Helmsby, September 1070

Cædmon hatte sich den Luxus geleistet, einen Boten vorauszuschicken, damit seine Mutter und sein Vetter Alfred vorgewarnt waren, die Gästekammern herrichten und Onkel Athelstan irgendwo verstecken konnten. Es war ja nicht nötig, daß es gleich zu Anfang zu größeren Peinlichkeiten kam, auch wenn er sich keine Illusionen über den Erfolg dieses Besuches machte.

Beinah vier Tage war er mit Beatrice und ihrer Tante Yvetta – einer alten Jungfer von mindestens dreißig – unterwegs gewesen, denn die Damen waren lange Reisen nicht gewöhnt und ermüdeten schnell. Die Unterhaltung während der vielen eintönigen Stunden im Sattel verlief erwartungsgemäß stockend. Cædmon und Beatrice hatten bislang noch kein Thema finden können, das sie beide interessierte. Also plauderte Beatrice meist mit ihrer Tante über Menschen, die er nicht kannte, und Orte, an denen er nie gewesen war, oder sie beschwerten sich über die Strapazen des Reisens in diesem unwegsamen, barbarischen Land. Cædmon fragte sich verdrießlich, wo die Straßen der Normandie sein sollten, die angeblich soviel besser waren. Alle, die er kennengelernt hatte, waren ebenso staubig und holprig wie diese. Nach zwei Tagen war er es so satt, daß er nur mit eiserner Disziplin dem Drang widerstand, davonzureiten und sie ihrem Schicksal zu überlassen.

Am frühen Nachmittag des vierten Tages, schon in Sichtweite der ersten Häuser von Helmsby, begann es endlich zu regnen. Seit dem Morgen war es heiß und drückend, und gegen Mittag waren die ersten, schwarzen Wolken aufgezogen, aus denen es jetzt gewaltig schüttete. Trotz der wochenlangen Trockenheit füllte sich augenblicklich jede noch so kleine Bodenwelle mit Wasser, und der Weg verwandelte sich in zähen Morast.

Cædmon konnte der Versuchung nicht widerstehen: Er ließ Widsiths Zügel für einen Augenblick los, breitete die Arme aus und sagte: »Mesdames – willkommen in East Anglia.«

Beatrice und Tante Yvetta starrten ihn sprachlos an. Schließlich hob Beatrice die Linke und strich sich die triefenden Locken aus der Stirn. »Können wir nicht in der Kirche dort drüben Schutz suchen?« fragte sie kläglich.

Cædmon schüttelte seufzend den Kopf. »Das Dach der Kirche ist so löchrig, daß es drinnen mindestens so schlimm regnet wie draußen.« Das entsprach zwar der Wahrheit, aber er hätte es vielleicht auch gesagt, wenn das Dach von St. Wulfstan mit frischen, dichten Strohschindeln gedeckt gewesen wäre. Er fand, diese kleine Rache für vier Tage ununterbrochenes Genörgel stand ihm zu. »Kopf hoch, Beatrice. Es ist nicht mehr weit. Höchstens eine halbe Meile.«

Ein kleiner Sturzbach rann vom Zipfel ihrer Kapuze auf den Rücken ihres dünnen Sommermantels hinab, und wieder hob sie die Hand, um die aufgelöste Lockenflut zurückzustreichen. »Aber was wird Eure Mutter von mir denken, wenn sie mich so sieht?« Sie sah mit bangen Kinderaugen zu ihm auf.

Cædmon bekam ein schlechtes Gewissen. Er wußte, daß ihr nur deshalb daran gelegen war, einen guten Eindruck auf seine Mutter zu machen, weil Marie Normannin war, doch das änderte ja nichts an der Tatsache, daß diese bevorstehende Begegnung sie ängstigte. Und seine Mutter würde sich wahrscheinlich keine große Mühe geben, Beatrice ein herzliches Willkommen zu bereiten.

