Rouen, Dezember 1078
Cædmon klopfte kurz an die Tür zu Williams Privatgemach über der großen Halle und trat sofort ein, denn Toki Wigotson hatte ihm ausgerichtet, der König verlange ihn auf der Stelle zu sprechen. Doch als er die Szene im Raum sah, wünschte er sich, er hätte auf eine Aufforderung von drinnen gewartet. Er sollte endlich lernen, mehr auf Etikette zu achten.
Die Königin stand vor ihrem Mann und weinte bitterlich. »Bitte, versuch doch, mich zu verstehen, William.«
»Wie soll ich verstehen, daß du mich hintergehst?« fragte er eisig.
»Aber er ist mein Sohn!«
Cædmon stand reglos an der Tür und schloß für einen Moment die Augen. O nein. Bitte nicht, Gott. Gib, daß sie es nicht schon wieder getan hat …
»Er ist ein Verräter«, widersprach der König, anscheinend vollkommen unbeeindruckt von ihrem Flehen.
William stand nur einen Schritt von seiner Gemahlin entfernt und überragte sie turmhoch. Matilda wirkte unter normalen Umständen schon elfenhaft klein und zierlich neben ihm, aber jetzt, da sie sich furchtsam zusammenkauerte, schien sie zerbrechlich wie ein Schilfhalm.
Die Königin hatte weitaus länger als der König gezögert, Cædmon sein Vergehen zu verzeihen, hatte ihn bis vor wenigen Wochen mit größter Herablassung behandelt und meist mit Verachtung gestraft. Und so empfand Cædmon einen kleinen Moment Genugtuung, sie so zu sehen. Aber sofort schämte er sich, denn er wußte, sie war eine sehr unglückliche, verzweifelte Frau. Und in diesem Augenblick bedroht. Cædmon sah mit eigenen Augen, was er niemals für möglich gehalten hätte: Der König war versucht, die Hand gegen seine angebetete Matilda zu erheben.
Cædmon sammelte seinen Mut, atmete tief durch und fragte: »Ihr habt nach mir geschickt, Sire?«
Beide Köpfe fuhren zu ihm herum, aber Matilda wandte sich sogleich wieder ab und flüsterte: »Bitte, kommt später wieder, Thane.«
»Ihr bleibt!« widersprach William, sah wieder auf die arme Sünderin hinab und fragte: »Wieviel dieses Mal?«
Sie antwortete nicht, wich beinah wankend einen Schritt vor ihm zurück ans Fenster.
William folgte ihr. »Madame, meine Geduld hat sich erschöpft!«
Sie starrte zu ihm auf, verängstigt und sprachlos, ihre Lippen bebten. Dieses erbarmungswürdige Bild war selbst für William zuviel, aber ehe es sein Herz erweichen konnte, fuhr er zu Cædmon herum und befahl: »Geht hinunter zu Hamo fitz Hugh und sagt ihm, es ist mein Wunsch, daß der Bote der Königin gefoltert wird, bis er sagt, wieviel er den Rebellen gebracht hat.«
»Nein!« rief Matilda entsetzt aus. »Nein, bitte. Es … es waren … zweitausend Pfund«, stieß sie atemlos hervor.
William sah sie ungläubig an. Zweitausend Pfund war eine wahrhaft gewaltige Summe. Für einen Moment verdrängte Fassungslosigkeit seinen Zorn. Langsam ging er zum Tisch hinüber und sank in einen Sessel. »Davon kann er eine ganze Armee bezahlen«, flüsterte er heiser. »Wie konntest du das tun, Matilda? Wie konntest du nur?«
Die trügerische Ruhe machte ihr ein bißchen Mut. »Aber versteh doch, er hat so furchtbare Schulden. Dafür war das Geld bestimmt, nicht für Soldaten«, versuchte sie zu erklären.
William schnaubte. »Das war es, was du glauben solltest.«
»Nein, es ist so. Ich weiß es von verläßlichen Informanten aus Flandern. Seit du Robert bei Rémalard geschlagen hast, ist seine Lage … verzweifelt.«
Der König fuhr in die Höhe, als habe ihn etwas gestochen. »Und genau das war meine Absicht! Wenn all seine Getreuen und Verbündeten von ihm abgefallen und er verzweifelt genug gewesen wäre, wäre er vielleicht hergekommen und hätte mich um Verzeihung gebeten!« »Wie kann er das, nachdem du ihm hast ausrichten lassen, daß du ihn erschlägst, wenn er dir je wieder unter die Augen kommt?« fragte sie erstickt, und wieder rannen Tränen über ihr Gesicht. »Es tut mir leid, wenn ich dich hintergangen habe, aber er hat mich so verzweifelt angefleht. Was sollte ich denn tun? Er ist doch mein Kind, William!« Der König erwiderte ihren Blick mit unbewegter Miene. »Ich stelle mit Befremden fest, daß Ihr nicht an erster Stelle Herzogin und Königin seid, sondern Mutter, Madame. Ich sehe mich daher gezwungen, Euch vorläufig die Kontrolle über Euer persönliches Vermögen zu entziehen. Obwohl Euer Fehler vermutlich folgenschwer ist, will ich Euch noch einmal vergeben. Nicht aber Eurem Boten. Er wird geblendet.«
Matilda hatte ihm mit gesenktem Kopf gelauscht. Jetzt trat sie langsam vor ihn, und zu Cædmons grenzenloser Verlegenheit mußte er mit ansehen, wie die Königin vor ihrem Mann auf die Knie sank. »Bitte, Sire, schont meinen Ritter. Er hat nur getan, was ich ihm aufgetragen habe.« »Laßt es Euch eine Lehre sein, Eure Befehle in Zukunft gewissenhafter abzuwägen«, erwiderte er leise, beinah sanft.
