er es nicht will, kriegst du es«, versprach Cædmon. »Jetzt laß uns gehen.« Ehe mich der Mut verläßt, fügte er in Gedanken hinzu. Der Mann führte ihn zu der Tür des Verlieses, wo auch Cædmon und Wulfnoth eingesperrt gewesen waren. »Ich mach’ das nicht für den Penny, Thane«, stellte der Soldat verdrossen klar. »Wenn es rauskommt, krieg’ ich Schwierigkeiten. Ich tu’ Euch einen Gefallen.«
»Und dafür bin ich dir dankbar«, versicherte Cædmon ihm ohne Spott.
Der Wachsoldat brummte zufrieden, zog den Riegel zurück und öffnete die Tür. »Klopft dreimal, wenn Ihr rauswollt.«
Cædmon trat über die Schwelle in den großen Raum mit der niedrigen, gewölbten Decke. Hinter ihm schloß sich polternd die Tür, und die Flamme der einzelnen Fackel flackerte knisternd in der Zugluft, drohte zu verlöschen und beruhigte sich wieder.
Etienne saß mit dem Rücken an einen der Pfeiler gelehnt. Er trug immer noch die blutbefleckten Kleider vom Tag der Schlacht bei Gerberoi. Die dunklen Haare waren fast bis auf Kinnlänge gewachsen, aber offenbar hatte er irgendwen überreden können, ihn zu rasieren; die Stoppeln auf seinem Kinn waren nur ein paar Tage alt. Die Schiene war von seinem linken Arm verschwunden, der gebrochene Knochen längst geheilt. Seine Hände lagen locker im Schoß verschränkt, und er hatte den Kopf zur Tür gewandt.
»Cædmon?«
»Ja.« Er räusperte sich.
»Komm ein bißchen näher, wenn du so gut sein willst. Ich seh’ nicht mehr besonders gut.«
Cædmon machte ein paar zögernde Schritt auf ihn zu. »Was heißt das, du siehst nicht gut?«
Etienne winkte ab. »Willkommen in meinem bescheidenen Heim. Setz dich.«
Cædmon sank vor ihm auf die Knie und streckte ihm entgegen, was er mitgebracht hatte. »Hier. Nicht viel, fürchte ich. Aber guter Wein.« »Danke, ich will nichts.«
Sie sahen sich schweigend an. Etienne wirkte bleich und erschöpft. Das war nicht verwunderlich, schließlich war er seit über zwei Monaten hier unten, und Cædmon wußte, wie Kälte und Dunkelheit an den Kräften zehrten. Aber der distanzierte Ausdruck war ebenso aus Etiennes Augen verschwunden wie die eisige Feindseligkeit aus seiner Stimme.
»Ich habe die Nachhut nicht zum Verrat angestiftet, Cædmon.«
»Nein, ich weiß.«
Beinah amüsiert fuhren die dunklen Brauen in die Höhe. »So sicher bist du dir dessen?«
Cædmon hob langsam die Schultern und nickte wortlos.
»Denk nicht, ich sei nicht versucht gewesen, mich Robert anzuschließen«, gestand Etienne offen.
»Wegen Guillaume? Deinem Bruder?« vermutete Cædmon. »Ich weiß, daß er dir immer nahegestanden hat.«
»Ja. Näher als Roger, obwohl Roger und ich all die Jahre in England waren und Guillaume hier. Aber wenn ich mich dazu entschlossen hätte, die Seiten zu wechseln, wäre ich in aller Offenheit gegangen. Ohne dem König in den Rücken zu fallen.«
Cædmon nickte wiederum. Ungezählte Male hatte er versucht, dem König genau das zu erklären, war anfangs auf taube Ohren gestoßen, dann auf Ungeduld und schließlich auf zunehmend ernstgemeinte Drohungen.
»Weißt du, daß mein Bruder hinkt? So wie du früher?« fragte Etienne beiläufig.
