Winchester, April 1070

Man mochte darüber streiten, ob es Anlaß zum Feiern gab oder nicht, jedenfalls waren die Festlichkeiten bei Hofe wieder einmal so prächtig, daß mancher Thane vom Lande vor Ehrfurcht erstarrte und mancher Mönch mißfällig das geschorene Haupt schüttelte.

In der österlich geschmückten königlichen Halle bedeckten schneeweiße Tischtücher die Tafeln, die sich unter den Platten mit erlesenen Speisen und den goldenen und silbernen Bechern nur so bogen. Die rußgeschwärzten, alten Wandteppiche waren durch neue ersetzt worden. Nach Entwürfen der Königin, munkelte man, aber ausgeführt von den unvergleichlichen englischen Stickerinnen. Die Teppiche an den Längswänden zeigten Jagdszenen der unterschiedlichsten Art, Ritter und Damen bei der Falkenjagd oder Männer bei der Hirsch- oder Eberjagd. Der prächtigste Teppich jedoch hing hinter der erhöhten Tafel an der Stirnwand des Saales. Er reichte vom Boden bis zur Decke und gab Szenen aus dem Chanson de Roland wieder.

Der König und die Königin und jeder ihrer Gäste, der es sich leisten konnte, trugen neue Gewänder in leuchtenden Farben.

Dreimal im Jahr hielt der König Hof – zu Ostern in Winchester, zu Pfingsten in Westminster und zu Weihnachten in Gloucester. Die Curia Regis – alle Adligen, hohen Ritter, Bischöfe, Erzbischöfe und Äbte – versammelte sich zu diesen Anlässen, und es wurde beraten, Gericht gehalten, intrigiert, alte Freund- und Feindschaft aufgefrischt und vor allem regiert.

Cædmon ging zögernd von den Stallungen zur Halle hinüber. Schon von weitem hörte er das Stimmengewirr und die Instrumente der Musiker, aber ihm graute davor einzutreten. Kommt Ostern nach Winchester, lautete die Nachricht der Königin, die ihn in Gent erreicht hatte. Mehr nicht. Er hatte Herzog Balduin, dem Bruder der Königin, für seine Gastfreundschaft gedankt und war umgehend aufgebrochen, erleichtert, dem öden Niederland mit seinem ewigen Regen und seiner fremden Sprache zu entrinnen. Aber jetzt, da er hier war, plagten ihn Zweifel, ob er das Richtige getan hatte.

Die Unentschlossenheit hemmte seine Schritte, bis sie fast zum völligen Stillstand kamen. Was tat er nur hier? Was sollte das alles? Es hatte sich nichts geändert, nur weil er ein paar Monate fort gewesen war. Davon würden die Toten in Northumbria nicht wieder zum Leben erwachen, das Korn nicht in die Scheunen zurückkehren, der Hunger und das Elend kein Ende nehmen. Wozu war er also zurückgekommen? Fast war er im Begriff kehrtzumachen, als eine energische Hand sich auf seine Schulter legte. »Nichts da. Du wirst schön hierbleiben.«

Cædmon fuhr herum. »Etienne!«

Sein Freund ließ die Hand sinken und betrachtete ihn mit einem Seufzen. »Jetzt haben wir uns alle solche Mühe gegeben, die Wogen zu glätten. Komm ja nicht auf die Idee zu kneifen.«

Cædmon sah zu Boden. »Ich hätte nicht übel Lust dazu.«

Etienne nahm wieder seinen Arm. »Komm.«

»Wohin?«

»Zu einem Verschwörertreffen.«

Cædmon ließ sich unwillig über die große, menschenleere Wiese ziehen. Es nieselte ein wenig – kein strahlendes Osterwetter – aber es war nicht kalt. Das Gras hatte eine satte, junge Frühlingsfarbe, dichte Büschel von Narzissen blühten darin und nickten sacht in der Brise.

»Chester ist gefallen?« fragte Cædmon.

Etienne nickte. »Natürlich.«

Natürlich. Früher oder später fielen sie alle. Nichts konnte William auf Dauer standhalten. Niemand. Cædmon betrachtete seinen Freund von der Seite, während sie zur Kapelle hinübergingen. »Du siehst mitgenommen aus.«

Etienne hob kurz die Schultern. »So einen Winter möchte ich nicht noch einmal erleben. In den Bergen habe ich ein paarmal gedacht, das sei das Ende.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie wir gefroren haben. Und gehungert. Und die Märsche waren … ein Alptraum.«

»Aber das Beispiel des Königs hat euch alle angespornt, über euch hinauszuwachsen«, mutmaßte Cædmon. In seiner Stimme lag kein Hohn.

Etienne nickte. »So war es. Jetzt komm. Sie warten in der Kapelle auf dich, und sie wollen gern so bald wie möglich zurück zum Festmahl.« Cædmon blieb stehen. »Wer sind sie?«

»Du wirst schon sehen. Jetzt komm endlich.«

Mit einem nervösen Ziehen im Magen betrat Cædmon die dämmrige Kapelle.

Trübes Tageslicht fiel durch die kleinen Fenster auf die steinernen Bodenfliesen und die verblaßten Fresken an den gekalkten Wänden: die Verkündigung, die Passion, die Höllenfahrt, die Auferstehung, das Weltgericht. Am Altar brannte ein halbes Dutzend dicker Kerzen. Als der Luftzug der geöffneten Tür die Flammen bewegte, warfen sie unruhige, zuckende Schatten auf das schwere, goldene Altarkreuz und die beiden Männer, die davor standen und warteten.

Cædmon trat näher und erkannte Odo, den Halbbruder des Königs, Bischof von Bayeux und Earl of Kent. Erleichtert sank er auf ein Knie nieder, ergriff die ausgestreckte Hand und berührte den Ring mit den Lippen.

»Erhebt Euch, mein junger Freund«, gebot Odo, dessen warme, tiefe Stimme meist ein gutmütiges Lächeln auszudrücken schien. So ganz anders als die scharfe, oft schneidende Stimme des Königs.

»Dies ist Lanfranc, der Abt von St. Etienne in Caen«, stellte Odo vor und wies auf den hochgewachsenen, hageren Mann an seiner Seite. »Er ist hergekommen, um uns bei der Reform der englischen Kirche zu unterstützen.«

So, dachte Cædmon, der vielgerühmte Lanfranc wird also Erzbischof von Canterbury. Der arme Vater Cuthbert und all die anderen wohlmeinenden, aber ungebildeten und obendrein verheirateten englischen Priester konnten einem leid tun. Schwere Zeiten kamen auf sie zu.

