2. BUCH

Oftmals rühmte ich William ob all seiner Tugenden, doch kann ich ihn nicht preisen für diese Tat, die Verderben über Gerechte und Frevler zugleich brachte durch die entsetzliche Hungersnot. Und so will ich all das Leid des schwer geprüften Volkes beklagen, statt seine Schandtat durch lügnerische Schmeicheleien zu verhehlen. Gewiß sollte dies barbarische Morden nicht ungestraft bleiben.

Ordericus Vitalis, Historia Ecclesiastica

Winchester, Mai 1069

»Und was geschah, nachdem der große König Alfred die Dänen besiegt habste?« fragte Richard.

»Hatte, du Hornochse«, verbesserte Rufus.

»Hatte, du Hornochse«, stimmte Cædmon zu. »Nachdem Alfred den dänischen König Guthrum besiegt hatte, schloß er einen Vertrag mit ihm und überließ ihm und seinem Volk die nordöstliche Hälfte von England.«

»Warum?« fragte Rufus verständnislos. »Warum hat er sie nicht zum Teufel gejagt, wenn er sie doch besiegt hatte?«

Genau diese Frage hatte Cædmon auch gestellt, als sein Vater ihm die Geschichte zum erstenmal erzählt hatte. Und erst Wulfnoth hatte ihm eine befriedigende Antwort gegeben. Er verdankte Wulfnoth überhaupt das meiste dessen, was er den dreizehn- und vierzehnjährigen Söhnen des Königs heute über englische Geschichte und Gebräuche beizubringen versuchte.

»Die Dänen hatten schon angefangen, in England Wurzeln zu schlagen. Und Alfred war der Ansicht, wenn es gelänge, friedlich miteinander zu leben, könnte das für beide Seiten von Nutzen sein. Er wollte eine Flotte bauen, und die Dänen verstanden sich auf den Schiffsbau. Er wollte den Handel mit dem Kontinent ausweiten, und auch da hatten und haben sie die Nase vorn. Vor allem wollte König Alfred Frieden in England und Glück und Wohlstand für sein Volk.«

Sie saßen auf der Wiese hinter der prachtvollen königlichen Halle von Winchester, die auf einer seichten Anhöhe stand, so daß man von hier aus das neue und das alte Kloster der Stadt sehen konnte. In beiden läutete die Glocke zur Vesper. Es war ein herrlich warmer Frühlingstag, und Cædmon genoß die Sonne im Gesicht. Bei der Niederschlagung der Rebellion in Lincoln im letzten Jahr hatte er eine tiefe Wunde an der linken Schulter davongetragen, die ihm immer noch gelegentlich zu schaffen machte, und er spürte, daß die Wärme ihr guttat.

»Aber wenn König Alfred mit den Dänen einen Vertrag geschlossen hat, stand das Land ihnen zu. Wie konnten Alfreds Nachfolger sie einfach vertreiben?« fragte Richard.

»Pah.« Rufus schnaubte verächtlich. »Ein scharfes Schwert ist ein besseres Argument als Worte auf Pergament.«

Und das, befand Cædmon, war ein typisches Beispiel für die grundsätzliche Verschiedenheit seiner beiden Schüler. Richard versuchte immer, die Dinge von allen Seiten zu betrachten, und ging ihnen gern auf den Grund. Manchmal machte er sich das Leben dadurch unnötig schwer. Rufus hingegen war gelegentlich zu vorschnell in seinem Urteil, denn er zerbrach sich nicht gern den Kopf. Rufus fiel das Lernen leichter, er hatte die fremde Sprache erstaunlich mühelos begriffen und machte kaum noch Fehler. Es war beinah, als habe er ein angeborenes Gespür dafür; fast instinktiv fand er sich in dem ungewohnten Gewirr ihrer komplizierten, hoffnungslos unlogischen Grammatik zurecht. Richard hingegen mußte überlegen, ehe er die richtige Verbform fand, und hatte kein so gutes Gedächtnis für die fremden Worte, und trotzdem war sein Wortschatz vermutlich doppelt so groß wie Rufus’, einfach weil er so viel mehr Wörter brauchte, um seine so viel komplizierteren Gedankengänge auszudrücken.