»Ja, irgendwer hat mir davon erzählt.«
»Aber anders als du wird Guillaume bis ans Ende seiner Tage hinken.« »Und weißt du, wem er das zu verdanken hat?«
Etienne nickte. »Natürlich. Aber immerhin dachtest du, er habe deinen Bruder getötet, nicht wahr?«
»Du bist gut informiert«, bemerkte Cædmon.
Etienne zuckte mit einem schwachen Lächeln die Schultern. »Montgomery kommt gelegentlich her und erzählt mir, was vorgeht. Obwohl er im Gegensatz zu dir nicht an meine Unschuld glaubt. Er bedauert mich lediglich. Und er denkt, daß es nur der Gnade Gottes zu verdanken sei, daß sein Sohn nicht an meiner Stelle ist. Wie auch immer. Ein Mann in meiner Position lernt, sich an der Ironie des Schicksals zu erfreuen, und es ist ironisch, daß mein Bruder Guillaume, dem ich all dies hier letztlich zu verdanken habe und der sich solche Mühe gegeben hat, dir und den deinen Schaden zuzufügen, nun mit dem Gebrechen geschlagen ist, das du überwunden hast. Vielleicht lernt er etwas daraus, wer weiß.«
»Was heißt das, du hast es Guillaume zu verdanken?« fragte Cædmon verständnislos.
»Kurz nach meiner Ankunft hier in Rouen vor Weihnachten schickte mein Bruder mir einen Boten, Rollo fitz Alan. Kanntest du ihn?«
»Nur dem Namen nach. Er ist bei Gerberoi gefallen.«
»Und Gott verdamme seine verräterische Seele. Rollo hatte sich auf Geheiß meines Bruders dem Gefolge des Königs angeschlossen, um weitere Männer für Prinz Roberts Sache zu gewinnen. Am Heiligen Abend bestellte er mich in den Rosengarten zu einem Verschwörertreffen. Als sie sich dort versammelten, um die Falle von Gerberoi zu planen, stolperten sie über dich und schlugen dich nieder. Was zur Hölle hattest du dort verloren, Cædmon?«
»Nun … ich gehe ab und zu hin, einfach so. Um allein zu sein.«
Etienne nickte. »Als ich dich dort liegen sah, war ich erschrocken. Es war eigenartig. Eigentlich hätte es mich erfreuen müssen. Ich … ich habe dich so gehaßt, Cædmon. Mehr als ich je einen Menschen geliebt habe, habe ich dich gehaßt. Das ist … eine ernüchternde Bilanz.«
Cædmon sah ihn wortlos an. Sprachlos. Er konnte nicht sagen, daß es ihm leid tat. Obwohl er zutiefst bedauerte, was er Etienne angetan hatte. Aber er wußte genau, daß er es morgen wieder getan hätte, wenn er noch einmal vor die gleiche Wahl gestellt worden wäre. Also was sollte er sagen?