»William, ich flehe Euch an …«
»Umsonst. Cædmon, geleitet die Königin in ihre Gemächer und sorgt dafür, daß das Urteil gegen ihren Boten umgehend vollstreckt wird. Vergeßt es nicht wieder, Thane«, schloß er drohend.
Cædmon biß die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf. »Nein, Sire.« Dann trat er zu Matilda und streckte ihr die Hand entgegen. Er war sicher, sie werde sie ignorieren, doch zu seiner Überraschung legte sie ihre Linke hinein, ließ sich aufhelfen und ging widerstandslos mit ihm hinaus. Auf dem Korridor nahm er ihren Arm und stützte sie. Als er sie in ihr Gemach brachte, wechselten die beiden Damen, die dort auf sie warteten, einen entsetzten Blick, sagten aber nichts und rührten sich nicht. Cædmon zögerte einen Moment, ehe er fragte: »Gibt es irgend etwas, das ich für Euch tun kann, Madame?«
Sie hob den Kopf und sah ihn an. Langsam fand sie die Fassung wieder; Cædmon konnte zusehen, wie der Schmerz in ihrem Gesicht der Resignation Platz machte. Mit einem enormen Willensakt straffte sie die schmalen Schultern. »Nein, Ihr könnt nichts tun. Er hört ja nicht einmal mehr auf Euch. Oder auf mich.«
»Er ist tief verbittert über Roberts Rebellion, Madame«, versuchte er behutsam zu erklären. »Zu Recht.«
Sie lächelte matt. »Natürlich. Und wie konnte ich nur glauben, Ihr stündet in diesem Punkt auf meiner Seite statt auf seiner.«
Cædmon senkte unglücklich den Blick. »Madame, ich …«
»Es ist schon gut.« Sie zeigte den Schatten ihres huldvollen Königinnenlächelns. »Ihr habt mir gerade vermutlich einen großen Dienst erwiesen, und dafür bin ich Euch dankbar. Dabei war ich so hart zu Euch, ich hätte verstanden, wenn Ihr einfach davongeschlichen wäret.«
Er verneigte sich tief vor ihr. »Ihr irrt Euch, Madame. Ich verdanke Euch mein Leben sowie die Rückkehr aus dem Exil und werde immer in Eurer Schuld stehen. Und Eure Härte war ja nicht unverdient.«
Sie sah ihn nachdenklich an. »Ich bin mir dessen gar nicht mehr so sicher, Thane. Jetzt da ich weiß, wie leicht Liebe zu Betrug und Verrat führt, weil sie einfach soviel stärker ist als das Gewissen. Ich habe oft über Euch nachdenken müssen in den letzten Monaten, nun da ich selbst erfahren habe, wie es sich anfühlt, zwischen zwei Menschen zu stehen, die man liebt, den einen nicht lieben zu können, ohne den anderen zu betrügen. Und auf einmal kann ich Euch nicht mehr verurteilen für das, was Ihr getan habt.« Sie lächelte traurig. »Ihr wißt ja, Cædmon. Hochmut kommt vor dem Fall.«
Er sah ihr in die Augen und fand einen Moment keine Worte. Dann sank er vor ihr auf die Knie, nahm die Hand, die sie ihm reichte, und führte sie einen Augenblick an die Lippen. Er fand es enorm mutig, vor allem aber großzügig, daß sie ihm diese Dinge gesagt hatte. »Ich danke Euch, Madame«, sagte er leise. »Und ich werde für Euren Boten tun, was ich kann.«
»Nein, Cædmon«, widersprach sie erschrocken. »Ich habe gehört, wie der König Euch gewarnt hat, Ihr macht Euch nur selbst unglücklich. So … so furchtbar es auch ist, daß den armen Gilbert seine Treue zu mir so teuer zu stehen kommt, Ihr könnt es nicht verhindern.«
Er erhob sich und lächelte beinah verschwörerisch. »Nein, ich kann es wohl nicht ganz verhindern. Aber vielleicht ist die Wache ja nachlässig und blendet ihn nur auf einem Auge. Und in ein paar Tagen, wenn der König seinen Zorn auf Euren Ritter vergessen hat, wird die Wache vielleicht noch ein wenig nachlässiger und läßt den treuen Gilbert entwischen.«
Sie sah ihn unsicher an. »Das … ginge?«
Cædmon nickte. Michel, sein alter Freund in der Burgwache von Rouen, würde es schon irgendwie richten, wenn Cædmon ihm bei einem Becher Wein in einem ruhigen Winkel erklärte, wie die Dinge lagen. »Oh, Cædmon …« Die Königin preßte eine Hand auf den Mund und mußte gegen neue Tränen ankämpfen. »Ich wäre Euch so dankbar. Und wenn es irgend etwas gibt, das ich tun kann, um mich erkenntlich zu zeigen …«
Er sah ihr einen Moment in die Augen. Dann lächelte er schwach. »Es wäre wohl ausgesprochen unritterlich, Euch beim Wort zu nehmen. Außerdem scheint Ihr zu vergessen, daß Ihr meine Königin seid und Anspruch auf meine Dienste ohne Gegenleistung habt. Aber wenn Ihr wieder einmal Euer Herz erforscht und bei der Gelegenheit feststellt, daß Ihr nicht nur mir, sondern auch Aliesa verziehen habt, dann schreibt ihr einen Brief und laßt es sie wissen, Madame. Es … es würde ihr so viel bedeuten.«
Sie nickte, ohne zu zögern. »Natürlich werde ich es tun.«
Auf der Treppe fragte Cædmon sich flüchtig, weswegen William wohl ursprünglich nach ihm geschickt hatte, aber er ging nicht zurück, um es herauszufinden. Niemand begab sich derzeit freiwillig in die Nähe des Königs.