Er verneigte sich wortlos vor dem ehrwürdigen Abt.

Lanfranc sah ihn aus lodernden, fast schwarzen Augen eindringlich an. »Wir kennen uns«, bemerkte er zu Odo.

Odo sah verblüfft zu Cædmon, der knapp nickte. »Das Weihnachtsfest im Jahr vor der Eroberung, Monseigneur. Ich entsinne mich gut. Mein Freund Wulfnoth spricht noch heute voller Bewunderung von Eurer Eloquenz und Gelehrsamkeit.«

Lanfranc verzog den Mund. »Ich hörte, alle Godwinsons seien heuchlerische Schmeichler.«

»Dann seid Ihr falsch informiert. Harold Godwinson kann man vieles nachsagen, aber er war gewiß kein Schmeichler. Und von allen Godwinsons ist Wulfnoth der Beste.«

»Cædmon …«, raunte Etienne eindringlich. »Vergiß nicht, mit wem du sprichst.«

Cædmon nahm sich zusammen, aber er entschuldigte sich nicht.

Odo trat einen Schritt näher und sagte leise: »Ich merke, Ihr seid immer noch bitter, Cædmon. Und ich kann Euch verstehen, glaubt mir. Aber wir können Geschehenes nicht ungeschehen machen, und für uns alle ist es jetzt wichtig, nach vorn zu blicken. Ich will gar nicht versuchen zu rechtfertigen, was mein Bruder, der König, getan hat. Trotzdem solltet Ihr bedenken, daß dieser Däneneinfall zusammen mit den Aufständen im Westen und der Gefahr durch Edgar Ætheling und die Schotten die bislang größte Bedrohung für Williams Herrschaft in England darstellte. Seine Lage war verzweifelt.«

»Und ist es noch«, fügte Lanfranc an, ehe Cædmon seine hitzigen Einwände vorbringen konnte. »Die dänische Flotte hat den Humber zwar verlassen, aber jetzt kreuzt sie vor der Ostküste. Es heißt, König Sven habe sich seinen Söhnen angeschlossen. Und in den Sümpfen Eurer Heimat rottet sich eine Schar Aufständischer zusammen, und es werden jeden Tag mehr.«

»Hereward der Wächter?« fragte Cædmon ungläubig.

Abt und Bischof wechselten einen kurzen Blick, ehe Odo fragte. »Ihr habt von ihm gehört?«

»Jeder Mann in East Anglia hat von ihm gehört. Aber er ist nur ein Abenteurer, ein Gesetzloser, der sich mit einer Bande von Wilderern im Moor versteckt.«

Lanfranc betrachtete ihn mit leicht geneigtem Kopf. »Nun, wir werden sehr bald feststellen, wie gefährlich er ist. Die Krise ist jedenfalls noch nicht gebannt. Und der König braucht Euch jetzt mehr denn je.«

Cædmon trat instinktiv einen halben Schritt zurück und hob abwehrend die Linke. »Es gibt so viele andere, die für ihn übersetzen können …« »Mag sein, aber er will Euch. Weil er Euch kennt, weil Ihr Engländer seid, was in vielen Situationen von Vorteil ist – Ihr selbst kennt die Gründe sicher am besten. Und seine Bedingungen sind durchaus annehmbar, würde ich sagen …«

»Bedingungen?«

»Cædmon«, sagte Odo betont leise. »Die Königin hat größte Mühen darauf verwandt, zu erreichen, daß der König Euch Eure Flucht verzeiht, Euch Eure Ländereien läßt … und natürlich die Hand, die Ihr verwirkt habt. Die wollen wir nicht vergessen.«

Cædmon spürte sein Gesicht heiß werden. »Woher wißt Ihr …?«

»Mein Bruder Robert hat mir die Geschichte in allen Einzelheiten erzählt. Aber macht Euch keine Illusionen – der gesamte Hof weiß davon. Ihr wart den ganzen Winter über ein beliebtes Gesprächsthema.«

»Gott verflucht …« Er besann sich, wo er sich befand und wen er vor sich hatte, und murmelte zerknirscht: »Ich bitte um Verzeihung, Monseigneurs.«

Bischof und Abt nickten ernst, aber nachsichtig. »Die Königin hat Etienne und mich ins Vertrauen gezogen«, fuhr Odo fort. »Und ich konnte Lanfranc für unsere Sache gewinnen. Wir alle haben uns sehr bemüht, die Wogen zu glätten, glaubt mir, mein Junge. Für Euch, für William und für England. Und ich bin sicher, wenn Ihr in Ruhe darüber nachdenkt, werdet Ihr dankbar sein. Denn daraus, daß Ihr hier seid, darf man wohl schließen, daß Ihr keine große Lust verspürt, Euch der Waranger-Garde in Byzanz anzuschließen oder mit Williams Feinden auf dem Kontinent zu paktieren.«

»Nein, das ist wahr«, räumte er offen ein. »Was verlangt der König?« »Einen Eid«, antwortete Odo.

»Aber ich habe ihm schon einen Lehnseid geleistet«, wandte Cædmon verständnislos ein.

»Und habt ihn gebrochen, als Ihr geflohen seid. Er will eine Erneuerung. Einen Treueschwur. Vor Zeugen.«

»Ach ja? Soll ich vielleicht im Büßerhemd vor den versammelten Hof treten?« fuhr er wütend auf.

»Das war es, was er wollte«, bestätigte Etienne ungerührt. »Aber ich habe ihm gesagt, daß du das niemals tun wirst …«

»Da hast du verdammt recht …«

»… weil du eben doch nur ein halbwilder Angelsachse bist und einfach nicht weißt, was sich gehört.«

Warte nur, bis wir allein sind, dachte Cædmon verdrießlich. Er warf seinem Freund einen vernichtenden Blick zu, verschränkte die Arme und schwieg beharrlich.