Er lächelte sie an. »Meine Mutter wird zweifellos denken, daß Ihr in einen Schauer geraten seid. Und jetzt kommt. Dort unter den Bäumen haben wir etwas Schutz. Aber bleibt auf dem Pfad und haltet Euch hinter mir.«

»Warum?« fragte Beatrice argwöhnisch. »Was ist mit diesem Wald?« »Ähm … gar nichts. Wir haben hier nur viele Tümpel. Und hier und da ein bißchen Treibsand.«

Yvetta begann, leise vor sich hinzumurmeln. Cædmon nahm an, sie betete. Doch als er genauer hinhörte, stellte er verblüfft fest, daß die reizlose, schmallippige, flachbrüstige Tante Yvetta fluchte wie ein Kesselflicker.

 

Wie so oft stand der Steward an der Zugbrücke, um den Burgherrn zu begrüßen, und grinste von Ohr zu Ohr. Alfred war ein kerniger Bursche – die paar Tropfen konnten ihm nichts anhaben. Als er auf Widsith zutrat, schwappte Wasser aus seinen knöchelhohen Schuhen.

»Willkommen daheim, Thane!« Er hielt Cædmon den Steigbügel, wie er es immer tat. Nicht daß es nötig gewesen wäre; Cædmon konnte ebensogut ohne Hilfe auf- und absitzen. Es war eine Geste der Höflichkeit und Ergebenheit, die Cædmon sehr zu schätzen wußte. Er glitt aus dem Sattel und schloß seinen Vetter in die Arme. »Danke, Alfred. Laß mich dir die Damen vorstellen.«

Höflich half Cædmon erst Beatrice und dann Yvetta vom Pferd, reichte jeder einen Arm, brachte sie zu Alfred und machte sie bekannt.

Alfred verneigte sich tief. »Enchanté, Mesdames.« Er erklärte Cædmon später, daß er Marie gebeten hatte, ihm wenigstens das beizubringen, und es tagelang geübt hatte.

Beatrice und Yvetta beschränkten sich auf ein knappes Nicken. Alfred wandte sich ab, zwinkerte Cædmon zu, um zu zeigen, daß er nicht gekränkt war – was vermutlich nicht stimmte –, und ging dann voraus zur Halle. Höflich hielt er ihnen die Tür auf, und sie traten ins dämmrige, feuchtschwüle Innere.

Cædmon sah sich verstohlen um und war erleichtert: Reine Leinenlaken bedeckten die langen Tische, frisches Stroh den Boden, und seine Housecarls wirkten überdurchschnittlich sauber und gepflegt. Vermutlich hat Mutter ihnen die Hölle heiß gemacht, dachte er mit einem stillen Grinsen. Seine Halle war schlicht und würde es immer sein, aber er sah nichts, wofür er sich hätte schämen müssen.

Seine Mutter erschien an der Tür in der gegenüberliegenden Stirnwand und trat auf sie zu – gemessenen Schrittes und dunkel gekleidet. Aber sie lächelte.

Marie und Cædmon begrüßten sich höflich und kühl wie gewöhnlich, dann wandte sie sich den Gästen zu, und Cædmon stellte die drei Damen einander vor.

Marie nickte Yvetta zu und beachtete sie nicht weiter. Dann ließ sie den Blick über Cædmons Braut gleiten, abschätzend und kritisch. »Armes Kind. Welch ein Pech, daß Ihr in diesen Regenguß geraten seid. Man wird Euch sofort zu Eurer Kammer führen, so daß Ihr Euch frisch machen könnt. Alfred, sorge dafür, daß das Gepäck der Damen nach oben gebracht wird.«

»Natürlich.« Er winkte einen halbwüchsigen Jungen heran, der erfolglos versuchte, sich an den feinen Herrschaften vorbei zur Tür zu schleichen. »Ine, komm her.« Der Junge trat mit gesenktem Kopf näher und verbeugte sich linkisch vor Cædmon und Alfred. »Geh raus zu den Gäulen«, sagte Alfred. »Schaff herein, was wie Gepäck aussieht, dann bring die Pferde in den Stall. Dein Vater soll sehen, wo er Platz für sie findet.«

»Ja, Alfred.« Der Junge eilte davon, und Alfred wandte sich an Cædmon. »Ich bin sicher, du willst den Damen die Burg zeigen, aber wir müssen ein paar wichtige Dinge besprechen. Wir haben eine miserable Ernte, und ich weiß nicht, wovon wir die Steuern bezahlen sollen …«

»Geh nur mit Alfred, Cædmon. Ich werde mich der Damen annehmen«, sagte Marie auf Normannisch.