Als er die Halle durchquerte, entdeckte er Wulfnoth mit der Laute an seinem angestammten Platz und trat zu ihm.
Wulfnoth hob den inzwischen angegrauten Kopf und lächelte. »Cædmon. Setz dich zu mir. Du siehst so aus, als bräuchtest du dringend etwas zu trinken.«
»So ist es auch. Aber ich kann nicht bleiben.«
Wulfnoth winkte ab. »Was könnte so eilig sein, daß du dir nicht die Zeit für einen Becher Wein nimmst?« fragte er.
Cædmon seufzte tief. In den letzten Monaten hatte er Wulfnoth so manches Mal um sein zurückgezogenes Geiseldasein beneidet, das ihn von allen politischen Ereignissen entrückte. Wulfnoth war seit jeher Opfer, Spielball und passiver Zuschauer gewesen. Er wußte alles, durchschaute jeden, doch seit seine eigene Familie sozusagen aus dem Rennen war, konnte er sich den Luxus erlauben, die Dinge mit Distanz zu betrachten und nicht gerade selten mit spöttischen Kommentaren zu würzen. Cædmon wurde hingegen als unfreiwilliger Vertrauter des Königs immer tiefer in die politischen Intrigen und Machtkämpfe verstrickt, und manchmal kam es ihm so vor, als sei die Freiheit kein zu hoher Preis für das Privileg, diesem Sumpf zu entrinnen.
»Eine äußerst drängende Angelegenheit, Wulfnoth«, erklärte er bitter. »Jemand muß unbedingt noch heute sein Augenlicht verlieren.«
Wulfnoth legte die flache Hand auf die Saiten der Laute. »Wer?«
»Ein Bote der Königin.«
»Gott, hat sie Robert etwa wieder Geld geschickt?«
»Zweitausend Pfund. Wenn dir der Sinn danach steht, ein gutes Werk zu tun, dann geh zu ihr. Ich glaube, sie hat den Zuspruch eines Freundes bitter nötig.«
Wulfnoth nickte seufzend. »Ja, ich werde zu ihr gehen. Später.«
»Wenn du sicher sein kannst, William nicht zu begegnen«, mutmaßte Cædmon brummend.
»So ist es. Seine Stimmung wird, wie du weißt, nie besser, wenn er mich sieht.« Er senkte den Kopf wieder über den Korpus der Laute. »Und warum sollte ich mich dem freiwillig aussetzen?«
Die Weihnachtstage wurden weder besonders froh noch friedvoll. Am Heiligen Abend kam ein Bote mit der Nachricht, daß Prinz Robert mit seinen Getreuen auf der französischen Burg von Gerberoi nahe der Ostgrenze zur Normandie Stellung bezogen hatte. Der französische König hatte ihm diese Festung zur Verfügung gestellt. Damit war bewiesen, was alle schon lange befürchtet hatten: Robert machte gemeinsame Sache mit Philip von Frankreich, Williams erklärtem Widersacher. Die jungen Normannen schlichen sich bei Nacht und Nebel über die Grenze, um sich Robert anzuschließen, aber auch französische Ritter scharten sich jetzt um ihn.
William hatte das Kinn auf die Faust gestützt und lauschte dem furchtsamen Boten mit gerunzelter Stirn. Als der junge Ritter verstummte, hob er den Kopf. »Das war alles?«
»Ja, Sire«, bestätigte der Bote atemlos.
»Herrgott, hör auf zu schlottern, Junge, das ist ja erbärmlich!« grollte der König.
Der junge Mann straffte seine Haltung und schluckte sichtlich. »Verzeiht mir, Sire.«
»Roger de Beaumont schickt dich, sagst du?«
»Ja, mein König.«
»Dann hattest du einen weiten Weg durch höllisches Wetter. Geh in die Halle hinunter und iß und trink.«
So grenzenlos war die Erleichterung, die sich in der Miene des Boten zeigte, daß selbst der König belustigt einen Mundwinkel verzog.