»Was hätte Euer Vater wohl an Stelle von Alfreds Söhnen getan?« fragte Cædmon.

»Er hätte die Dänen davongejagt«, sagte Richard.

»Und bei der Gelegenheit gleich Dänemark erobert«, fügte Rufus grinsend hinzu.

Richard bedachte seinen jüngeren Bruder mit einem mißfälligen Stirnrunzeln und warf Cædmon einen zerknirschten Blick zu. Cædmon zwinkerte ihm zu, um ihm zu zeigen, daß er nicht ärgerlich war. Und das war er auch nicht. Denn wenn Rufus taktlos war, dann nicht aus Bosheit, sondern aus Gedankenlosigkeit.

»Vielleicht werden wir bald Gelegenheit haben festzustellen, was euer Vater im Fall eines Däneneinfalls tut«, bemerkte er beiläufig.

Rufus winkte ab. »Das alte Märchen von der Wikingerflotte. Ewig wird sie vorhergesagt, aber sie kommt nie.«

»Das haben die Angelsachsen auch geglaubt, bevor Harald Hårderåde von Norwegen mit dreihundert Schiffen den Humber hinaufkam«, gab Cædmon trocken zurück.

»Du denkst, die Dänen kommen wirklich?« fragte Richard. Er klang nicht besorgt. Beide Jungen lebten in der unbekümmerten Überzeugung, daß keine militärische Herausforderung ihrem Vater je etwas anhaben konnte.

»Gut möglich, ja.« Cædmon beunruhigte die Vorstellung weitaus mehr als die beiden Prinzen, aber das ließ er sich nicht anmerken. »Zurück zu Alfred. Sein zweites großes Anliegen war die Verbreitung des Christentums. Er wollte, daß es tiefe Wurzeln in England schlug. Und zu dem Zweck …«

»Oh, heilige Jungfrau, da kommt Lucien de Ponthieu«, fiel Rufus ihm raunend ins Wort.

Richard sah auf und stöhnte.

Lucien trat gemächlich näher, blieb vor ihnen stehen und legte die rechte Hand um den linken Oberarm. Die Geste war ein merkwürdiges, halbes Armeverschränken, aber sie wirkte keineswegs grotesk. Nur mißfällig.

»Ich störe dieses Plauderstündchen ja nur ungern, aber wenn ich mich recht entsinne, hatte ich gesagt, zur Vesper. Richtig? Und was hörte ich eben? War’s die Vesperglocke? Oder stimmt was nicht mit meinen Ohren?«

Die Prinzen erhoben sich schleunigst, und Lucien ohrfeigte sie beide. Hart genug, daß Rufus blinzelnd gegen seinen Bruder taumelte.

»Ich rate euch, laßt mich nicht noch einmal warten.«

»Nein, Lucien.«

Cædmon wandte den Kopf ab. Es mußte ja nicht unbedingt sein, daß Lucien seine angewiderte Grimasse sah. Dann stand er auf und stellte sich neben die kleinlauten Prinzen.

»Es war meine Schuld, Lucien, ich hätte sie zu dir schicken sollen. Ich hab’s vergessen.«

»Nur schade, daß ich dich nicht ohrfeigen kann«, gab Lucien mit dem Anflug eines Lächelns zurück. »Da seht ihr, wie ungerecht die Welt ist, Jungs. Und jetzt los, worauf wartet ihr!« Er verpaßte Rufus eine aufmunternde Kopfnuß, und die Jungen verabschiedeten sich hastig von Cædmon und stoben davon, liefen um die Halle herum auf die Nordseite, wo der Sandplatz lag. Lucien folgte ihnen, ehe Cædmon noch etwas sagen konnte.