Lanfrancs Mundwinkel zuckte amüsiert. »Euch ist sicher nicht unbekannt, daß ich ein ehrgeiziger Mann bin, Cædmon of Helmsby«, begann er. »Und wenn ich schon die undankbare Aufgabe auf mich nehme, dieses gottverlassene Land in den Schoß der Kirche zurückzuführen, dann, verlaßt Euch darauf, werde ich es auch gründlich tun. Der König wünscht nicht nur, daß ich den englischen Klerus reformiere, er will ebenso, daß wir dieses Land befrieden und eine funktionsfähige Verwaltung aufbauen – kurz gesagt, er verfolgt die gleichen Ziele wie Euer König Alfred, den ihr Engländer so glühend verehrt. Aber diese Ziele werden nur erreichbar, wenn Männer wie Ihr uns unterstützen. Also, was sagt Ihr?«

 

Als Cædmon die Halle betrat, war das Festessen längst vorüber. Die Bänke hatten sich merklich geleert, und diejenigen, die noch da waren, waren mehrheitlich betrunken.

Trotzdem versiegten die angeregten Unterhaltungen nach und nach, als die Höflinge den jungen, dunkel gekleideten Mann erkannten, der langsam auf die hohe Tafel zuging, den Blick stur nach vorn gerichtet. Schließlich war es so still, daß Cædmon das Stroh unter seinen Schritten rascheln hörte, und er spürte Dutzende Blicke in seinem Nacken wie tückische, kleine Nadelstiche. Es war noch viel schlimmer, als er vorausgesehen hatte. Es erinnerte ihn an die Zeiten, da er ein Krüppel gewesen war und ihn immer alle anstarrten, wenn er einen Raum betrat. Heute so wie damals schnürte es ihm die Luft ab und erfüllte ihn mit einer beinah unbezähmbaren Wut.

Der König wirkte erhaben mit seiner Krone auf dem Haupt. Cædmon hatte gelegentlich geholfen, das prunkvolle, edelsteinbesetzte Stück wieder sicher in seiner Schatulle im Privatgemach des Königs zu verstauen, und wußte daher, wie unglaublich schwer sie war. Doch William trug sie, als spüre er das Gewicht überhaupt nicht, und die Krone verwandelte ihn, machte das gottgegebene Königtum offenbar. Ein so machtvolles Strahlen schien von ihm auszugehen, daß es die Augen gewöhnlicher Sterblicher beinah blendete. Mehr als in der verschwenderischen Pracht des Hoffestes, als in jedem königlichen Dekret manifestierte sich seine Herrscherwürde in diesem Bild. Und Cædmon hatte schon manches Mal gedacht, wie klug der König war, all seine Vasallen und die Mächtigen seines Reiches diesem einschüchternden Anblick jedes einzelne Mal auszusetzen, wenn sie sich an seinem Hof versammelten.

Ließ man jedoch das Blendwerk außer acht und schaute genauer hin, stellte man fest, daß auch dem König die Strapazen des vergangenen Winters anzusehen waren. Sein Gesicht war kantiger als früher, seine Haltung angespannt. Mit unbewegter Miene sah er Cædmon entgegen, und als Richard, der drei, vier Plätze von seinem Vater entfernt saß, freudig aufsprang, um Cædmon zu begrüßen, warf der König ihm einen so drohenden Blick zu, daß der Junge blaß wurde, sich schleunigst wieder setzte und den Kopf senkte. Matilda an Williams rechter Seite ließ Cædmon nicht aus den Augen. Ihr Blick war ernst, aber freundlich, beinah mitfühlend. Cædmon wurde noch elender davon. Er schlug die Augen nieder, schluckte trocken, und als ihn nur noch ein Schritt von der hohen Tafel trennte, sank er auf die Knie nieder.

»Ich höre«, sagte der König eisig.

»Ich bin gekommen, um Euch meiner Treue und Ergebenheit zu versichern, Sire«, sagte Cædmon. Es klang heiser.

»Habt die Güte und sprecht ein wenig lauter, Monseigneur.«

Cædmon räusperte sich. »Ich bin gekommen …«

»Ja ja, ich bin ja nicht taub. Nun, es wird nicht so leicht sein, mich von Eurer Treue und Ergebenheit zu überzeugen. In Anbetracht der Umstände.« Hier und da erhob sich leises, hämisches Gelächter. Der König wartete, bis es vollkommen verklungen war, ehe er fortfuhr: »Was wollt Ihr tun, um mein erschüttertes Vertrauen zurückzugewinnen?«

»Ich werde einen Eid schwören.«

»Hm. Ich habe in den letzten Jahren nicht immer die besten Erfahrungen mit englischen Eiden gemacht.«

Dieses Mal war das Gelächter deutlich lauter.

Cædmon kam ein grauenvoller Verdacht. Der König hatte nie die Absicht gehabt, ihm einen neuen Eid abzunehmen. Er hatte der Versöhnung nur zum Schein zugestimmt, um diese Gelegenheit zu bekommen, Cædmon vor seinem zwar nicht mehr vollzählig versammelten, aber immer noch recht großen Hof zu demütigen. Ein eisiger Schauer kroch Cædmon über den Rücken. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Das hier verlief ganz und gar nicht so, wie Odo und Lanfranc vorhergesagt hatten. Mit Mühe rang er den Impuls nieder, aufzuspringen und zu fliehen. Er wäre ja nicht einmal bis zur Tür gekommen. Statt dessen zwang er seinen Kopf hoch und sah dem König in die Augen. Und was ist mit deinem Eid, dachte er bitter. In Berkhamstead, als der Erzbischof von York dir die Krone antrug. Ich war dabei, ich habe mit eigenen Ohren gehört, wie du gelobt hast, dem englischen Volk ein gerechter Herrscher zu sein und alles zu tun, das in deiner Macht steht, um seinen Frieden zu wahren und seine Küsten zu verteidigen. Und was hast du getan? Was hast du getan?

Er sagte nichts von alldem. Aber er gab sich auch keine besondere Mühe, seine Gefühle zu verbergen. Und was immer der König in seinem Gesicht sah, bewog ihn zu einem seiner berüchtigten plötzlichen Stimmungswechsel. Das gewinnende Lächeln glomm mit einemmal in den dunklen Augen auf, machte die bleichen, zerfurchten Züge weicher. Es hörte nie auf, Cædmon zu verblüffen, daß dieses Lächeln selbst die prägnante Hakennase zu entschärfen schien.

»Und worauf wollt Ihr schwören, Cædmon?«

»Was immer Euch gutdünkt, Sire.«

Der König erhob sich, trat vor ihn und nahm das goldene Reliquiar ab, das er seit der Schlacht von Hastings zu jedem feierlichen Anlaß um den Hals trug. Er hielt die grobgliedrige Kette in der Hand, während Cædmon die Linke auf den kleinen Schrein legte und die Rechte zum Schwur hob.