Nachdem die Tür sich geschlossen hatte, wandte er sich an seinen Zweitältesten. »Nun, Rufus? Was würdest du tun?«
»Ich würde Verstärkung aus England anfordern und Robert belagern, Sire.«
»Tatsächlich?«
Rufus sah seinen Vater unsicher an, sprach aber mit aller Entschlossenheit weiter, die er aufbringen konnte, denn er war von der Richtigkeit seiner Meinung überzeugt. »Ja. Robert hat sich zu Philips Handlanger machen lassen. Das ist bitter, macht seinen Verrat um vieles schlimmer, und … und es schmerzt mich, Vater, wie Euch sicher auch. Es ist ein Grund mehr, dieser verbrecherischen Rebellion ein Ende zu machen. Mit England im Rücken sind wir unvergleichlich viel stärker, als Philip von Frankreich es je sein könnte. Und Robert ist kein guter Soldat, er hat nicht viel Erfahrung. Wir werden ihn in Gerberoi genauso leicht besiegen wie in Rémalard, und dieses Mal lassen wir ihn nicht entkommen.« »Sondern tun was mit ihm?« hakte sein Vater ein.
Rufus stieß hörbar die Luft aus. »Das … weiß ich nicht. Das könnt wirklich nur Ihr entscheiden, Sire.«
»Du bist also nicht bereit, diese Bürde mit mir zu teilen?« erkundigte sich der König.
Rufus sah ihn unglücklich an. Er merkte nicht, daß sein Vater nur ein grausames Spiel mit ihm trieb. Das merkte Rufus nie.
Cædmon kam ihm zur Hilfe und murmelte: »Erst mal sollten wir Robert schlagen und einfangen, ehe Ihr Euch darüber den Kopf zerbrecht.«
Zu Rufus’ Verblüffung zeigte William sein Wolfsgrinsen, lehnte sich im Sessel zurück und nickte. »Ein weises Wort, Cædmon. Schickt nach einem Schreiber, ich muß Lanfranc Nachricht schicken.« Er wandte sich an Rufus. »Ich bin ganz deiner Meinung. Es ist zwar gefährlich, England zu entblößen, weil König Malcolm von Schottland Truppen aufstellt, um in Northumbria einzufallen, aber zwei-, dreihundert Ritter aus dem Süden und Westen werden Lanfranc und deine Onkel wohl entbehren können. Ich habe bereits nach Verstärkung geschickt; die ersten Männer können jederzeit eintreffen. Gleich nach den Feiertagen ziehen wir nach Gerberoi.« Er sah wieder zu Cædmon. »Worauf wartet Ihr?«
»Eure Schreiber sind alle in der Kapelle, Sire. Heute ist der Heilige Abend.«
Der König nickte zerstreut. »Was für eine Welt, in der man nicht einmal mehr am höchsten aller Feste Frieden hat …«, bemerkte er seufzend. »Dann werdet eben Ihr Lanfranc schreiben, Cædmon.«
»Ich?«
William runzelte unwillig die Stirn. »Ich sehe hier sonst niemanden dieses Namens.«
»Sire, ich … kann nicht schreiben.«
»Aber Ihr könnt doch lesen.«
»Das ist nicht das gleiche.«
»Ziert Euch nicht, geht an das verdammte Schreibpult! Na los!«
Cædmon sah hilfesuchend zu Rufus, Henry und den anderen Männern am Tisch, die alle mehr oder minder offen grinsten. Von dort war keine Unterstützung zu erwarten. Ratlos trat er an das Pult, nahm zögernd die Feder in die Hand und tauchte sie in das kleine Tintenhorn, das in einem schmiedeeisernen Ständer daraufstand. Er fühlte sich hoffnungslos überfordert, noch ehe der König ein Wort diktiert hatte. Bitte, Gott, tu irgendwas. Egal was, aber lenk ihn ab, bis die Andacht vorbei ist … Prompt ertönte ein Klopfen an der Tür, und auf Williams ungeduldigen Ruf hin trat ein Page ein und verneigte sich tief.
»Was gibt es?« fragte der König barsch.
»Der Sheriff von Cheshire ist mit fünfzig Rittern aus England eingetroffen. Er wartet unten in der Halle auf Eure Befehle.«
Cædmon hatte sich abrupt abgewandt, so daß niemand sein Gesicht sehen konnte, und dachte voller Entsetzen: Bedenke, worum du bittest, du unbelehrbarer Narr, denn Gott könnte dir einen tückischen Streich spielen und es gewähren …
»Schick ihn herauf«, befahl der König.