Cædmon sah ihnen kopfschüttelnd nach und seufzte. Er hatte sich strikt geweigert, die militärische Ausbildung der beiden Prinzen zu übernehmen. Dabei hätte es ihm Spaß gemacht, sie im Umgang mit Schwert, Lanze und Wurfspieß zu unterrichten. Aber nicht auf normannische Art. Cædmon war nicht zimperlich; nicht gelernte Aufgaben oder mangelnde Aufmerksamkeit ahndete auch er mit Ohrfeigen, das war schließlich völlig normal. Doch um nichts in der Welt wollte er ein erbarmungsloser Schleifer sein wie Jehan de Bellême. Seit er den Krieg gesehen hatte, verstand er in gewisser Weise die Notwendigkeit, sah ein, daß es einen Sinn hatte. Aber trotzdem wollte er nicht tun, was Jehan de Bellême tat, wollte auch nicht so leidenschaftlich gehaßt werden, wie Jehan de Bellême gehaßt wurde. Lucien de Ponthieu hingegen schien das nicht im mindesten zu beunruhigen. Cædmon mußte allerdings auch einräumen, daß Lucien eine bessere Methode gefunden zu haben schien als Jehan. Richard und Rufus fürchteten sich vor ihm und ließen keine Gelegenheit aus, sich über ihn zu beklagen. Lucien trieb sie zur völligen Erschöpfung, überforderte sie absichtlich, ging sparsam mit seinem Lob um und schlug sie unbarmherzig. Aber er demütigte sie nicht. Und darum haßten sie ihn auch nicht.

»Denn unser einarmiger Finsterling ist im Grunde seines Herzens ein anständiger Kerl«, murmelte Cædmon, reckte sich in der warmen Abendsonne und lachte vor sich hin.

»Nur ein Tor lacht über nichts«, bemerkte eine Stimme hinter seiner linken Schulter.

Cædmon fuhr herum. »Etienne! Was in aller Welt verschlägt dich hierher?«

Etiennes Vater, Guillaume fitz Osbern, war nach wie vor der engste Vertraute des Königs und inzwischen der Earl of Hereford. Wenn der König in der Normandie weilte, was in den letzten zweieinhalb Jahren häufiger vorgekommen war, regierte fitz Osbern an seiner Statt England, zusammen mit dem Bruder des Königs, Bischof Odo, der der Earl of Kent war. Odos Aufgabe war vergleichsweise einfach. Der Südosten Englands hatte sich schnell auf die geänderten Verhältnisse eingestellt und sich der normannischen Herrschaft unterworfen. Hereford lag nahe der walisischen Grenze, vor allem aber weiter nördlich, und König William nannte fitz Osbern seinen »Wächter des Nordens«. Das war kein sehr dankbares Amt.

Etienne und sein älterer Bruder Roger standen ihrem Vater bei seiner schwierigen Aufgabe zur Seite, und deswegen hatte Cædmon seinen Freund in letzter Zeit nicht häufig gesehen.

Etienne umarmte Cædmon herzlich. »Vater schickt mich mit Nachrichten zum König. Außerdem hatten wir Sehnsucht nach euch allen, also haben wir uns gesagt, warum verbringen wir den Sommer nicht bei Hofe.«

Cædmon lächelte. »Was für eine wunderbare Idee«, sagte er voller Wärme.

Manchmal befremdete es ihn, wie mühelos er sich verstellen konnte. Sie würde hier sein. Wenn Etienne den Sommer hier verbringen wollte, hatte er sie mitgebracht. Schließlich gehörte sie zum Gefolge der Königin, es lag nur nahe. Aber es bedeutete, daß jeder Tag dieses Sommers ein unsägliches Jammertal für Cædmon sein würde.

Er nahm seinen Freund beim Arm und führte ihn zur Halle. »Wie geht’s deiner Frau?«

»Gut. Immer noch nicht schwanger, was nicht daran liegt, daß wir uns nicht bemüht hätten, aber davon abgesehen, blendend.«

Jesus Christus, ich hoffe, die Dänen kommen bald …

»Sie wird sich freuen, dich zu sehen«, fuhr Etienne fort. »Und ihren Bruder, natürlich … Stimmt etwas nicht?«

Cædmon riß sich zusammen. »Nein, nein. Alles in Ordnung. Was hört ihr aus York?«

Sie betraten die Halle, wo die Vorbereitungen für das Abendessen getroffen wurden. Tische wurden aufgebockt, makellos weiße Tücher darauf ausgebreitet, auf die Mägde und Pagen Kerzenhalter und Salzfässer stellten.

Sie setzten sich an einen der unteren Tische und winkten einem Pagen, ihnen Wein zu bringen. Cædmon sah sich verstohlen um. Aliesa war nirgends zu entdecken.