»Jedenfalls habe ich Rollo fitz Alan die Nase blutig geschlagen und ihm klargemacht, daß ich kein Interesse an der Verräterbotschaft meines Bruders habe. Dann hab ich dich da weggeschafft.« Er lachte leise. »Wenn ich ihn angehört hätte, hätte ich die Falle von Gerberoi vielleicht verhindern können.«
Cædmon schüttelte fassungslos den Kopf. »Und hast du das dem König erzählt?«
»Ja, aber er hat nicht zugehört. Er will mir nicht glauben. Seit dem Tag, da mein Bruder Roger ihn verraten hat, hat er mir mißtraut.«
»Dann werde ich es ihm eben noch einmal erklären«, versprach Cædmon hitzig. »Ich bin sicher, daß ich Montgomerys Unterstützung gewinnen kann, und dann …«
Etienne hob abwehrend eine der langen, schmalen Hände. »Es hat keinen Sinn, Cædmon. Es ist auch nicht mehr so wichtig.«
Angst legte sich wie eine eiskalte Hand um Cædmons Herz, ein unheimliches, unbestimmtes Grauen, und jetzt erkannte er, daß es sich angeschlichen hatte, seit er dieses Verlies betreten und Etienne zum erstenmal in die Augen gesehen hatte. »Was soll das heißen, es ist nicht mehr wichtig?«
»Ich werde blind, Cædmon«, eröffnete Etienne ihm scheinbar gelassen. »Na ja, das war ich in gewisser Weise immer schon. Wollte es sein. Ich habe immer gewußt, daß du sie liebst, weißt du.«
Cædmon schreckte zusammen und starrte ihn an. »Etienne …«
»Nein, es wird Zeit, daß wir darüber reden. Ich bin im reinen mit Gott und sogar mit mir selbst. Nur du fehlst noch.«
Cædmon ließ den Kopf hängen. »Welcher Sinn könnte darin liegen, darüber zu reden?« fragte er leise. »Es gibt keine Sünde, zu der ich nicht herabsinken könnte, um Aliesa zu bekommen. Ich würde den König dafür verraten, meine Familie im Stich lassen, Gott entsagen und meine Seele dem Satan verkaufen. Ich bin felsenfest davon überzeugt, daß ich sie mehr liebe, als du sie je geliebt hast. Aber sie war deine Frau, nicht meine. Wenn meine Liebe gut und rein und selbstlos gewesen wäre, hätte ich das Weite suchen und euch zufrieden lassen müssen. Aber ich bin nicht gut und rein und selbstlos, sondern rücksichtslos und schwach und selbstsüchtig, und deswegen habe ich auch nicht verdient, daß du mir verzeihst.«
Etienne nickte mit gerunzelter Stirn. »Ich sehe, du hast auch ein paar wenig schmeichelhafte Erkenntnisse über dich selbst gewonnen.«
»Ja. In einem Loch wie diesem, genau wie du.«
»Hm. Nun, ich gestehe, daß ich deiner Selbstzerfleischung nur höchst ungern etwas entgegensetze, aber ich habe dir verziehen, Cædmon. Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht.«
Cædmon sah ihn unsicher an und fragte sich, ob Etienne vielleicht ein grausames Spiel mit ihm trieb, ob das hier seine Rache war.
Etienne belächelte seine Zweifel, dann nickte er nachdrücklich. »Es ist die Wahrheit.«
»Aber … warum solltest du das tun?«
»Oh, ich weiß nicht. Ich war in dieser ganzen Geschichte auch kein Unschuldslamm. Wie gesagt, ich habe schon damals hier in Rouen gespürt, daß sie es dir angetan hatte. Deswegen habe ich so lange gezögert, dir zu sagen, daß sie meine Verlobte ist. Ich wollte dir so lange wie möglich Zeit lassen, dich in deinen Wunschträumen zu ergehen. Immer in der sicheren Gewißheit, daß mir gehörte, was du begehrtest. Du warst mein bester Freund, Cædmon, hättest alles für mich getan, und trotzdem hat es mir ein eigentümliches Vergnügen bereitet zu wissen, daß ich den Preis gewinnen würde, wenn du den Vergleich verzeihen willst. Daß ich dir in dieser Hinsicht überlegen war. Das war Hochmut, verstehst du. Und keine andere Sünde kommt einen so teuer zu stehen.«
Cædmon lauschte ihm ungläubig und schalt sich einen unverbesserlichen Narren, weil Etiennes freimütiges Eingeständnis ihn selbst nach all den Jahren noch kränken konnte.
»Und was Aliesa betrifft, hast du recht«, fuhr Etienne fort. Er hob kurz die Schultern. »Ich habe sie geliebt, kein Zweifel. Ich meine, man konnte ja kaum anders, sie ist eine wundervolle Frau. Aber nicht so wie du. Ich hätte nicht wie du Kopf und Kragen und Seelenheil riskiert, um sie zu haben. Mir wäre auch im Traum nicht eingefallen, wegen ihr damit aufzuhören, jede Frau zu verführen, die ich kriegen konnte.« Er sah Cædmon in die Augen. »Und es waren nicht nur unverheiratete, weißt du. Mit anderen Worten, ich habe verdient, was ich bekommen habe, vielleicht noch mehr als du. Und ich habe dich im Grunde nur aus verletzter Eitelkeit gehaßt, und das ist erbärmlich.« Er brach ab und atmete tief durch.