Cædmon schwankte einen Moment. Ihm war nicht entgangen, daß seine Mutter kein Wort des Willkommens zu Beatrice gesagt hatte, und auch wenn er nicht viel für seine Braut übrig hatte, zögerte er doch, sie dem herben Charme seiner Mutter zu überlassen.

Aber Beatrice überraschte ihn mit echtem normannischen Schneid. »Das wäre sehr freundlich, Madame«, sagte sie lächelnd. »Ich will Euch nicht von Euren Pflichten fernhalten, Cædmon.«

Erleichtert verneigte er sich. »Wie rücksichtsvoll Ihr seid, Madame. Dann sehen wir uns zum Essen.«

Trotz des strömenden Regens machten Cædmon und Alfred eine ausgiebige Runde über das Gut und durch Helmsby und erörterten unterwegs die Lage. Sie war düster. East Anglia war meist weniger von Trockenheit betroffen als andere Gegenden Englands, aber hier hatte Mitte Juli eines Nachts ein fürchterliches Gewitter mit orkanartigen Böen getobt und der Ernte mehr geschadet als der fehlende Regen vorher und nachher. Und nun standen sie nicht nur vor dem Problem, daß die ausbleibenden Pachteinnahmen sie in finanzielle Nöte brachten, obendrein würden sie vermutlich auch nicht genug Winterfutter fürs Vieh haben und keine Reserven, um den Leuten in Helmsby und den vielen anderen Dörfern über den Winter zu helfen.

Cædmon schüttelte den Kopf. »Aber unsere Ländereien sind inzwischen so groß geworden, Alfred, es kann nicht sein, daß uns gleich bei der ersten Mißernte die Puste ausgeht.«

»Was nützen uns die größten Ländereien, wenn wir nirgendwo Pacht herausholen?« wandte Alfred mutlos ein.

»Das würde mich in der Tat sehr mißtrauisch stimmen. Ich kann nicht glauben, daß die Leute nach all den guten Jahren nicht wenigstens einen Teil der Pacht zahlen können. Laß dich nicht gar zu leicht abwimmeln, wenn du deine Runden machst.«

Alfred zog die Brauen hoch. »Was schlägst du vor? Soll ich es so machen wie die normannischen Eintreiber? ›Zahl deine Pacht oder zahle mit Blut‹?«

»Alfred …«

»Entschuldige, Cædmon. Ich weiß, daß du das nicht willst. Ich lasse meine Bitterkeit an dir aus, scheint mir. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Ich fürchte, viele Menschen werden sterben diesen Winter, und es gibt nichts, was wir dagegen tun könnten.«

»Sieh nicht so schwarz, Vetter. Es werden sicher nicht alle über den Winter kommen – so ist es nun mal nach einer Mißernte. Aber du weißt doch selbst am besten, wie die Leute sich zu helfen wissen, was sie aus Moor, Wald und Fluß holen, um zu überleben. Und mein Vater hat immer Almosen an die gegeben, die es am härtesten traf, dabei war er viel ärmer als wir heute. Also müssen wir es auch können.«

»Aber wir werden der Krone so schon Steuern schuldig bleiben«, widersprach Alfred.