»Im Augenblick herrscht Ruhe in York«, antwortete Etienne. »Ich war letzten Monat noch da. Eine blühende Handelsstadt wie eh und je. Von den Aufständen im Winter ist nichts mehr zu spüren. Ich hoffe, die Leute von York, von ganz Northumbria haben endlich eingesehen, daß es klüger ist, sich in das Unvermeidliche zu fügen.«

»Das hoffe ich auch«, stimmte Cædmon zu, aber er glaubte es nicht. Überall in England hatte es Widerstand gegen die Eroberer gegeben. Mal heftiger, mal halbherzig. Das ganze letzte Jahr hindurch war Cædmon an der Seite des Königs durchs Land gezogen und hatte geholfen, ihn niederzuschlagen. Seine Neutralität aus den Tagen von Hastings hatte er längst aufgegeben. Die Dinge hatten sich inzwischen grundlegend geändert: William war der gesalbte König von England, und wer gegen ihn rebellierte, war ein Verräter. Viele englische Lords und Thanes dachten genauso. In Devon hatte der einheimische Adel eine Revolte niedergeschlagen, und als zwei von Harold Godwinsons unehelichen Söhnen mit ein paar Schiffen aus ihrem irischen Exil herübergekommen waren und Bristol besetzen wollten, hatte die königstreue Stadtbevölkerung sie geradewegs zurück über die irische See gejagt. Nur der Norden wollte sich einfach nicht fügen. Ende letzten Jahres hatte König William einen treuen Vasallen nach Northumbria geschickt, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Er hatte mit neunhundert Mann im Bischofspalast von Durham Quartier bezogen. Die aufgebrachte Stadtbevölkerung hatte die Eingänge von außen versperrt und den Palast in Brand gesteckt. Die gesamte normannische Garnison war elend verreckt. Der »kleine« Edgar Ætheling, der im Sommer zuvor vom Hof des Königs geflohen und bei König Malcolm in Schottland Unterschlupf gefunden hatte, war, sobald ihn die Nachrichten aus Durham erreichten, mit schottischen Truppen nach York marschiert und hatte die dortige normannische Garnison belagert. Doch die Nachrichten waren ebenso schnell nach Süden gekommen. König William zog in Gewaltmärschen nach Norden, die sich nur mit Harold Godwinsons sagenhaftem Marsch nach Stamford Bridge vergleichen ließen, und kam viel eher dort an, als irgendwer erwartet hatte. Die Revolte wurde niedergeschlagen. William ließ jeden Aufrührer hinrichten, dessen sie habhaft wurden. Alle bis auf Edwin und Morcar, die beiden jungen Earls des Nordens, die damals mit zu der Abordnung gehört hatten, die William in Berkhamstead die Krone antrug. Diesen beiden verzieh der König noch einmal, nachdem sie ihm einen erneuten Treueid geschworen hatten, schickte sie aber als »Gäste« nach Rouen. Edgar Ætheling war geflohen, sobald es brenzlig wurde.

In unmittelbarer Nähe von York ließ der König eine der befestigten Burganlagen errichten, die überall in England wie Pilze aus dem Boden schossen, und gab die Stadt selbst zur Plünderung frei, aber er ließ sie nicht niederbrennen.

»Für dieses Mal«, hatte er warnend erklärt.

»Ein Jammer, daß Edgar Ætheling uns durch die Lappen gegangen ist«, bemerkte Etienne. »Er wird uns noch jede Menge Ärger machen, da bin ich sicher.«

Cædmon gab ihm recht. Trotzdem war er immer noch froh, daß der König den angelsächsischen Prinzen damals geschont hatte. »Es heißt, er sei wieder in Schottland?«

Etienne nahm einen tiefen Zug aus seinem Becher und nickte. »O ja. Und wie es aussieht, hat er es verstanden, sein Bündnis mit Schottland zu untermauern. König Malcolm wird Edgars Schwester heiraten.«