»Etienne …«
»Fang bloß nicht an zu heulen, Mann.«
Cædmon räusperte sich entschieden. »Nein. Laß uns diesen Wein trinken, was meinst du?«
Etienne hob abwehrend die Linke. »Trink für mich mit. Ich vertrage ihn nicht mehr.«
»Wieso nicht?«
»Dazu kommen wir gleich. Nimm einen ordentlichen Schluck, Cædmon, du wirst ihn brauchen. Ich bin noch nicht fertig mit dir.«
Cædmon streckte die Beine aus und stellte fest, daß seine Füße eingeschlafen waren. Es kam ihm vor, als hätte er stundenlang im schmutzigen Stroh gekniet. Er bewegte die kribbelnden Zehen in den Schuhen und trank einen tiefen Zug aus dem Weinschlauch, um den Kloß hinunterzuspülen, der sich hartnäckig in seiner Kehle hielt.
Eine Weile redeten sie nicht. Cædmon konnte nicht sagen, was Etienne durch den Kopf ging. Er selbst wärmte sich an ihrer wiedergefundenen Freundschaft, lehnte mit geschlossenen Augen an dem dicken, steinernen Pfeiler und erging sich in einem kleinen Rausch der Leichtigkeit, wie er sie seit drei Jahren nicht mehr empfunden hatte. Aber dieses Gefühl war nur von kurzer Dauer. Die Furcht, die ihn beschlichen hatte, kaum daß er diesen Ort der Finsternis betreten hatte, war nicht gewichen.
»Was ist mit deinen Augen?« fragte er schließlich.
Etienne antwortete nicht sofort. Er regte sich, verschränkte die Arme, ließ sie wieder sinken und legte die Hände lose auf die angewinkelten Knie. »Die Augen sind nicht das Problem. Es ist mein Kopf. Ich sterbe, Cædmon.«
Cædmon kniff für einen Moment die Augen zu, riß sie wieder auf, wandte den Kopf und sah ihn an. Er war nicht wirklich überrascht. Er hatte es gewußt, als er ihn sah, stellte er fest. »Woran?«
Etienne wich seinem Blick aus und hob kurz die Schultern. Es wirkte verlegen. »Ich habe … Anfälle. Ich bekomme grauenhafte Kopfschmerzen. Sie … sind schlimmer als alles, was ich mir je hätte vorstellen können. Vor ein paar Tagen war es einmal so schlimm, daß ich geschrien habe. Stundenlang, sagen die Wachen. Ich weiß nichts mehr davon. Sie glaubten, ich sei von einem Dämon besessen, und holten Vater Maurice. Er blieb bei mir, bis es vorüberging, und ich habe ihn gebeten, einen jüdischen Arzt aus der Stadt herzuholen.« Er brach ab. »Und? Hat er’s getan?«
Etienne nickte. »Ein aufgeschlossener Mann, Vater Maurice. Ich weiß nicht, wie ich die vergangenen Monate ohne seine Hilfe überstanden hätte.«
»Was hat der Arzt gesagt?« fragte Cædmon.
»Daß etwas in meinem Kopf wächst, das nicht dorthin gehört. Er nannte es einen Tumor. Er sagt, vermutlich habe ich ihn schon mein ganzes Leben lang. Durch die Kopfverletzung bei Gerberoi ist dieser Tumor aus dem Schlaf geweckt worden, und jetzt … wächst er.«
»Großer Gott … Und kann man nichts tun, damit er wieder einschläft?«
»Nichts.« Etienne hob den Kopf und sah ihn wieder an. »Er wird wachsen und wachsen, und je weiter er wächst, um so häufiger und schlimmer werden die Anfälle. Es ist jetzt schon schlimmer als vor einem Monat. Und ich will so nicht sterben, Cædmon.«
Cædmon starrte ihn unverwandt an und betete in tiefster Inbrunst, daß er sich irren möge, daß er mißverstand, was sein Freund ihm zu sagen versuchte.