Cædmon schüttelte den Kopf. »Das sollten wir auf keinen Fall tun. William ist bestimmt kein geduldiger Gläubiger. Es wird uns nichts anderes übrigbleiben, als den Gürtel ein wenig enger zu schnallen. Laß uns ausrechnen, wieviel Stück Vieh wir voraussichtlich problemlos über den Winter kriegen, sowohl hier als auch auf den anderen Gütern. Den Rest verkaufen wir. So spät wie möglich, wenn die Preise schon ordentlich gestiegen sind. Das bringt uns Bargeld. Das gleiche machen wir mit den Schafherden. Wir dünnen sie ein bißchen aus. Sprich mit den Schäfern, sie wissen genau, welche Tiere nur wenig Wolle bringen oder tote Lämmer gebären und so weiter, und die verkaufen wir. Im Winter, nachdem der erste Schnee gefallen ist. Nicht vorher.«

Alfred nickte langsam. »Wenn die nächsten ein, zwei Jahre besser werden und wir keine Lämmer und Kälber verkaufen müssen, kämen wir bald wieder auf die alten Viehbestände.«

Cædmon lächelte. »Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Aber wer weiß, vielleicht hast du recht und es geht tatsächlich so schnell wieder aufwärts.« Sie kamen durch das sumpfige kleine Wäldchen zurück zur Burg. Der Regen hatte ein wenig nachgelassen. »Wo ist dein Vater?« erkundigte sich Cædmon.

Alfred seufzte. »Bei Tante Edith in Blackmore.«

»Was denn, in der jämmerlichen Bauernkate?«

»In der jämmerlichen Bauernkate. Er reitet oft hin, weißt du. Er sagt, hin und wieder muß er unter echten Angelsachsen sein, und dafür nehme er die Gesellschaft ihrer Ziege und ihrer paar Hühner gern in Kauf. Die Wahrheit ist wohl, daß Vater und Tante Edith gern einen zusammen heben und gern zusammen ins Bett gehen und ebenso gern in gemeinsamen Erinnerungen schwelgen. Er versucht, ihren Söhnen eine Vorstellung dessen zu vermitteln, was und wer sie eigentlich sind, ihnen ein bißchen Stolz zu geben. Na ja, und als deine Mutter in Aussicht stellte, die Halle und all ihre Bewohner anläßlich des Besuchs deiner Braut einer Grundreinigung zu unterziehen, hat er schleunigst das Weite gesucht. Ich hoffe, du nimmst ihm das nicht übel. Er läßt dir ausrichten, er wünscht dir und deiner Braut Gottes Segen.«

»Danke. Den haben wir nötig«, bemerkte Cædmon trocken.

 

Vor dem Essen begrüßte Cædmon seine Housecarls und deren Familien. Von den Männern, die einst seinem Vater gedient hatten, war einzig Cynewulf übrig. Die meisten anderen waren bei Hastings gefallen, in den Jahren danach gestorben oder hatten sich Hereward in Ely angeschlossen. Der wackere Ohthere war mit Hyld und Erik nach York gegangen und fuhr nun unter Erik zur See.

Die neuen Housecarls, die Cædmon in seinen Dienst genommen hatte, waren entweder Söhne der Männer seines Vaters, oder aber sie stammten aus reicheren, angesehenen Bauernfamilien. Und der Begriff Housecarl trifft kaum mehr auf sie zu, dachte er, als er sie an diesem Abend so betrachtete. Sie hatten mehr Ähnlichkeit mit normannischen Rittern als mit angelsächsischen Kriegern. Genau wie er selbst und Alfred trugen sie keine Bärte, zwei hatten sich gar die Haare nach normannischer Sitte geschoren, und sie alle bevorzugten normannische Kettenpanzer und Helme, die sie jetzt natürlich nicht trugen. Sie hießen Cædmon mit tadellosem Respekt willkommen und fragten ungeduldig, wann er sie endlich mit auf einen Feldzug nehmen werde. Sie wußten, daß Helmsby dem König im Bedarfsfall sieben voll ausgerüstete Ritter stellen mußte, und offenbar konnten sie es kaum erwarten. Aber sie ahnten ja auch nicht, wie der Krieg war, rief Cædmon sich ins Gedächtnis. Außer der Schlacht von Metcombe letzten Sommer hatten sie noch kein Gefecht gesehen.