Cædmon mußte lachen. Um ein Haar hätte er sich verschluckt. »Prinzessin Margaret? Also, manchmal muß man sich wirklich fragen, wo die Gerüchteköche ihre Zutaten hernehmen. Margaret kommt auf ihren frommen Onkel, König Edward, Etienne. Wenn es je eine Braut Christi gab, dann sie. Sie muß ungefähr so alt sein wie wir. Und ich erinnere mich, als ich noch ein Bengel war, nannten sie sie schon eine Heilige. Ich bin sicher, sie hat längst die Gelübde abgelegt.«

Etienne schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. »Hat sie nicht. Aber du hast recht, sie war felsenfest entschlossen. König Malcolm hat sich monatelang an ihrer Sturheit den Schädel eingerannt. Dann war er es satt. Erzbischof Aldreds Informant sagt, Edgar Ætheling habe vor der Tür gestanden und jeden fortgescheucht, der seiner schreienden Schwester zu Hilfe kommen wollte … Jedenfalls heiraten sie nächsten Monat.«

»Schande über dich, Edgar Ætheling«, murmelte Cædmon.

Etienne nickte. »Und über König Malcolm. Gott allein weiß, was sie im Schilde führen. Solange sie dort oben im rauhen Schottland zusammenhocken und Ränke schmieden, wird es im Norden keine Ruhe geben, darauf wette ich. Und Edwin of Mercia ist aus Rouen geflohen, wußtest du das?«

Cædmon nickte. Er hatte in den Straßen von Winchester ein Gerücht gehört, der junge Edwin of Mercia sei heimgekehrt und sammle seine einstigen Housecarls um sich. »Aber Edwin wird Edgar Ætheling nicht unterstützen, dafür kennt er ihn zu gut.«

»Vielleicht nicht, aber auf jeden Fall wird er versuchen, Unruhe zu stiften. All diese sogenannten englischen Helden tun ihrem Volk letztlich keinen großen Gefallen, Cædmon.«

»Nein, ich weiß.«

»Und wenn die Dänen tatsächlich kommen und Edwin sich ihnen anschließt …« Er brach ab und erhob sich lächelnd. »Madame … du siehst hinreißend aus.«

Cædmon folgte seinem Beispiel, stand auf und wandte sich um.

Aliesa hatte sich überhaupt nicht verändert. Mit achtzehn wirkte sie noch genauso mädchenhaft wie an dem Tag vor beinah genau fünf Jahren, als er sie zum erstenmal gesehen hatte. Ihre Kleider waren heute eine Spur ausgefallener als früher, und sie trug dezenten, aber teuren Schmuck. Etienne schien ein unstillbares, fast kindliches Vergnügen daran zu finden, seine schöne Frau zu schmücken. Ihr Kopf war mit einem leichten Tuch bedeckt – couvre-chef genannt –, wie es sich für eine verheiratete Frau gehörte. Es wurde von einem schmalen Goldreif in der Stirn gehalten und reichte ihr nur bis auf die Schultern, so daß die schwarzen Flechten darunter hervorwallten. Sie küßte ihren Mann lächelnd auf die Wange und legte leicht die Hand auf seinen Arm. Sie waren ein perfektes Paar. Und wie hätte sie ihn nicht lieben können? Etienne war ein so ungewöhnlich gutaussehender Mann, geistreich, großzügig und – so entrüstet er es auch bestritten hätte – beinah sanftmütig. Ein vollkommener junger Edelmann und Ritter. Sie hätte es wirklich nicht besser treffen können.

Und trotzdem riß es Cædmon schier das Herz aus dem Leib zu sehen, wie sie ihren Mann auf die Wange küßte.

Mit einem warmen Lächeln wandte sie sich an Cædmon. »Wie schön, daß Ihr hier seid, Thane.«

Er verneigte sich höflich. »Willkommen in Winchester, Aliesa.«

»Etienne hat unterwegs etwa alle zwei Meilen gesagt, ›Hoffentlich ist Cædmon bei Hofe‹. Ich hätte seine üble Laune ertragen müssen, wenn Ihr ihn enttäuscht hättet.«

Er lächelte schwach. »Die Gefahr war nicht groß. Ich bin ja praktisch immer hier. Wenn ich gelegentlich nach Helmsby komme, fallen meine eigenen Hunde mich an wie einen Einbrecher.«

Aliesa setzte sich zu ihnen, und sie unterhielten sich und scherzten unbeschwert, und niemand hätte ahnen können, daß Cædmon nichts anderes wirklich wahrnahm als nur ihren Anblick und ihren Duft.

