Helmsby, Dezember 1069

»Wer seid ihr, und was wollt ihr?« fragte der Soldat barsch.

Hyld sah ihn unverwandt an. Ihr ausgemergeltes Gesicht schien nur aus Augen zu bestehen. Sie fand keine Worte. Die vergangenen fünf Wochen ihres Lebens waren strapaziöser, entbehrungsreicher und entsetzlicher gewesen als alles, was sie sich jemals hätte vorstellen können. Je hungriger und schwächer sie geworden war, um so übermächtiger war ihr Instinkt geworden, nach Hause zu gehen, bis der Gedanke schließlich ihr einziger Antrieb war, sie jeden wachen Augenblick beherrschte. Das Tor von normannischen Soldaten versperrt zu finden brachte sie zum völligen Stillstand.

Eadwig trat neben sie. »Ich bin Eadwig of Helmsby, das ist meine Schwester Hyld.«

Die Normannen wechselten verblüffte Blicke. »Cædmon of Helmsbys Bruder und Schwester?« fragte der Wortführer zweifelnd.

Eadwig nickte.

»Laßt uns rein«, befahl Hyld. »Sagt Cædmon, daß wir hier sind.«

Die Normannen grinsten. »Er ist nicht hier. Er ist zu schlau, sich hier blicken zu lassen. Und jetzt verschwindet. Bettelt im Dorf. Wir haben an angelsächsische Hungerleider nichts zu verschenken.«

»Nein.« Hyld schüttelte langsam den Kopf. »Das habt ihr wirklich nicht.« Sie rührte sich nicht von der Stelle.

»Hast du nicht gehört, du Bettlerschlampe«, knurrte der Soldat. »Packt euch …«

»Was gibt es denn?« fragte der Steward von Helmsby und trat aus dem Innenhof. »Großer Gott … Eadwig!«

Alfred preßte entsetzt die Hand über den Mund. Aber er faßte sich sofort wieder. »Was fällt euch ein? Laßt sie durch«, fuhr er die Wachen an.

Die beiden Normannen machten anstandslos Platz. Der König hatte sie und ein paar andere hergeschickt, um nach Cædmon of Helmsby Ausschau zu halten, ihn zu suchen und festzunehmen, sobald sie ihn fanden, aber sie wußten nicht, weswegen. Sie hatten keinerlei Befugnis, die Befehlsgewalt des Stewards in Frage zu stellen, und mochte Cædmon of Helmsby auch den Zorn des Königs erregt haben, wußten sie doch so gut wie jedermann, daß er hoch in des Königs Gunst stand, und ließen daher lieber Vorsicht walten.

Alfred trat der abgerissenen kleinen Wandererschar entgegen. »Eadwig, was ist passiert? Wo warst du? Wer sind diese …« Er brach ab, als sein Blick auf Hyld fiel. Er hatte sie seit Britford nicht mehr gesehen, aber ihre Ähnlichkeit mit Cædmon war so deutlich, daß er sie sogleich erkannte. Er machte einen Schritt auf sie zu, als sie schwankte, und stützte sie. »Als wir uns das letzte Mal begegnet sind, warst du nicht so dünn, Base«, bemerkte er mit einem Lächeln. »Aber spitze Knie hattest du damals schon.«

Sie blinzelte verwirrt. Sie hatte keine Ahnung, wovon dieser Mann sprach. »Bitte, wer immer du bist, bring uns zu meinem Bruder.«

Er nahm ihr das Kind aus den Armen, einen vielleicht drei- oder vierjährigen, erbärmlich abgemagerten Jungen, der fest eingeschlafen war. »Cædmon ist nicht hier, Hyld, aber ich bringe euch zu deiner Mutter. Kommt nur.«

Ein schneidend kalter Wind fegte über den Innenhof. Alfred führte die Ankömmlinge zum Hauptgebäude, so schnell deren müde Füße sie trugen, und half ihnen die Treppe hinauf. In der Halle war es nicht gerade anheimelnd. Dicke Buchenscheite brannten im Feuer, aber es zog durch viele Ritzen; die meisten Leute saßen in ihren Mänteln an den Tischen und hatten trotzdem rote Nasen.

»Kommt«, sagte Alfred wieder und führte sie noch eine Treppe hinauf in Cædmons verwaistes Gemach, wo wärmende Teppiche die Wände bedeckten und ein dicker Bettvorhang vor der Zugluft schützte. Er schob ihn beiseite, legte den schlafenden kleinen Jungen auf die Felldecke und winkte sie alle näher. »Ihr müßt zusammenrücken, aber es wird schon gehen. Ich schicke nach Essen und Wein und hole eure Mutter.«

Irmingard, Leif, Eadwig und Hyld kauerten sich um Olaf herum eng zusammen. Das waren sie gewöhnt, sie hatten es in den letzten Wochen bei jeder Rast so gehalten. Hyld zog Olaf wieder auf ihren Schoß, und er wimmerte leise. Sie legte ihre magere, eiskalte Hand auf seine Stirn. Olaf brannte vor Fieber. Er hatte sich schon erkältet, ehe sie nach Lincoln gekommen waren, der erste Ort, wo man ihr Betteln erhört hatte und ihnen zu essen gab. Der erste Ort, der so weit im Süden lag, daß die Todesreiter ihn verschont hatten. Mit einem schier endlosen Strom von Flüchtlingen waren sie in den Innenhof des Klosters gespült worden, und die Mönche hatten sich entschuldigt, daß sie ihnen nur so wenig Brot zu bieten hatten, aber sie konnten diese Massen einfach nicht beköstigen. »Ich wünschte, der Herr Jesus Christus erbarmte sich und stiege herab zu uns mit seinen zwei Fischen und den fünf Broten«, hatte der Bruder gesagt …

Gytha kam mit einem Krug Bier und einer Schüssel Haferbrei. »Hier«, sagte sie leise. »Trinkt zuerst. Eßt langsam. Hyld, Eadwig, willkommen zu Hause.« Sie senkte scheu die Lider.