Er unterhielt sich eine Weile mit ihnen, begrüßte ihre Frauen und bewunderte ihre Kinder und sah sich derweil suchend nach Gytha um. In der Halle war es dämmrig geworden; der unerwartete Regen am Nachmittag hatte das Feuerholz für den Abend durchnäßt, so daß es stärker als gewöhnlich rauchte. Darum entdeckte er Gytha erst, als sie zur Köchin an den Herd trat und ihr half, den schweren Topf vom Haken zu heben.

Unauffällig schlenderte er zu ihr hinüber.

Sie nahm einen Stapel Zinnteller von dem schmalen Tisch an der Wand und stützte ihn auf ihre Hüfte. »Da bist du also«, sagte sie. Wie immer.

Er lächelte sie an. »Wie geht es Ælfric?«

»Gut. Er läuft und kann deinen Namen sagen. Aber deine Mutter will ihn in ein Kloster stecken.«

Er runzelte die Stirn, äußerte sich für den Moment jedoch nicht dazu. Er hatte seine Braut aus dem Augenwinkel eintreten sehen und wollte nicht zu lange hier stehenbleiben. »Wir sollten ein bißchen diskret sein, Gytha. Komm, wenn alles schläft.«

»Meinst du wirklich, das wäre klug?«

»Sie wird es bestimmt nicht merken.«

Gytha deutete ein Nicken an und ließ ihn stehen, um die Teller auf die Tische zu stellen.

Cædmon trat Beatrice entgegen und führte sie und Tante Yvetta zur Mitte der hohen Tafel. »Ich hoffe, Ihr hattet einen angenehmen Nachmittag, Madame?« fragte er höflich.

Beatrice lächelte angestrengt. »Danke.«

Also nein, schloß er. Nun, er konnte nicht sagen, daß ihn das verwunderte. Er sah zu seiner Mutter, die fast unmerklich das Kinn hob, ehe sie die Hände zum Tischgebet faltete.

Trotz der drohenden Knappheit hatte man für diesen Abend an nichts gespart: An der hohen Tafel zumindest wurden knusprig gebratener Eichelhäher, gefüllte Putenbrüstchen, fettes Rindfleisch und würzige Pilze serviert, während an den übrigen Tischen der gewöhnliche Kohleintopf aufgetragen wurde.

Beatrice speiste mit sichtlichem Genuß. Cædmon hatte schon beobachtet, daß sie gern aß. Vermutlich wird sie eines Tages fett, dachte er und unterdrückte ein Seufzen.

»Ich bin froh, daß die Künste meiner Köchin Euch zusagen, Madame«, bemerkte er mit einem, wie er hoffte, höflichen Lächeln.

Beatrice nickte. »Trotzdem werde ich einen normannischen Koch engagieren, wenn … wenn es soweit ist.«

Ich hoffe, deine Mitgift ist groß genug, daß wir ihn uns auch leisten können. »Diese Dinge bleiben selbstverständlich allein Euch überlassen, Beatrice.«

»Ihr werdet mir völlig freie Hand lassen?«

»Natürlich.« Innerhalb vernünftiger Grenzen jedenfalls, fügte er in Gedanken hinzu.

Ihre Miene hellte sich ein wenig auf, aber es währte nur so lange, bis Tante Yvetta bemerkte: »Hier wirst du also leben.« Es hörte sich an, als sei die Halle eine Lasterhöhle und Helmsby die ewige Verdammnis. Beatrice schwieg betroffen.

»Nun, East Anglia ist nicht so mild wie Cornwall«, räumte Cædmon ein. »Nicht so waldreich wie Sussex oder so hügelig wie Kent. East Anglia hat vor allem Wasser. Es bedeutet Sümpfe und Mücken und Fieber, aber ebenso fruchtbares Land, das etwas einbringt.« Wenn vielleicht auch nicht dieses Jahr …

Yvetta beschränkte sich auf ein vielsagendes Hohnlächeln, doch Beatrice schien ein wenig getröstet. »Ich bin sicher, ich werde mich daran gewöhnen«, sagte sie bestimmt. Es klang, als wolle sie vor allem sich selbst überzeugen.