William sah zu Lanfranc. »Abbé, wenn Ihr so gut sein wollt …«

Lanfranc trat zu ihnen und machte Anstalten, Cædmon den genau abgesprochenen Wortlaut des Eides vorzusprechen, aber Cædmon kam ihm zuvor. Er hob den Kopf ein wenig, sah dem König ins Gesicht und sagte: »Ich schwöre Euch Treue und Erfüllung all meiner Lehnspflichten. Euch und die Euren und Euer Reich dies- und jenseits des Kanals mit all meinen Kräften und notfalls mit meinem Leben gegen alle Feinde zu verteidigen. Alles zu tun, was in meiner Macht steht, um Euch und das englische Volk einander nahezubringen. Euch und Eurem Willen zu folgen in allem, was recht ist. Und sollte ich diesen Eid brechen, soll Gott die Hand verdorren lassen, mit der ich ihn schwor.«

Er ließ die Hände sinken und schlug die Augen nieder.

»In allem, was recht ist«, murmelte William.

Lanfranc trat zu ihm und wisperte. So leise, daß niemand außer dem König seine Worte hörte.

Es war lange still. In der Halle erhob sich verhaltenes Raunen und Füßescharren, das Schweigen erfüllte die Gäste mit Unbehagen.

Cædmon spürte sein Herz in der Kehle pochen. Schließlich legte er die Handflächen zusammen und hob sie. »Sire, es ist der einzige Eid, den ich Euch geben kann. Aber Gott ist mein Zeuge, jedes Wort davon ist mir ernst und heilig.«

Plötzlich umschlossen Williams warme, große Hände die seinen. Er hielt sie einen Moment, und Cædmon kniff die Augen zu. Er fühlte sich erlöst. Dann hob der König ihn auf und schloß ihn kurz in die Arme. Warmherzige Gesten waren seiner Natur fremd; er tat sich schwer damit. Warmherzige Worte erst recht. Aber Cædmon wollte auch gar nichts hören.

Die weinselige Hofgesellschaft applaudierte gerührt, und Cædmon dachte gallig, zum Teufel mit euch allen, eben habt ihr mich noch ausgelacht, und hätte er den Eid nicht akzeptiert und mich statt dessen zu Gott allein weiß was verdammt, dann wäre euch das genauso recht gewesen. Mindestens.

Aber er konnte nicht lange grollen. Seine Erleichterung stimmte ihn milde. Erst jetzt wurde ihm wirklich bewußt, wie entwurzelt und verzweifelt er während seiner ziellosen Flucht gewesen war. Er gab sich keinen großen Illusionen hin – William würde immer bleiben, was er war; ihr nächstes Zerwürfnis würde so sicher kommen wie das Weltgericht. Aber das war letztlich bedeutungslos. Denn nur hier konnte er sein.

William hatte sich abgewandt und sprach leise mit Lucien de Ponthieu. Cædmon verneigte sich vor der Königin und sagte: »Ich stehe sehr tief in Eurer Schuld, Madame.«

Sie nickte. »Leistet dem König fortan treue Dienste, nur so könnt Ihr sie begleichen.« Sie lächelte nicht und war unerwartet kühl. Vermutlich war sie ärgerlich, daß er den Eid vollkommener Unterwerfung, den Lanfranc, Odo und Etienne ihm hatten schmackhaft machen wollen und den sicher auch sie mit ausgeheckt hatte, verweigert hatte.

Er verzichtete auf weitere Beteuerungen, aber ebenso auf jede Rechtfertigung. Matilda war eine großzügige Frau und hatte ein mitfühlendes Herz, aber noch am Schlund der Hölle hätte sie zu William gestanden. Widerstand gegen ihn betrachtete sie als persönlichen Affront. Und mochte sie auch die treibende Kraft hinter dieser Versöhnung sein, hieß das offenbar noch lange nicht, daß sie ihm die Beleidigung so ohne weiteres verzieh.

Cædmon überlegte unbehaglich, ob er wohl entlassen war und sich an einen weniger exponierten Platz zurückziehen durfte, als Lanfranc ihn zu sich winkte.

Auf Cædmons fragenden Blick hob die Königin die Hand zu einer knappen Geste, und erleichtert trat er zu dem großen Abt in den Schatten einer Säule.

»Mein Glückwunsch, Thane«, raunte Lanfranc. »Wißt Ihr, ich kenne den König seit beinah zwanzig Jahren, aber wenn Ihr mich vorher gefragt hättet, hätte ich gesagt, daß Ihr niemals damit durchkommt.« Cædmon lächelte verlegen. »Ich wußte nicht, daß Ihr ihm schon seit so langer Zeit verbunden seid.«

Lanfranc lachte in sich hinein. »Anfangs waren wir nicht gerade ›verbunden‹. Ich habe alles unternommen, was in meiner Macht stand, um seine Heirat mit Matilda zu vereiteln.«

Cædmon war verblüfft. »Oh. Warum?«

»Weil es der Wunsch Seiner Heiligkeit war, natürlich.«

»Verstehe. Ich muß gestehen, es verwundert mich ein wenig, daß Ihr dennoch einer seiner engsten Vertrauten geworden seid.«

Der Abt neigte den Kopf und betrachtete ihn amüsiert. »Tatsächlich? Mich verwundert, daß Euch das verwundert. Ich dachte, gerade Ihr wüßtet, wie sehr Opposition ihm imponiert. Wenn sie wohldosiert ist, versteht sich. Andernfalls zertritt er sie unter seinem Absatz.«

Cædmon atmete tief durch. »Ich kann nicht behaupten, daß ich Euer Kalkül besitze, Monseigneur. Ich habe das einzige getan, was mir zu tun übrigblieb.«

Lanfranc lächelte kurz. »Ein gesunder Instinkt ist mindestens soviel wert wie Kalkül.«

»Wie habt Ihr Euch ausgesöhnt?« fragte Cædmon neugierig.

»Nun, William verbannte mich aus der Normandie, und ich machte mich auf den Weg zur Grenze, aber ein lahmes Pferd war alles, was mein Abt in Bec mir hatte geben können. Unterwegs traf ich William.«

»Rein zufällig, natürlich«, murmelte Cædmon.