Als Cædmon den Türriegel einrasten hörte, wandte er sich an William, rang um eine ausdruckslose Miene und sagte ohne alle Dringlichkeit: »Erlaubt Ihr, daß ich mich zurückziehe, Sire?«
Eine der großen Pranken winkte ab. »Kommt nicht in Frage. Das fehlt noch, daß ich ständig nach Euch schicken muß, weil Ihr Euch irgendwo verkrochen habt, um ihm aus dem Wege zu gehen. Die Dinge sind so schon schwierig genug.«
»Sire, ich … bitte Euch.«
»Ja, ja. So viele bitten mich um so viele Dinge. Und wie so oft kann ich auch Eure Bitte nicht gewähren.«
Ein neuerliches Klopfen an der Tür beendete die Debatte. Cædmon durchlebte einen Moment würgender Panik, sein Blick glitt gehetzt durch den großen, aber so spärlich möblierten Raum, als suche er nach einem Versteck, verharrte gar einen Augenblick bei einem der Fenster. Doch es war zu klein, als daß ein ausgewachsener Angelsachse hindurchgepaßt hätte, und außerdem lag es mehr als dreißig Fuß über der Erde …
Er nahm sich zusammen, als die Tür sich öffnete, und sah ausdruckslos geradeaus.
»Etienne fitz Osbern!« rief William leutselig. »Seid willkommen.«
Einen endlosen Augenblick lang starrten die einstigen Freunde sich an. Cædmons erste Empfindung war eine völlig unerwartete, unbändige Freude, so daß er sich nur mit Mühe daran hinderte, zu lächeln und auf ihn zu zu gehen. Etiennes Gesicht zeigte überhaupt keine Regung, seine Augen verengten sich nur ein klein wenig, und sein Schritt geriet fast unmerklich ins Stocken.
All das dauerte nicht einmal einen Herzschlag lang. Dann richtete der Ankömmling den Blick auf den König, sank vor ihm auf ein Knie nieder und sagte: »Ich bin gekommen, so schnell ich konnte, mein König. Ihr seht mich tief erschüttert. Mein Vater ist tot, meine beiden Brüder und meine Schwester Verräter, und so bin ich der letzte fitz Osbern, der Euch dient, aber meine Treue gehört Euch ebenso wie mein Leben.«
William neigte das Haupt ein wenig und hieß ihn mit einer Geste, sich zu erheben. »Ich hoffe, Ihr hattet eine gute Überfahrt?«
Etienne deutete ein Achselzucken an. »Nun, ich stehe hier lebendig vor Euch, Sire. Das ist das einzig Gute, was es über diese Überfahrt zu sagen gibt.«
Die Männer am Tisch lachten leise, vermutlich nicht wenig erleichtert darüber, daß ihnen eine häßliche Szene offenbar erspart bleiben sollte. Nur Cædmon stand immer noch stockstill neben dem Schreibpult und wünschte sich wohl zum tausendsten Mal in seinem Leben, sein Vater hätte ihn niemals, niemals aus Helmsby fortgeschickt.
Mit einer Geste lud der König Etienne ein, in der Runde Platz zu nehmen. »Ihr bringt fünfzig Männer?«
Etienne verneigte sich vor den Prinzen, setzte sich dann neben den Bischof von Évreux und nickte den übrigen grüßend zu. »So ist es. Allesamt Engländer, die mir oder meinen Vasallen dienstpflichtig sind. Hervorragend ausgebildet und ausgerüstet und Euch ganz und gar ergeben.«
Der König nickte zufrieden. »Rufus, setze fitz Osbern ins Bild, sei so gut.« Dann warf er einen flüchtigen Blick über die Schulter. »Cædmon, ich denke, der Brief kann warten, bis die Brüder von der Vesper kommen. Erweist uns die Ehre und gesellt Euch wieder zu uns.«
Oh, William, warum tust du das? fragte er sich verständnislos, kehrte mit butterweichen Knien an den Tisch zurück und sank auf seinen Platz zwischen den Prinzen, Etienne schräg gegenüber.
Er hätte später nicht zu sagen vermocht, worüber gesprochen wurde, und vermutlich war es ein Glück, daß er die Lage bereits kannte und genau wußte, was der König vorhatte. Er starrte blicklos auf eine breite Kerbe in der Tischplatte vor sich, sah aus dem Augenwinkel, daß Etienne ihn keines Blickes würdigte, und fühlte sich sterbenselend.