Cædmon zwinkerte ihr anerkennend zu. »Ganz gewiß, Madame. Es wird erträglicher, je besser man es kennt, glaubt mir.«

Sie führte den Becher an die Lippen, um zu verbergen, was immer ihr durch den Kopf ging.

»Gibt es keine Musik in Eurer Halle, Cædmon?« fragte sie schließlich, als sie wieder abgesetzt hatte. Der Wein aus Burgund, den er zur Feier des Tages hatte anstechen lassen, war ihr zu Kopf gestiegen und hatte ihre Wangen gerötet. Sie ist wirklich schön, mußte er gestehen. Zumindest in der Hinsicht konnte er sich glücklich schätzen. Denn wenn die Pläne des Königs es so vorgesehen hätten, hätte auch ebenso Tante Yvetta sein Los sein können.

»Doch, es gibt gelegentlich Musik in meiner Halle, Madame. Ine.« Er winkte den Jungen zu sich, der gerade mit einem frischen Krug Wein aus der Vorratskammer heraufkam, ihn an Gytha reichte und dann zu Cædmon trat. »Thane?«

»Lauf nach oben in meine Kammer und bring mir die Laute.«

Ine war in Windeseile zurück. Voller Ehrfurcht trug er das kostbare, fremdländische Instrument vor sich her. Er reichte es Cædmon mit beinah komischer Vorsicht, so konzentriert darauf, daß er mit dem länglichen Hals nur ja nirgendwo anstieß, daß er nicht darauf achtete, was seine knochigen Ellbogen anrichteten, und prompt streifte er Beatrice’ vollen Weinbecher, der umkippte und seinen roten Inhalt über ihr safrangelbes Kleid ergoß.

Sie fuhr wie gestochen von der Bank auf und verpaßte dem Unglücksraben eine schallende Ohrfeige.

Ine zuckte erschrocken zurück und ließ die Laute fallen. Cædmon fing sein geliebtes Instrument im letzten Moment auf und verhinderte so, daß es auf die Tischkante schlug. Er schnalzte mißbilligend. »Tölpel.«

»Ich bitte um Verzeihung, Thane«, stammelte Ine.

»Ja, ja. Schon gut. Ich glaube, es ist besser, du machst dich rar.«

Der Junge zog sich erleichtert zurück.

Beatrice stand immer noch wie erstarrt an ihrem Platz und sah auf Cædmon hinab.

»Nehmt wieder Platz, Madame«, sagte er leise. »Und erlaubt mir, mich für die Ungeschicklichkeit des Jungen zu entschuldigen.«

»Ich vergebe Euch, aber nicht ihm«, gab sie kühl zurück. »Dieses Kleid war kostbar. Jetzt ist es ruiniert.«

Cædmon nickte langsam. Er streifte seine Laute mit einem sehnsüchtigen Blick, ehe er sich an seinen Vetter wandte, der zwei Plätze entfernt an Maries Seite saß.

»Alfred, würdest du mir einen Gefallen tun?« fragte er auf englisch. »Sicher.«

»Geh zu Ine. Mach ein finsteres Gesicht und schleif ihn hier raus. Und wenn ihr draußen seid, gib ihm den guten Rat, sich in Zukunft von meiner Braut fernzuhalten.«

Alfred machte seiner Rolle Ehre. Alle, die ihn mit langsamen, schweren Schritten auf Ine zugehen sahen, tauschten verwunderte Blicke, denn eine so sturmumwölkte Miene zeigte der Steward höchst selten. Er packte den Jungen roh am Arm, knurrte irgend etwas, das niemand verstand, und stieß ihn Richtung Tür.