Nach und nach füllte sich die Halle, und bei Einbruch der Dämmerung wurde aufgetragen. Das große Hufeisen der Tische war gut besetzt. Es war nicht mehr so voll wie zu Ostern, als König William so prachtvoll Hof gehalten hatte, daß man Gefahr lief, vom Gold und Silber der Tafel geblendet zu werden, aber auch jetzt war einiger Betrieb. Englische und normannische Adelige mit ihren Frauen, Williams Ritter, Bischöfe, Priester und Mönche, all die vielen Menschen, die das große Reich dies- und jenseits des Kanals verwalten halfen, fanden häufig Grund, sich bei Hofe einzufinden.

Das Essen war reichhaltig, aber nicht verschwenderisch: Kalbsbraten mit zartem, jungem Gemüse, außerdem Hirschragout, denn der König war gestern wie so oft zur Jagd geritten, und für den ausgesuchten Kreis derer, die an der hohen Tafel saßen, Rehrücken.

In diesen Genuß kamen Cædmon, Etienne und die anderen jungen Leute nicht, aber sie fanden keinen Grund zu klagen. Nach dem Essen entschuldigte Aliesa sich und ging zu ihrem Bruder. Sie setzte sich neben ihn, und sie steckten die Köpfe zusammen.

»Ist Roland nicht hier?« erkundigte sich Etienne.

Cædmon wischte sein Speisemesser an einem Stück Brot sauber, steckte es ein und verzehrte das Brot. »London«, antwortete er mit vollem Mund.

Ralph Baynard, Rolands Vater, kommandierte die Stadtwache der großen Handelsmetropole und konnte ebensowenig auf seine Söhne verzichten wie Guillaume fitz Osbern – sehr zu Rolands Verdruß, der großen Gefallen am Hofleben fand, vor allem an der Jagd.

Etienne streckte die langen Beine unter dem Tisch aus. »Gott, ich bin erledigt. Furchtbare Schinderei, das Reiten … Was machen unsere Prinzen? Ich wette, Lucien macht ihnen das Leben bitter.«

Cædmon nickte. »Er gibt sich alle Mühe. Und sie machen sich prächtig. Alle beide. Was denkst du, Etienne … Glaubst du, Richard wird der nächste König von England?«

Etienne hob verblüfft den Kopf. »Was für ein seltsamer Gedanke. König William kann nicht viel älter als vierzig sein.«

»Ich meinte ja auch nicht morgen.«

Etienne zuckte kurz mit den Schultern. »Nun, Robert ist der Älteste.«

»Aber er ist noch niemals in England gewesen. Ich frage mich manchmal, ob William vorhat, sein Erbe zu teilen. Die Normandie für Robert, England für Richard.«

»Wer weiß. Es wäre denkbar, und du hast schon recht, es ist eigenartig, daß er Robert nie mit herbringt. Warum beschäftigt diese Sache dich so?«

Cædmon winkte ab und hob seinen Becher. »Ich verbringe den halben Tag mit den Prinzen. Wahrscheinlich denke ich deshalb viel über sie nach.«

»Was macht der kleine Henry?« erkundigte sich Etienne. Königin Matilda hatte kurz nach ihrer Ankunft und Krönung in England letztes Jahr noch einen Sohn geboren. Der erste normannische Prinz, der in England zur Welt gekommen war.

»Er ist gesund und läuft«, wußte Cædmon zu berichten. Und bei dem Gedanken an den kleinen Henry kam ihm die Frage in den Sinn, ob sein eigenes Kind inzwischen vielleicht auch zur Welt gekommen war. Das letzte Mal war er kurz vor Weihnachten zu Hause gewesen, und da hatte sie ihm gesagt, sie sei schwanger. Man konnte es kaum sehen, aber das war immerhin ein halbes Jahr her …

»Cædmon!« Etienne stieß ihn lachend in die Seite. »Bist du taub?« »Entschuldige. Was hast du gesagt?«

Etienne winkte ab. »Nicht so wichtig.« Er sah seinen Freund forschend an. »Irgend etwas bedrückt dich, ich habe es gleich gemerkt. Was ist es?«

Cædmon war erschrocken. »Nichts. Gar nichts.«

»Na schön. Dann bin ich beruhigt. Schick nach der Laute, ja? Spiel etwas für uns.«

Cædmon sandte einen Pagen in sein Quartier, der ihm nach wenigen Minuten den blankgewetzten, nachgedunkelten Lederbeutel mit dem Instrument brachte.