Das allgemeine Stühlerücken verkündete ihm irgendwann, daß die Beratung beendet war und der König sie entlassen hatte, und er stand mit gesenktem Kopf auf und erreichte die Tür als erster. Hastig trat er auf den eisigen Korridor hinaus und floh die Treppe hinab, über den verschneiten Burghof und in den kleinen Garten hinter der Kapelle. Hier war er sicher. Niemand kam im Winter je hierher, niemand außer ihm. Cædmon verbrachte beinah jeden Tag ein paar Minuten in seiner wohltuenden Winterstille, um die drückende Stimmung, die auf der Halle lastete, für ein Weilchen abzustreifen, vor allem aber, um sich zu erinnern. Es war der einzige Ort, wo er sich Aliesa nahe fühlte, wo die Entfernung, die sie trennte, nicht unüberwindlich schien. Er ließ sich auf die Knie fallen, strich sacht mit den flachen Händen über den pulvertrockenen Schnee und entsann sich gründlich, gab sich einer regelrechten Erinnerungsvöllerei hin, wie er sie sich nur höchst selten gestattete. Aber heute abend war es unvermeidlich. Er mußte es tun, um sich wieder aufs neue zu vergegenwärtigen, wie es überhaupt zu all dem gekommen war, warum es so hatte enden müssen und daß es den Preis wert gewesen war. Vor allem deswegen. Er hatte lange gebraucht und hart gekämpft und manchmal erbärmlich gelitten, ehe er zu dieser Einsicht gekommen war, und in das Jammertal wollte er nicht zurück. Darum kniete er also bei eisiger Kälte im Schnee und dachte an den Tag in Beaurain, an den Falken, den sie geküßt hatte, dann an ihr Wiedersehen hier, an genau dieser Stelle, wo sie sich in den Finger geschnitten und er Moos auf die blutende Wunde gedrückt hatte, und er wußte noch ganz genau, wie ihre schlanke, zierliche Mädchenhand sich angefühlt hatte. Eines nach dem anderen ließ er die vertrauten Bilder wieder aufleben, und er staunte nicht zum erstenmal darüber, wie heftig das Sehnen war, das ihn überkam, ihre Abwesenheit eine fast körperliche Qual. Er schlang die Arme um den Oberkörper, so als mime er eine innige Umarmung, wiegte sich sanft vor und zurück, ohne es zu merken, und dann traf ihn ein harter Gegenstand am Hinterkopf, er fiel mit dem Gesicht in den Schnee und spürte gar nichts mehr.
Er wachte mit einem gewaltigen Brummschädel auf und wußte sofort, daß er in Wulfnoths Bett lag, denn er erkannte den Raum an seinem Geruch nach Talglichtern und Bücherstaub und hörte leise Lauteklänge in der Nähe. Irgendwer hatte ihn bis ans Kinn zugedeckt, aber er schlotterte trotzdem. Es kam ihm vor, als sei ihm in seinem ganzen Leben noch nie so kalt gewesen.
»Ich glaube, er wird wach.« Es war Eadwigs Stimme.
»Gut«, antwortete Wulfnoth. »Versuch, ihm den heißen Wein einzuflößen.«
Cædmon spürte eine kräftige Hand im Nacken und schlug die Augen auf. »Eadwig …«
»So ist es, Bruder. Hier, trink.«
Cædmon hob abwehrend die Hand und legte sie leicht auf Eadwigs Ärmel. Dann richtete er sich auf, vergrub stöhnend den Kopf in den Händen und zog sich die Decke wieder bis zu den Schultern hoch. Ungläubig stellte er fest, daß seine Zähne klapperten. »Was ist passiert?« Eadwig hielt ihm den Becher hin. »Du mußt das trinken, Cædmon, sonst wirst du todkrank.«
Cædmon nahm das Tongefäß in beide Hände und verzog das Gesicht, weil es zu heiß war, setzte es aber an die Lippen und nahm vorsichtig einen kleinen Schluck. Sein Bruder hängte ihm eine weitere Decke über die Schultern.
Wulfnoth stellte das Instrument beiseite, stand vom Tisch auf und kam zu ihnen herüber. »Tu, was Eadwig sagt, Cædmon. Es ist fast Mitternacht. Du hast stundenlang im Schnee gelegen.«
Erschrocken nahm Cædmon einen tiefen Zug und verbrannte sich fürchterlich die Zunge. »Gott verflucht … Warum befinde ich mich in deinem Bett und nicht in meinem?«
»Tja, ich schätze, du wirst hier einquartiert, bis ihr abzieht. Es wird ein bißchen eng auf der Burg. Der Kastellan hat Etienne fitz Osbern und seinen Offizieren dein Quartier zugewiesen, aber Etienne weigert sich, in einem Raum mit dir zu wohnen.«
Cædmon nickte und wünschte sogleich, er hätte es nicht getan. Sein Kopf fühlte sich an, als wolle er im nächsten Moment in tausend Scherben zerspringen. »Ihr könnt sagen, was ihr wollt, ich werde niemals glauben, daß Etienne sich von hinten an mich anschleicht, mich niederschlägt und im Schnee liegenläßt.«
»Hat er auch nicht«, sagte Eadwig. »Er hat dich gefunden und zurückgebracht.«
Cædmon stöhnte.
»Er trug dich über der Schulter wie einen Hafersack und schaffte dich hierher«, erläuterte Wulfnoth, der als einziger in der Lage schien, die Sache von ihrer komischen Seite zu sehen. »›Schaut nur, was ich Euch bringe‹, hat er zu mir gesagt. ›Wo soll ich es abladen?‹ Auf meine Frage erklärte er, er habe dich im Rosengarten gefunden und nach kurzem, aber heftigem Ringen mit seinem Gewissen entschieden, dich nicht zum Erfrieren dort liegenzulassen.«
»Hört doch auf, Wulfnoth«, stieß Eadwig wütend hervor. »Seht Ihr denn nicht, was Ihr anrichtet?«
Cædmon hob abwehrend die Rechte. »Nein, Augenblick. Mir dröhnt der Schädel, und mir ist kalt, aber das heißt nicht, daß man mich wie ein rohes Ei behandeln muß. Darüber hinaus solltest du nicht vergessen, daß es Wulfnoth Godwinson ist, bei dem wir hier zur Gast sind, Eadwig, also erweise ihm gefälligst Respekt und fahr ihn nicht an, hast du verstanden?«
»Ja, Thane«, antwortete Eadwig verdattert.