Ine senkte den Kopf. Niemand hätte ahnen können, daß es ein breites Grinsen war, das er zu verbergen suchte. Denn was Alfred zu ihm gesagt hatte, war: »Dieser gottverfluchte französische Wein schmeckt wie Pferdepisse. Laß uns ein Bier trinken gehen …«

 

Cædmon saß vollständig bekleidet beim Licht einer kleinen Talglampe auf seinem Bett, als die Tür sich öffnete. Erwartungsvoll sah er auf. Aber nicht Gytha war es, die ihn zu dieser späten Stunde aufsuchte, sondern Marie de Falaise.

Cædmon kam eilig auf die Füße, aber ehe er irgend etwas sagen konnte, eröffnete ihm seine Mutter:

»Wenn du diesen hohlköpfigen, eiskalten Engel heiratest und hierher bringst, gehe ich in ein Kloster.«

Es war eine Ankündigung, mit der er seit Jahren rechnete, darum war er nicht wirklich überrascht. Er hob gleichmütig die Schultern. »Das ist dir unbenommen, Mutter. Im Gegensatz zu mir.«

»Was soll das heißen?« fragte sie barsch.

»Es soll heißen, daß ich vermutlich auch lieber ins Kloster ginge, als sie zu heiraten, aber ich werde nicht gefragt.«

Marie war so verblüfft, daß sie neben ihm aufs Bett sank und für den Augenblick einmal vergaß, daß sie ihn für den Tod seines Vaters verantwortlich machte. »Du … du willst sie nicht?«

Er wandte den Blick ab und rieb sich das Kinn an der Schulter. »Wie kannst du glauben, sie könnte mir irgend etwas bedeuten? Was denkst du nur von mir?« fragte er leise.

»Ich weiß es wirklich nicht, Cædmon. Du bist mir seit Jahren ein Rätsel. Du bist so normannisch geworden, daß ich dich überhaupt nicht mehr kenne.«

»Das stimmt nicht. Und auch wenn du es noch so oft behauptest, wird es nicht wahr. Ich bin Engländer. Aber England ist normannisch geworden.«

Sie dachte eine Weile darüber nach, äußerte sich aber nicht dazu. »Also William zwingt dich, sie zu heiraten?«

»Ja.«

»Wieso?«

»Ich bin nicht sicher. Um mich zu bestechen vielleicht.«

»Ist sie denn so viel wert?«

Er nickte. »Ein Gut in Sussex, ein Haus in London, fünfzig Pfund und ein bißchen Kleinkram. Silberbecher und so weiter.«

Marie gab einen verächtlichen Laut von sich. »Ich sehe, Ralph Baynard läßt es sich allerhand kosten, seinem Töchterchen einen Mann zu kaufen.«

»Du kennst ihn?« fragte Cædmon verblüfft.

»Ich kenne sie alle, Cædmon. Bist du sicher, daß deine Braut Jungfrau ist?«

Er stand abrupt auf, brachte ein paar Schritte Abstand zwischen sie, verschränkte die Arme und wandte sich wieder zu ihr um. »Ich habe noch nicht nachgesehen.«

Marie zuckte ungerührt mit den Schultern. »Sei nicht so zimperlich. Es ist eine wichtige Frage. Ich bin sicher, sie ist unkeusch. Wie sie Odric angesehen hat …«

»Er trägt die Haare kurz. Vermutlich dachte sie, er sei Normanne.« Marie lächelte ein untypisch süffisantes Lächeln. »Er ist der bestaussehende Mann in deiner Halle, Cædmon. Deswegen konnte sie die Augen nicht von ihm abwenden.«

Er ging ruhelos vor dem Bett auf und ab. »Das ist mir gleich! Ich mache mir eher Sorgen darüber, ob sie ein Herz hat.«

»Nun, ich habe keine Einwände gegen deine Prioritäten, mein Sohn. Ich denke lediglich, wenn du sie nicht willst, solltest du die Frage ihrer Keuschheit nicht so bedenkenlos außer acht lassen. Und Ralph Baynards Angebot nicht so ohne weiteres akzeptieren.«

Cædmon blieb abrupt stehen und sah seiner Mutter in die Augen. »Ich glaube, ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mir das ein bißchen näher erklärst …«

Das zweite Königreich
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