Etienne erkannte das nackte Entsetzen in seinen Augen und legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. »Ich habe ein Testament gemacht, es ist in Vater Maurice’ Obhut. Darin steht, daß ich dir und Aliesa vergebe und daß es mein Wunsch ist, daß du sie heiratest. Vater Maurice ist eingeweiht. Er wird dich von jedem Vorwurf freisprechen, er weiß, daß es mein freier Entschluß ist.«
»Etienne … bitte … bitte nicht.«
»Cædmon«, fuhr Etienne fort, seine Stimme leise, samtweich und überzeugend; die Stimme der Vernunft. »Es gibt niemanden sonst, den ich bitten könnte. Wenn du ablehnst, dann … dann werde ich elend verrecken. Ich habe den Arzt gebeten, mir die Wahrheit zu sagen, aber ich muß gestehen, daß ich das im nachhinein bereue. Die Schmerzen sind jetzt schon unerträglich. Aber sie werden schlimmer, sagt er. Sie werden länger andauern. Bis sie irgendwann nicht mehr weggehen. Und er sagt, bevor ich schließlich sterben werde, weil dieses Ding in meinem Kopf mein Hirn so unbarmherzig zusammendrückt, daß irgend etwas zerplatzt, bevor das passiert, werde ich den Verstand verlieren. Cædmon, ich bitte dich um der Liebe Christi willen, laß mich so nicht sterben.«
»Ich …« Cædmon atmete tief durch und versuchte, seinen rasenden Herzschlag zu beruhigen, »ich muß darüber nachdenken. Gib mir einen Tag.«
»Nein.« Etiennes Stimme klang plötzlich scharf, Panik schwang darin. Er ließ Cædmon nicht aus den Augen und schüttelte entschieden den Kopf. »Du würdest hundert Gründe finden, es nicht zu tun, und dich nie wieder herwagen.«
»Du irrst dich.«
»Cædmon, ich habe gebeichtet und bin von meinen Sünden losgesprochen. Heute ist der Tag. Ich weiß nicht, ob ich noch einmal den Mut finde. Wenn du es nicht tust, muß ich selbst einen Weg finden. Und du weißt, was dann aus mir wird.«
Cædmon blinzelte verstört, fassungslos angesichts dieser grauenhaften Wahl, vor die er sich plötzlich gestellt fand.
»Es tut mir leid, daß ich dich erpresse«, gestand Etienne und stützte die Stirn auf die Faust. »Aber wenn du kneifst, dann … Gott, ich weiß nicht, was dann wird.« Er sah wieder auf. »Hilf mir, Cædmon. Bitte.« »Ich helfe dir«, hörte Cædmon sich sagen. »Hab keine Angst mehr.« Etienne schloß die Augen und stieß in grenzenloser Erleichterung die Luft aus. »Dann … dann werde ich jetzt den Wein trinken, den du mir mitgebracht hast.«
»Hier.« Cædmon reichte ihm den Schlauch mit seltsam schleppenden Bewegungen. Ein grausiges Gefühl der Unwirklichkeit wollte ihn beschleichen, und er kämpfte es verbissen nieder.
»Es wird vielleicht eine Stunde dauern, bis die Kopfschmerzen einsetzen. Sie kommen immer, wenn ich Wein trinke, aber heute brauche ich sie ja nicht zu fürchten«, sagte Etienne mit einem schwachen Lächeln. »Bis dahin wollen wir über alte Zeiten reden, ja?«
»Ja.«
»Und wenn ich sage: ›Ich glaube, ich möchte jetzt schlafen‹, dann tust du’s, ja? Zeig mir deinen Dolch, Cædmon.«
Cædmon zog sein langes Jagdmesser aus der Scheide am Gürtel und reichte es ihm mit dem Heft zuerst. Etienne prüfte behutsam die Schneide mit dem Daumen, nickte zufrieden und gab es ihm wieder zurück.