Hyld nahm kurz ihre Hand und drückte sie schwach. Dann reichte sie Irmingard den Krug. Das Mädchen nahm nur einen winzigen Schluck, ehe sie ihn an ihren Bruder weitergab. Leif trank ebenfalls und streckte Eadwig den Krug entgegen. Eadwig hielt ihn Hyld hin, die die Finger hineintauchte und dann die Lippen ihres Sohnes benetzte. Olaf fuhr mit der Zunge darüber und schlug für einen Moment die fiebrigen Augen auf. Leif und Eadwig ließen ihn nicht aus den Augen, steckten gleichzeitig die Hand in die dampfende Schüssel mit der Grütze und führten die Hand dann zum Mund. Als sie den heißen, mit Salz und Bohnenkraut gewürzten Brei auf der Zunge spürten, tauschten sie ein ganz und gar unkompliziertes, jungenhaftes Grinsen. In den letzten Wochen waren sie oft Rivalen gewesen, hatten manchmal erbittert um die wenigen Bissen gerangelt, die sie fanden. Es schien ein schier unfaßbarer Luxus, essen zu können ohne die Gewissensbisse, dem anderen etwas weggenommen zu haben. Ihr Kampf ums nackte Überleben hatte sie beide zutiefst beschämt, denn sie waren schon in Salby Freunde geworden.

Hyld wickelte ihren kranken Sohn in eine von Cædmons feinen, weichen Wolldecken, tunkte den Finger in die Hafergrütze und steckte ihn zwischen seine Lippen. Mit der anderen Hand griff sie selber zu. Sie hatte zu lange nichts gegessen, um noch Hunger zu verspüren, aber die Vernunft sagte ihr, daß es höchste Zeit war, wieder damit anzufangen. Und nicht nur um ihretwillen. Seit sie York vor über zwei Monaten verlassen hatte, war ihre Monatsblutung ausgeblieben. Möglich, daß es an den Entbehrungen der letzten Wochen lag, aber das glaubte sie nicht.

Als die Schale mit dem Brei geleert war, kam Gytha ein zweites Mal und brachte ihnen warme Haferfladen, Honig und eine heiße Brühe mit viel Zwiebel und Bärlauch. Noch ehe sie ihre Gaben abgestellt hatte, trat Marie ein.

Sie eilte auf das Bett zu und zog ihren Jüngsten in die Arme, ohne die übrige Reisegesellschaft auch nur eines Blickes zu würdigen. »Eadwig … Gott sei Dank«, sagte sie leise. Sie wirkte vollkommen beherrscht wie immer, aber sie wollte ihn gar nicht mehr loslassen.

Eadwig erduldete diese mütterliche Umarmung höflich, obschon sie ihm vor seinem neuen Freund unendlich peinlich war, doch als Marie ihm die Luft abzudrücken drohte, befreite er sich. »Bitte, Mutter, sieh nach Olaf. Er ist furchtbar krank.«

Der kleine Junge lag reglos in den Armen seiner Mutter. Er hatte dunkle Schatten unter den Augen, sein ausgemergeltes Gesicht war so bleich, daß die Haut beinah durchsichtig schien, und sein Atem rasselte unheilvoll.

Hyld schloß die Augen gegen den eisigen Blick ihrer Mutter und biß die Zähne zusammen. Sie hatte als Junge verkleidet unter Wikingern gelebt, hatte ihren Mann an einen verfluchten Dänenprinz verloren, hatte sich durch Kriegsgebiet allein mit ihrem Bruder nach Salby durchgeschlagen, den Einfall der Todesreiter dort überstanden, hatte gesehen, wie verzweifelte Menschen einander überfielen und niedermachten, an Seuchen oder vor Hunger starben, hatte gar Menschen gesehen, die Menschenfleisch aßen, und hatte sich nie gehen lassen, nie gezeigt, wie entsetzt und verzweifelt sie selber war, sondern sich selbst und alle, die ihr anvertraut waren, lebend nach Helmsby gebracht. Und sie wollte verdammt sein, wenn sie jetzt anfing zu heulen, nur weil ihre Mutter kein freundliches Wort für sie hatte.

Mit frostiger Miene, aber unerwartet sanften Händen untersuchte Marie den kranken kleinen Jungen, zog seine Lider hoch, fühlte seine Stirn, betastete seinen Hals und lauschte seinem mühseligen Atem. Dann richtete sie sich auf und wandte sich an Eadwig.

»Sag deiner Schwester, ihr Sohn stirbt.«

Das zweite Königreich
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