»Natürlich. Ich sagte ihm, ich würde seinem Befehl schneller Folge leisten, wenn er mir ein besseres Pferd gäbe. Er hat gelacht. Er besitzt viel Humor, wißt Ihr. Und dann kamen wir ins Gespräch, und er beschloß, meine Verbannung aufzuheben.«

Cædmon nickte nachdenklich. »Bec. Natürlich. Ihr wart dort Prior, ehe Ihr Abt in Caen wurdet, nicht wahr? Und Papst Alexander war Euer Schüler dort, entsinne ich mich recht? Also habt Ihr den päpstlichen Dispens für William und Matilda erwirkt, als Alexander Papst wurde?«

Lanfranc neigte den Kopf ein klein wenig, es war nicht wirklich ein Nicken. »Ich fange an zu verstehen, warum der König ungern auf Euch verzichten will …«

»Und was war vor der Eroberung? Die Delegation zum Papst, die heiligen Reliquien, das ganze Gefasel vom Heiligen Krieg …«

»Na, na«, machte Lanfranc mißbilligend. Doch dann lächelte er. »Ihr habt schon recht. Gute Beziehungen nach Rom sind mit keinem Geld der Welt zu bezahlen … Und jetzt dreht Euch um. Der König harrt ungeduldig Eurer Aufmerksamkeit.«

Cædmon fuhr herum, und als William ihn zu sich winkte, trat er näher. »Ich bin sicher, Ihr wollt Euch bald zurückziehen, aber zuvor möchte ich Euch noch den jüngsten Neuzugang meines Haushalts vorstellen … Da ist er schon.«

Verwirrt sah Cædmon Lucien de Ponthieu auf sich zukommen. Vor dem König hielt er an, verneigte sich, trat dann beiseite und gab den Blick auf den halbwüchsigen Knaben frei, der ihm gefolgt war.

Cædmon vergaß alle Etikette. »Eadwig!« Er zog ihn an sich, noch ehe der Bruder Gelegenheit hatte, seine formvollendete Verbeugung vor dem König zu beenden. Als Cædmon spürte, wie der Junge sich versteifte, ließ er ihn los und trat einen Schritt zurück. »Wie … was …« Er schüttelte mit einem seligen Lachen den Kopf. »O mein Gott, Eadwig, welcher Zauber bringt dich hierher?«

Eadwig lächelte scheu, zog ihn ein Stück beiseite und berichtete. Von seiner Todesangst, nachdem er in Metcombe den Dänen in die Hände gefallen war, von den Ketten, den derben Späßen und Schlägen. Von seinem Heimweh und dem schlechten Gewissen, das ihn quälte, wenn er an Cædmon und an seine Mutter dachte. Von seiner abgrundtiefen Furcht vor der Sklaverei und seinem unversöhnlichen Haß auf die Dänen. Und wie sich alles geändert hatte, als der dänische Prinz ihn zu sich nahm. Dann berichtete er von der Nacht, als Hyld und Erik plötzlich in Axholme erschienen waren, und alles, was sich bis zu ihrer Rückkehr nach Helmsby zugetragen hatte.

Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt und redeten lange. Cædmons Brust zog sich zusammen, als er hörte, daß all die Schrecken, die er in Northumbria erlebt hatte, auch Eadwig und Hyld nicht erspart geblieben waren.

»… und dann erschien der König vor zwei Wochen in Helmsby«, schloß Eadwig. »Ich habe Mutter noch nie so aufgeregt erlebt. Er hat lange mit ihr gesprochen. Dann mit Alfred, und in Alfreds Begleitung hat der König die Burg bis in den letzten Winkel inspiziert. Er war sehr zufrieden, das sag’ ich dir. Er blieb über Nacht, hat in deinem Bett geschlafen, nebenbei bemerkt, und am nächsten Morgen sprach er wieder mit Mutter und mit Hyld, und dann kam Alfred und sagte, Leif und ich sollten uns reisefertig machen, der König wolle uns mit an seinen Hof nehmen.«

»Eriks Bruder?« fragte Cædmon fassungslos. »Der Bruder eines dänischen Piraten ist Knappe am königlichen Hof?«

Eadwig schüttelte ungeduldig den Kopf. »Der Großneffe des ehemaligen norwegischen Königs.«

»Ach, richtig.« Cædmon rieb sich die Stirn und überdachte die Neuigkeiten. »Arme Hyld. Wie furchtbar muß es sie getroffen haben, als der kleine Olaf starb.«

Eadwig schlug die Augen nieder und nickte. Sie sagten eine Weile nichts. Dann bemerkte er: »Aber sie ist wieder schwanger. Und seit Olaf tot ist, redet Mutter wieder mit ihr. Es ist ganz seltsam, weißt du …« Er schüttelte verständnislos den Kopf. »Plötzlich hat sie ihr verziehen. So als hätte Hyld auf einmal irgendeine Schuld beglichen.« Eine sehr scharfsinnige Beobachtung für einen vierzehnjährigen Jungen, dachte Cædmon.

»Ich hoffe nur, Erik kommt aus dem Krieg zurück«, sagte Eadwig leise. »Sei unbesorgt. Das wird er bestimmt. Erik ist wie ein falscher Penny, er kommt immer zurück, darauf möcht’ ich wetten.«

»Du hältst nichts von ihm?« fragte Eadwig besorgt.

»Doch. Ich fürchte, ich halte sogar eine Menge von ihm, auch wenn ich ums Verrecken nicht sagen könnte, warum eigentlich.« Er grinste ein bißchen verschämt und wechselte das Thema. »Und wie kommst du hier zurecht? Bist du stolz, daß der König dich ausgewählt hat?«

Eadwigs Augen leuchteten auf. »Natürlich!«

Richard war unbemerkt zu ihnen getreten. »Mir ist unbegreiflich, was er an dem Leben hier findet. Lucien de Ponthieu schikaniert ihn von früh bis spät.«

Cædmon legte dem Prinzen kurz die Hand auf die Schulter. »Richard! Wie steht’s mit der Grammatik?«

Richard grinste, wurde aber sofort wieder ernst und senkte den Kopf. »Ich habe jeden Tag gebetet, daß du zurückkommst, Cædmon.«

»Ich bin geehrt.«

Sie unterhielten sich ein Weilchen, und Cædmon stellte zufrieden fest, daß Richard beachtliche Fortschritte in Englisch gemacht hatte. Vielleicht hatte auch Eadwigs Gesellschaft dazu beigetragen. Er konnte es immer noch nicht so recht fassen, daß sein Bruder hier unversehrt vor ihm stand. Und er war dem König dankbar und nicht wenig geschmeichelt, daß er ausgerechnet Eadwig als Gefährten für die Prinzen ausgewählt hatte.