Cædmon schwang langsam die Beine aus dem Bett, stützte sich auf seinen Bruder und stand versuchsweise auf. Es ging besser als erwartet. »Wenn es kurz vor Mitternacht ist, sollten wir zur Mette gehen.«
»Du kannst nicht zur Mette gehen, Cædmon«, widersprach Eadwig. »Nein? Schau genau hin, dann wirst du sehen, daß ich es kann.«
»Aber …«
Cædmon gab sich zumindest Mühe, seinen Bruder anzulächeln. »Wer immer mich so feige niedergeschlagen hat, soll nicht die Genugtuung haben, daß du und ich und Wulfnoth Williams Mißfallen erregen, weil wir die Christmette versäumen. Wenn wir vorgeben, alles sei in bester Ordnung, bringen wir ihn um sein Vergnügen. Komm schon, Eadwig, mir fehlt doch nichts. Laß uns gehen.«
Wulfnoth reichte ihm ein Paar Hosen, die zum Trocknen über einem Schemel nahe dem Kohlebecken gehangen hatten. »Vielleicht ziehst du dir vorher etwas an?«
Die Einschätzung, ihm fehle nichts, war nicht ganz richtig. Während der gesamten Dauer der feierlichen Mette rang er mit Schwindel und Übelkeit, und im Verlaufe des nächsten Tages stellte sich eine gräßliche Erkältung ein. Über die Weihnachtsfeiertage entwickelte er die merkwürdige Angewohnheit, ständig mitten in einer Unterhaltung einzuschlafen, und nachdem er zweimal von der Bank gekippt war, wies der König ihn aus der Halle. Cædmon folgte der barschen Aufforderung nur zu gern und verzog sich in Wulfnoths Bett, das sie wieder einmal teilten, wo er sechsunddreißig Stunden nahezu ohne Unterbrechung schlief. Danach war bis auf einen hartnäckigen Schnupfen alles vorbei.
»Ich bleibe trotzdem lieber hier und lasse mich vorerst nicht blicken«, vertraute er Rufus und Henry an, die gekommen waren, um nach ihm zu sehen. »Ich vertraue auf eure Diskretion.«
Die Prinzen wechselten einen Blick, und Henry seufzte leise. »Ich fürchte, daraus wird nichts, Cædmon. Der König hat gesagt, wir sollen feststellen, wie es dir geht, und wenn wir nicht den Eindruck hätten, daß du im Sterben liegst, sollen wir dir ausrichten, daß er dich heute wieder in der Halle erwartet.«
»Ah. Meine Verbannung ist schon aufgehoben? Zu schade.« Er biß in den Zimtkuchen, den sie ihm mitgebracht hatten. »Hm! Gut. Was will er denn von mir?« fragte er mit vollem Mund und schluckte, ehe er weitersprach: »Vor dem Dreikönigsfest passiert doch nichts. Die ganze Christenheit hält Weihnachtsfrieden, sogar William.«
»Du irrst dich«, eröffnete Rufus ihm. »Wir rücken übermorgen aus und werden sehr viel eher nach Gerberoi kommen, als mein geliebter Bruder uns erwartet.«
Cædmon machte große Augen. »Noch vor Neujahr? Wie frevlerisch. Und Roberts Spione werden es erfahren und ihn vorwarnen, wir alle versündigen uns umsonst.«
»Nicht, wenn wir in kleinen Gruppen von zehn oder zwanzig Mann über eine Woche verteilt ausziehen und uns heimlich in Gournay sammeln.«
Cædmon zog die Brauen hoch. »Nicht schlecht.«
Es herrschte ein kurzes, unbehagliches Schweigen, ehe Rufus sagte: »Es war Etiennes Vorschlag.«
Cædmon nickte und rieb sich beinah verstohlen das Kinn an der Schulter. »Ja. Er war schon immer ein genialer Stratege. Wie … ist er?«
Rufus hob kurz die Schultern und brauchte einen Moment, ehe er Cædmon in die Augen sehen konnte. »Wie früher. Völlig unverändert. Geistreich, witzig, gute Gesellschaft. Und jeden Abend betrunken, aber natürlich niemals unangenehm oder streitsüchtig oder gar lächerlich. Nur redet er niemals ein Wort mit Eadwig, und wenn irgendwer deinen Namen erwähnt, gibt er vor, es nicht gehört zu haben. Er wirkt unbeschwert und seiner selbst sehr sicher. Alle, die ihn noch nicht kannten, sind vollkommen hingerissen von ihm, vor allem natürlich die Damen. Aber mir ist er unheimlich.«
»Warum?« fragte Cædmon.