»Gut. Und du wirst es auch wirklich tun, nicht wahr? Und schnell?« »Du weißt doch, daß meine Hände schneller sind als jeder Falke, den du je besessen hast.«
Etienne lachte, leise und unbeschwert, setzte den Schlauch an die Lippen und trank mit dem gewaltigen Zug, der ihm zu eigen war.
Sie sprachen über alte Zeiten. Über Jehan de Bellême, seinen komischen, krummbeinigen Gang und seinen Glatzkopf, über die Schnippchen, die sie ihm manchmal geschlagen hatten. Und sie erinnerten sich an die Überfahrt auf der Mora und an Hastings, an die Krönung und die guten Jahre voll großer Taten danach, als sie das Ihre dazu beigetragen hatten, England neu zu ordnen. Wie stolz sie gewesen waren. Und wie unschuldig.
Flegelhaft zogen sie über Lucien de Ponthieus Einarmigkeit und Roland Baynards absolute Humorlosigkeit her, und Etienne entsann sich genußvoll der vielen schönen Frauen, deren Gunst er errungen hatte. Er war in Windeseile betrunken. Seine Augen wurden trüb, seine Stimme schleppend.
»Verflucht, Cædmon, ich kann dich kaum noch erkennen«, sagte er schließlich mit einem verschämten kleinen Lachen. Er lallte beinah. »Das macht nichts. Du weißt ja, wie ich aussehe.«
»Und mir ist so schwindelig. Würdest du es als sehr ungehörig empfinden, wenn ich meinen Kopf in deinen Schoß legte?« Seine Stirn war gerunzelt, und sein Gesicht wirkte mit einemmal grau.
»Nein, keineswegs.«
Etienne hob den Schlauch ein letztes Mal an die Lippen und ließ sich die letzten Tropfen in den Mund rinnen. Dann streckte er sich auf dem Rücken aus, kreuzte die Knöchel und bettete den Kopf auf Cædmons Oberschenkel.
»Es … es war kein schlechtes Leben, weißt du. Ich bin dreißig Jahre alt geworden, das ist kein so übles Alter, oder?«
»Nein«, stimmte Cædmon zu, den noch ein Jahr von seinem dreißigsten Geburtstag trennte. »Danach kommen nur noch Greisenalter und Siechtum.« Etienne lachte glucksend, dann verzerrte sich sein Gesicht, und er preßte die flache Hand auf die linke Schläfe. »Gott war mir fast immer gnädig in diesen dreißig Jahren. So viele Wünsche sind mir erfüllt worden. Selbst wenn sie allesamt eitel waren …«
»Ja, du hast recht.« Die trüben, blutunterlaufenen Augen fielen zu. »Gott, Cædmon, erinnerst du dich, wie wir … wie wir die Schweine in Winchester mit in Wein getunktem Brot gefüttert haben und sie alle besoffen waren?«
»Nicht so besoffen wie wir.«
»Das ist wohl wahr. Und dann … und dann … Cædmon, ich bin so müde.«
Cædmon antwortete nicht. Behutsam legte er die Rechte auf den dunklen Schopf, wandte den Kopf ab, damit seine Tränen nicht auf Etiennes Gesicht fielen, und zog mit der Linken das Messer aus der Scheide.
»Cædmon?«
»Ja, Etienne.«
»Ich glaube, ich möchte jetzt ein bißchen schlafen.«
Cædmon nahm die Hand vom Kopf seines Freundes, legte sie über die Linke an den abgegriffenen Schaft des langen Messers und stieß es Etienne mit einer präzisen, fließenden Bewegung in die Brust.