Die Halle hatte sich merklich geleert. William, Matilda, die Prinzen und Prinzessinnen hatten sich früh zurückgezogen, und auch die übrige Gesellschaft löste sich jetzt schnell auf.

Cædmon stand auf und ging an einen Platz näher beim Feuer, damit er ein bißchen Licht hatte. Dann stimmte er leise, den Kopf konzentriert über den birnenförmigen Korpus gebeugt, ehe er anfing zu spielen.

Wie so oft wenn er die Laute zur Hand nahm, überkam ihn eine eigentümlich heftige Sehnsucht nach Wulfnoth. Seit der Eroberung war Cædmon nicht mehr in der Normandie gewesen, trotz seiner eindringlichen Bitten hatte William immer Gründe gefunden, ihn in England zurückzulassen. Darum hatte er Wulfnoth seit beinah drei Jahren nicht mehr gesehen. Er spielte all die schlichten, englischen Weisen, die er zu Anfang von ihm gelernt hatte, und als seine Finger richtig warm waren, stimmte er die komplizierteren, normannischen Lieder an.

Etienne blieb eine Weile bei ihm sitzen und lauschte –; er war seit jeher ein geduldiger Zuhörer gewesen. Aber schließlich stand er auf und machte eine gemächliche Runde, sprach eine Weile mit seiner Frau und ihrem Bruder und ging dann weiter, um andere Freunde zu begrüßen.

Cædmon hatte ganz und gar nichts dagegen, für sich allein zu spielen, er tat es gern und oft. Er hatte eine Gabe, vollkommen in der Musik zu versinken, und das wußte er zu schätzen, denn sie war eine wunderbare Zuflucht vor allen Anfechtungen und Kümmernissen.

Plötzlich sagte sie neben ihm: »Ich kenne dieses Lied! Oh, bitte singt, Cædmon. Es ist so wunderschön.«

Er legte die flache Hand auf die Saiten und brachte sie so zum Verstummen. Dann schüttelte er lächelnd den Kopf. »Besteht nicht darauf, Ihr würdet es bereuen. Ich singe in etwa so schön wie der Rabe in der Fabel.«

»Und anders als der Rabe laßt Ihr Euch auch durch Schmeicheleien nicht zum Singen überreden?« neckte sie.

»Warum singt Ihr nicht?«

Für einen Moment schien sie verblüfft, dann setzte sie sich neben ihn ans Feuer. »Also los. Spielt«, befahl sie ungeduldig.

Ihr Bein berührte seines, leicht wie eine Daunenfeder.

Cædmon schloß die Augen und schlug die ersten Akkorde an.

Es war eine lange normannische Ballade von einem jungen Ritter und einer Königstochter, die durch einen bösen Zauber in Wolf und Taube verwandelt wurden und sich nur zur Dämmerung in Vollmondnächten sehen konnten. Die Geschichte verriet die Wikingerherkunft der Normannen, denn sie entstammte, so wußte Cædmon, einem alten nordischen Märchen. Und wie die meisten nordischen Märchen nahm sie ein böses Ende. Der König, der Vater der Taube, machte Jagd auf den Wolf, der sich schließlich seinen Häschern stellte und starb, um die Taube vom Bann zu erlösen.

Aliesa kannte den ganzen langen Text auswendig. Ihre Stimme war rein und unglaublich klar. Cædmon fühlte sich so verzaubert, daß es ihn nicht gewundert hätte, sich in einen Wolf verwandelt zu finden, wenn er die Augen aufschlug. Aliesa sang leise, und trotzdem verstummten die Gespräche an der Tafel bald, und alle, die noch da waren, lauschten hingerissen.