Als die Jungen sich höflich verabschiedeten, weil es längst Zeit für sie war, schlafen zu gehen, hielt er Eadwig mit einem gemurmelten Wort zurück.

»Wie schlimm ist es mit Lucien de Ponthieu?«

Eadwig schnitt eine vielsagende Grimasse, sagte aber nichts.

»Willst du, daß ich mit ihm rede?«

Sein Bruder überlegte einen Augenblick. Dann schüttelte er den Kopf. Cædmon klopfte ihm seufzend die Schulter. »Gute Nacht, Eadwig of Helmsby.«

Eadwig grinste. »Gute Nacht, Thane.«

Cædmon schlenderte die Seitentische entlang, bis er seine Freunde entdeckte. Er beobachtete sie einen Augenblick mit Muße. Roland Baynard, Etienne fitz Osbern, ihre Brüder und ein paar weitere junge normannische Adlige saßen vor vollen Bechern und würfelten, auch Lucien de Ponthieu war dabei. Cædmon zögerte, entschied dann, sich ihnen anzuschließen, als ein eiliger Page ihn fast über den Haufen rannte und einen halben Becher Wein über Cædmons Ärmel verschüttete. »Herrgott, paß doch auf, Bengel!«

»Ich bitte vielmals um Verzeihung, Thane.« Zerknirscht zückte der Page einen schmuddeligen Lumpen, wischte halbherzig über das Malheur und machte alles noch ein bißchen schlimmer.

Cædmon erkannte verblüfft, daß der Junge trotz des normannischen Haarschnitts Engländer war, und fragte sich, wessen Sohn er wohl sein mochte, als der Page ihm zuraunte: »Geht in die Kanzlei. Jetzt gleich.« »Was …«

Aber der Junge war schon davongeeilt.

Verwundert, beunruhigt und neugierig verließ Cædmon die Halle, stieg eine Treppe hinauf und ging den Gang entlang zu dem Raum, wo die Mönche der königlichen Verwaltung die Steuer-, Pacht- und Zolleinnahmen der Krone verzeichneten und den Ausgaben gegenüberstellten. Von früh bis spät kritzelten sie endlose Pergamentrollen mit ebenso endlosen Zahlenreihen voll. Cædmon hatte nicht häufig Grund, die Kanzlei aufzusuchen, aber wann immer er diese gewissenhaften, ernsten Männer über ihre Arbeit gebeugt sah, bedauerte er sie. Welch ein tristes Dasein sie fristeten.

Doch so emsig sie auch waren, zu dieser späten Stunde waren sie nicht mehr am Werk. Ganz abgesehen davon, daß Feiertag war. Die Tür quietschte vernehmlich, ein wenig Licht aus dem Korridor fiel in den dunklen, verwaisten Raum. Cædmon nahm eine Fackel mit hinein. Das Licht tanzte über die Schriftrollen und dicken Lederbände auf den Stehpulten, Tischen und den Regalen entlang der Wände. Die Mäuse, die hier so vortrefflich gediehen und sich in den alten, verstaubten Jahrgängen ihre Nester bauten, huschten raschelnd ins Dunkel.

»Hallo?« raunte Cædmon. Er kam sich albern vor. Wer in aller Welt sollte um diese Zeit schon hier sein? Dieser Page konnte was erleben … »Cædmon.«

Um ein Haar hätte er die Fackel fallen lassen, und all die vielen Zahlen und Ziffern wären in Rauch aufgegangen.

»Aliesa …«

Er wich entsetzt einen Schritt zurück. Sein erster Impuls war, sich umzuwenden und das Weite zu suchen. Aber das brachte er natürlich nicht fertig. Statt dessen schüttelte er wie benommen den Kopf, rieb sich das Kinn an der Schulter und befestigte zögernd die Fackel neben ihr in einer Halterung an der Wand. Als die Flamme zur Ruhe kam, tauchte sie ihr Gesicht in weiches, gelbes Licht; ihre Wimpern warfen lange Schatten auf ihre perfekten, sahneweißen Wangen.

»Was hat das zu bedeuten, Madame?«

»Ich … konnte heute abend nicht am Festmahl teilnehmen«, bemerkte sie beiläufig. Die normannische Art auszudrücken, daß sie nicht hatte mit ansehen wollen, wie er vor dem König zu Kreuze kroch, mutmaßte er.

»Das ist mir aufgefallen.«

Sie hob den Blick und lächelte schwach. »Trotzdem wollte ich nicht versäumen, Euch zu sagen, wie froh ich bin, daß Ihr zurückgekommen seid und der König Einsicht gezeigt hat.«

»Und zu dem Zweck bestellt Ihr mich hierher? Es ist noch keine Stunde her, daß ich den Kopf aus der Schlinge gezogen habe, und schon legt Ihr mir die nächste um.«

Sie hob das Kinn und drehte den Kopf leicht zur Seite – eine Geste voller Hochmut und Verächtlichkeit. Sie erinnerte ihn vage an seine Mutter, und das machte es ihm leichter, ihr standzuhalten. Er verschränkte die Arme, lehnte sich mit den Schultern an die geschlossene Tür und wartete.

Ihre Lider senkten sich ein wenig und verschleierten ihren Blick. Dann verzogen sich ihre Mundwinkel für einen kurzen Moment nach oben, ehe sie sich auf die Unterlippe biß.

»Cædmon«, sagte sie leise. »Für mich ist es auch nicht leichter als für Euch. Als wir hörten, daß Ihr England verlassen hattet … Ich wußte nicht mehr ein noch aus. Ich dachte, ich würde Euch nie wiedersehen. Und ich habe mir so sehr gewünscht, wir hätten uns nur ein einziges Mal die Wahrheit gesagt.«

Er machte einen Schritt auf sie zu und zog sie an sich. Auf einmal war es ganz leicht. Die naheliegendste Sache der Welt. Er legte die Arme um sie und drückte die Lippen auf ihren Scheitel.

»Entschuldige.« Er wollte ihr tausend Dinge sagen, und allesamt waren sie die Wahrheit, wenn auch nicht besonders originell. Aber er bekam keine Gelegenheit. Sie hob den Kopf, sah ihm in die Augen und preßte ihre Lippen auf seinen Mund. Dann legte sie die Arme um seinen Hals.

Cædmon preßte sie an sich, drückte ihr fast die Luft ab und küßte sie. Ihre Zunge war flinker als die seine, schlängelte sich schamlos vor, spielte mit seinen Zähnen.