Der Prinz fuhr sich mit dem Daumen über das ausgeprägte, glattrasierte Kinn und dachte einen Moment nach. »Ich weiß nicht genau. Vermutlich ist es häßlich von mir, das zu sagen, denn er hat sich wirklich Mühe gegeben, keine Befangenheit zwischen uns aufkommen zu lassen, er ist sehr freundlich zu mir. Aber manchmal, wenn er mich ansieht, dann … dann bin ich sicher, daß er mich haßt.«
Cædmon betrachtete den Prinzen versonnen und schüttelte den Kopf. »Das bildest du dir ein, Rufus.«
Haß war Etiennes Natur fremd. Im Gegensatz zu Cædmon oder Lucien hatte Etienne nicht einmal Jehan de Bellême wirklich gehaßt. Er hatte ein zu sanftes Gemüt, um über längere Zeit einen Groll gegen irgend jemanden zu hegen, tat Ungerechtigkeiten und Rückschläge meist mit einem Schulterzucken ab und vergaß sie. Cædmon hatte ihn ob dieser Gabe oft ebenso beneidet wie bewundert, dieser tief verwurzelten Heiterkeit des Wesens, die auf nichts anderem als Bescheidenheit und Weisheit gründete. Und Cædmon dachte manchmal, daß seine größte Sünde darin bestand, das zerstört zu haben. Er hatte seinen Freund so tief gekränkt, in so unverzeihlicher Weise verraten, daß Etienne gar nichts anderes übrigblieb, als ihn zu hassen. Und ganz bestimmt war dieses Gefühl ihm fremd und unheimlich.
»Nein, ich bin sicher, du irrst dich, Rufus. Vermutlich fühlt er sich unwohl hier, wäre viel lieber in England geblieben, aber das ist auch alles. Du kannst ihm trauen, glaub mir. Er ist … ein wirklich guter Mann.«
Rufus schlug unglücklich die Augen nieder und antwortete nicht.
Nach einem Moment sagte Henry: »Das glaubt der König offensichtlich auch. Er scheint ihm sehr gewogen. Auch deswegen solltest du zurückkommen, Cædmon.«
Cædmon zog überrascht die Stirn in Falten. »Etienne hat die Gunst deines Vaters verdient, und ich gönne sie ihm von Herzen, Henry. Das letzte, was mir einfallen könnte, wäre, mit ihm darum zu konkurrieren.« »Aber wir glauben, daß Etienne fitz Osbern sich bemüht, den König wieder gegen dich aufzubringen«, wandte der junge Prinz besorgt ein. Cædmon sah von ihm zu Rufus. »Wie kommt ihr darauf?«
Rufus hob die Hände zu einer Geste der Ratlosigkeit. »Oh, es ist nichts, worauf man den Finger legen könnte. Andeutungen. Kleine, scherzhafte Bemerkungen. Er erwähnt natürlich niemals deinen Namen – wie könnte er, da er ja so tut, als gäbe es dich gar nicht –, aber er scheint alles zu wissen, was in den letzten Monaten vorgefallen ist. Einmal hat er beiläufig erwähnt, daß es vielleicht nie zum Bruch zwischen meinem Vater und Robert gekommen wäre, wenn die englischen Ritter in Henrys und meinem Gefolge sich besser zu benehmen wüßten. Der König stand in der Nähe und hat es gehört. Und er weiß auch, daß du dem Boten meiner Mutter zur Flucht verholfen hast.«
Cædmon fuhr erschrocken zusammen. »Woher weißt du davon?«
Rufus lächelte flüchtig. »Meine Mutter hat es meiner Schwester Adeliza erzählt. Adeliza mir. Aber wie fitz Osbern davon erfahren hat …« Er hob vielsagend die Schultern. »Ich habe es keiner Menschenseele gesagt. Und Adeliza kann Geheimnisse hüten, das weiß jeder in unserer Familie, sonst hätte Mutter ja nie mit ihr darüber gesprochen.«
»Also kann ich damit rechnen, in absehbarer Zeit wieder in einem der anheimelnden normannischen Verliese zu landen«, mutmaßte Cædmon finster.
Rufus lächelte schwach. »Ich glaube nicht, Cædmon. Vater hat überhaupt nicht darauf reagiert, als er es hörte. Natürlich hat Etienne es ihm auch nicht direkt ins Gesicht gesagt, sondern mit Hamo fitz Hugh darüber geplaudert, als der König zufällig in der Nähe war. Ich habe meinen Vater genau beobachtet. Er war nicht wütend. Und das nächste, was ich ihn sagen hörte, war, daß du beim Sturm auf Gerberoi seine englischen Ritter befehligen sollst.«
Cædmon fuhr sich mit dem Ärmel über die triefende Nase und stützte die Stirn auf die Fäuste. »Er will uns gegeneinander ausspielen. Gott verflucht … Rufus?«
»O nein, Cædmon. Ich werde ihm nicht sagen, du seiest todkrank und unfähig, mit nach Gerberoi zu ziehen. Das kannst du dir aus dem Kopf schlagen. Dich Etienne fitz Osbern gegenüber zu finden mag dir unangenehm sein, aber mein Vater zieht in den Krieg gegen meinen Bruder. Was denkst du, wie ich mich fühle? Der König wird wie ein wütender Löwe sein. Glaubst du, ich gehe mit ihm und lasse seinen Wärter freiwillig hier zurück?«