Er ließ die Hände abwärts gleiten, fahrig, fiebrig vor Ungeduld, über ihre Brüste, umfaßte ihre Taille und zog sie fester an sich, damit sie wußte, wie es um ihn stand und was er wollte.

Sie lachte – ein kleiner, atemloser Laut, krallte die Linke in seine schulterlangen Haare und tastete mit der Rechten nach dem Saum seines Übergewands.

Cædmon spürte einen herrlichen, leichten Schwindel. Ihre Verwegenheit berauschte ihn. Keine Frau hatte ihn je so sehr gewollt. Er streifte das sittsame Tuch von ihrem Kopf, und der silberne Stirnreif rollte ein kleines Stück und glitzerte im Fackelschein. Mit ungeschickten Fingern löste er ihre Flechten, während ihre warme, schmale Hand einen Weg in seinen Hosenbund fand und sein pralles Glied umfaßte. Er kniff die Augen zu und stöhnte leise, riß sich mit einer Hand den Mantel herunter, warf ihn auf den Boden, zog sie darauf hinab und befreite sich einen Augenblick, um ihre Röcke hochzuschieben und seinen Gürtel zu lösen, doch selbst das dauerte ihr zu lange. Sie richtete sich auf die Ellbogen auf, zerrte voller Ungeduld an seinen Hosen und zog ihn dann zwischen ihre angewinkelten Knie. Er drang in sie ein, hart, aber nicht roh, voller Hingabe, voller Liebe. Aliesa drängte sich ihm entgegen, fand mit den Lippen wieder seinen Mund und nahm behutsam seine Unterlippe zwischen die Zähne. Cædmon lachte leise. Dann umschloß er ihr Gesicht mit den Händen, küßte sie und stieß gierig und stürmisch in sie hinein.

Es war ein kurzer Akt, heftig, aber voller Zärtlichkeit. Als sie schließlich still lagen, immer noch ineinander verschlungen und außer Atem, spürte Cædmon ein leises Bedauern, daß ihm keine Zeit geblieben war, sie auszuziehen und anzuschauen und zu fühlen. Er hatte ungezählte Male davon geträumt, hatte sich jedes Detail ausgemalt, die Brüste, den Bauchnabel, das schwarze Dreieck ihrer Schamhaare, die Knie, die Knöchel … All das hatte er sich vorgestellt, jedesmal, wenn er Gytha auszog oder irgendein anderes Mädchen. Und jetzt hatte er nichts von alldem gesehen. Nun, vielleicht beim nächstenmal. Er wandte den Kopf ab, um sein flegelhaftes Grinsen zu verbergen, löste sich behutsam, richtete sich auf und brachte seine Kleider in Ordnung.

Aliesa folgte seinem Beispiel.

Dann saßen sie auf dem staubigen Dielenboden und sahen sich an. Cædmon hob die Linke und legte sie auf ihre Wange. Aliesa umfaßte seine Hand, führte seine Finger an die Lippen, küßte sie und ließ sie dann los.

»Ich war nicht sicher, ob du das tun würdest«, gestand sie mit einem kleinen, beinah verlegenen Lächeln.

»Dann unterschätzt du deine Reize.«

Das Lächeln wurde eine Spur breiter, ehe sie den Blick niederschlug. »Ich dachte, du liebst ihn vielleicht mehr als mich.«

Er zuckte fast unmerklich zusammen. Bis zu diesem Augenblick war es ihm gelungen, Etienne vollkommen aus seinen Gedanken zu bannen. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich liebe dich schon viel länger als ihn, weißt du.«

Sie sah ihn verständnislos an, und er erzählte ihr von dem Tag in Beaurain, als sie den Falken geküßt hatte.

Sie nickte unerwartet. »Ja, ich habe dich gesehen. Ich habe auch gesehen, wie du auf Luciens Pferd gestiegen bist. Und gebetet, daß du durchs Tor kommst.«

Er lächelte verblüfft, legte den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Für einen Moment lehnte sie den Kopf an seine Brust, doch dann machte sie sich los. »Wir sollten lieber gehen.«

Cædmon nickte bedauernd. Er stand auf, streckte ihr die Hände entgegen und zog sie auf die Füße. Dann bückte er sich und reichte ihr das couvre-chef, das zusammengeknüllt am Boden lag.

»Es ist ganz verknittert«, bemerkte er zerknirscht.

Sie lachte und zuckte mit den Schultern. »Komm und hilf mir mit den Haaren.«

»Was muß ich tun?«

»Streich sie glatt und zerteil sie in drei gleiche Teile. Ein einfacher Zopf muß reichen.«

Er tat, wie ihm geheißen, und sah dann gebannt zu, während sie die lange schwarze Flut geschickt flocht.

»Wird er nichts merken?« fragte er leise. Er fühlte sich erbärmlich dabei.

Sie antwortete nicht, bis das Tuch ihre Haare bedeckte und der Stirnreif richtig saß. Dann wandte sie sich zu ihm um und sagte: »Nein. Er ist betrunken. Ich werde schon schlafen, wenn er kommt. Oder zumindest so tun.«

Er nickte und beneidete sie um ihre Gelassenheit.

Sie legte die Arme um seinen Hals und küßte ihn auf die Wange. Er zog sie an sich, vergrub das Gesicht an ihrem Hals und sog ihren Duft tief ein.

Sie küßte seine Schläfe. »Bonne nuit, Cædmon«, flüsterte sie. »Träum von mir.«

Dann war sie verschwunden.

 

Cædmon befand sich in einem Fegefeuer widersprüchlicher Empfindungen. Sein langgehegter Traum, seine größte Sehnsucht hatte sich erfüllt. Und es erschien ihm gar nicht so unfaßbar, jetzt da es einmal geschehen war. Im Gegenteil. Es war richtig, in gewisser Weise unvermeidbar gewesen. Er war überzeugt, ein so heftiges, beständiges Gefühl wie seines konnte auf Dauer nicht ohne Folgen bleiben. Aber natürlich quälte ihn sein Gewissen. Etienne ließ niemanden im Zweifel darüber, wie selig er über Cædmons Rückkehr war, wich während der ersten Tage kaum je von seiner Seite und überhäufte ihn mit Bekundungen seiner Großzügigkeit und Freundschaft. Und dann verfluchte Cædmon sich und gelobte, der Sache sofort ein Ende zu machen. Doch wenn Aliesa ihn das nächste Mal zu einem heimlichen Rendezvous bestellte – sie war erstaunlich erfinderisch darin –, wurde er jedesmal schwach. Sie trafen sich vor Tau und Tag oder spätabends in abgelegenen Außengebäuden oder gar in der Sakristei der Kapelle – nie zweimal hintereinander am selben Ort. Es waren immer flüchtige Begegnungen, verstohlen und hastig, leises Rascheln und Flüstern in der Dunkelheit. Nur einmal hatten sie gewagt, sich von einer großen Jagdgesellschaft abzusetzen, waren ein weites Stück durch den Wald geritten, bis sie an einen stillen, kleinen See kamen, meilenweit weg von den restlichen Jägern und jedweder menschlichen Siedlung. Dort hatten sie zum erstenmal Muße, liebten sich zum erstenmal unbekleidet, und Cædmon stellte ohne jede Verwunderung fest, daß alles an Aliesa makellos war – in seinen Augen jedenfalls. Die rundlichen Schultern, die hohen, beinah üppigen Brüste mit den zartrosa Spitzen, der flache, weiche Bauch, die schlanken, aber muskulösen Beine, selbst die winzigen, verkümmerten kleinen Zehen fand er anbetungswürdig. Das gestand er freilich nur seiner Laute, wenn er abends allein in einem stillen Winkel saß, neue Melodien und törichte, oft schwülstige und niemals gesungene Verse ersann …

 

»… ließen die angelsächsischen Könige in allen befestigten Stadtanlagen Münzen einrichten, die von königlich bestellten, sorgsam ausgebildeten Münzern betrieben wurden. Etwa alle zwei Jahre ließ der König die Münzen einschmelzen und neue prägen. Die Gußformen für die neuen Münzen mußten die Münzer sich in Winchester abholen. Die Könige taten dies, um die gleichbleibende Qualität des Silbergeldes zu sichern … Angeblich. In Wahrheit gaben sie jedoch jedesmal einen Geheimbefehl aus, das Münzsilber mit Kuhscheiße und Kröteneiern zu gleichen Teilen zu strecken, damit das englische Geld bis zum Tage der normannischen Eroberung praktisch wertlos wurde.«

Als die Stimme verstummte, kehrte Cædmon aus weit entfernten Gefilden in die Gegenwart zurück und hob den Kopf. »Sehr schön, Rufus.«

Richard, Eadwig, Leif und die anderen jungen Knappen prusteten los. Cædmon runzelte unwillig die Stirn. »Was ist so komisch?«

»Du, Cædmon«, antwortete Richard offen. »Du hast nicht zugehört. Rufus hat die infamsten Lügen über das englische Münzsystem erzählt, das doch selbst der König immer in höchsten Tönen löbt … lobt.« Cædmon bedachte den Übeltäter mit einem drohenden Stirnrunzeln. »Flegel. Sei lieber vorsichtig.«

Rufus nickte unbekümmert. »Ich weiß immer ziemlich genau, was ich mir bei wem leisten kann. Und die Rechnung geht meistens auf, es sei denn, mein Bruder fällt mir in den Rücken.«

Cædmon verzog den Mund zu einem ironischen Lächeln. Er ließ sich seine Verärgerung nicht anmerken. Schließlich hatte der Junge sich nur einen harmlosen Scherz erlaubt – auf den ersten Blick jedenfalls. Tatsächlich verbarg sich ein bißchen mehr dahinter, aber niemand außer Cædmon und Rufus wußte das.

Cædmon machte eine auffordernde Geste. »Da ich heute anscheinend zu langsam für euch bin, entlasse ich euch ein bißchen früher als gewöhnlich in Bruder Rollos Obhut. Ich weiß, wie sehr ihr dem Leseunterricht entgegenfiebert.«

Ein vielstimmiges Stöhnen war die Antwort.

Cædmon vermutete, es war Lanfranc, der dem König diese alberne Idee in den Kopf gesetzt hatte, daß nämlich junge Männer von Rang des Lesens mächtig sein sollten, damit sie von ihren Verwaltern nicht betrogen wurden oder damit sie in ihren Mußestunden die Bibel studieren konnten, statt immer nur zu würfeln und zu zechen – Cædmon kannte den Grund nicht, und er fand die Vorstellung von einem lesenden Ritter unsäglich albern –, doch der König hatte angeordnet, daß die Knappen am Hofe fortan von einem seiner Schreiber in dieser mysteriösen Kunst unterwiesen werden sollten. Sie haßten diesen Unterricht weitaus mehr als den bei Lucien de Ponthieu, und Cædmon dachte mit leisen Gewissensbissen, daß er sie alle für seinen Mangel an Aufmerksamkeit büßen ließ.

»Na los, worauf wartet ihr, verschwindet.«

Sie erhoben sich murrend von dem gescheuerten Eichentisch in ihrem Quartier, wo Cædmon sie bei schlechtem Wetter immer unterrichtete, um sich auf die Suche nach dem sauertöpfischen Mönch und seinen verfluchten Büchern zu begeben.

Cædmon blieb allein zurück, stützte das Kinn auf die Faust und sann über diesen unbedeutenden kleinen Zwischenfall nach, über andere Dinge, die ihm in den letzten Wochen an Rufus aufgefallen waren, und fragte sich vage, was sich wohl dahinter verbarg. Aber er konnte sich nicht lange damit befassen. Innerhalb kürzester Zeit kehrten seine Gedanken zu Aliesa zurück. Er legte den Kopf auf die verschränkten Arme und ergab sich dem vertrauten Wechselbad aus Verzückung, Scham und Traurigkeit.

»Cædmon? Fehlt dir etwas?«

Er fuhr erschrocken auf. »Was hast du hier verloren, Eadwig? Scher dich zum Unterricht. Was ich sage, gilt für dich genauso wie für jeden … Junge, du bist ja kreidebleich. Was ist passiert?«

»Etienne fitz Osbern schickt mich. Cædmon …« Eadwig brach ab. Gott, nicht Aliesa, dachte Cædmon. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Raus damit. Mach schnell.«

Eadwig riß sich zusammen. »Die Dänen sind in East Anglia eingefallen. Etienne sagt, der König will sofort losmarschieren, und er verlangt nach dir.«

»Wo in East Anglia? Helmsby? Metcombe?«

Sein Bruder schüttelte den Kopf. »In Ely.«

Cædmon sprang so abrupt auf, daß der Hocker polternd umkippte. »Guthric …«

Das zweite Königreich
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