Als Cædmon die letzte Strophe anstimmte, in welcher der Wolf sich endlich der Ausweglosigkeit ihrer Lage ergab und sich opferte, öffnete er die Augen, hob den Kopf und sah sie an. Es war seine Absicht gewesen zu lächeln, um die Traurigkeit der Geschichte zu lindern, aber als er ihren Blick sah, verlor er die Herrschaft über seine Mimik.

Ihre Augen ruhten auf ihm, wie lange schon, das mochte Gott allein wissen, und so hatte sie ihn noch niemals angesehen.

Sie hatte ihn immer gemocht, das wußte er, aber in diesem Moment, da sie sang und all ihre Gedanken auf das Lied gerichtet hatte, ihn nur ansah, um jede Stimmungsschwankung seines Spiels, jeden Rhythmuswechsel vorherzusehen, war ihr Blick so offen, so unmaskiert wie nie zuvor. Er durchlebte einen Moment vollkommen widersprüchlicher Empfindungen, so daß er fürchtete, es werde ihn in Stücke reißen. Eine Glückseligkeit, die ihn zu überwältigen, ihn fortzureißen drohte wie eine gewaltige Sturmflut, gepaart mit eisigem Entsetzen. Gott, wenn Etienne sieht, was ich sehe, wird es uns alle ins Unglück stürzen … So beiläufig, daß niemand unter ihren Zuhörern es bemerken konnte, stieß er mit seinem Knie an ihres, und sie fuhr leicht zusammen, senkte mit einem unschuldigen, nahezu schelmischen Lächeln die Lider und beendete die Ballade mit solcher Hingabe, solch sanftmütiger Traurigkeit, daß selbst ihr hartgesottener Bruder sich verstohlen die Augen wischte.

Als die letzten Töne verklungen waren, herrschte einen Augenblick Stille, ehe ihr Publikum in begeisterten Beifall ausbrach.

Cædmon und Aliesa tauschten ein Lächeln, dann verneigten sie sich. Etienne stand auf, nahm seine Frau bei der Hand und zog sie zu sich hoch. »Das war wunderbar, Liebste.« Er küßte sie ungeniert auf den Mund und legte liebevoll den Arm um ihre Taille. »Ich wußte, daß du eine schöne Stimme hast, aber mir war nicht bewußt, wie zauberhaft sie sein kann. Du hast uns alle zu Tränen gerührt.«

Sie lächelte, plötzlich wirkte sie scheu und verwirrt. »Ich würde sagen, die Ehre gebührt Cædmon.«

Cædmon winkte ab. »Nein, Etienne hat recht. Ihr habt wunderbar gesungen.« Sein Abwinken erschien ihm matt, seine Stimme schleppend. Alles war eigentümlich entrückt und fremd. Hatte sie ihn wirklich so angesehen? Gerade eben? Kein Traum?

»Ich denke jedenfalls, das ist nicht mehr zu steigern«, urteilte Etienne. »Und weil mir außerdem jeder Knochen weh tut, würde ich gern schlafen gehen. Was denkst du?«

Sie nickte. »Ja, natürlich. Ganz wie du willst, Etienne.« Sie lehnte den Kopf einen Moment an seine Schulter. »Ich bin auch müde. Gute Nacht, allerseits. Bonne nuit, Cædmon.« Sie warf einen kurzen Blick in seine Richtung, der ihn aber nicht ganz erreichte.

Er tat es ihr gleich und lächelte nur vage, ohne wirklich aufzusehen in ihre Richtung. »Bonne nuit

 

Der Mai blieb heiß. Die Straßen von Winchester wurden rissig, und jedes Pferd, jeder Karren wirbelte gewaltige Staubwolken auf. Das Grün der umliegenden Felder und Wälder war noch hell und frühlingshaft, aber schon senkte sich der erste graue Schleier darauf hinab.

Am Tag vor Christi Himmelfahrt saß Cædmon mit seinen beiden Schülern im Schatten einer Buche und erzählte ihnen von den großen Gelehrten und der Blütezeit der Klöster unter König Edgar.

»Innerhalb von nur fünfzehn Jahren wurden über vierzig Abteien gegründet oder wiederbelebt. Zu den neuen Klöstern zählten auch so berühmte und mächtige Häuser wie Ramsey und Ely.«

»Wo dein Bruder ist?« fragte Rufus.

»Stimmt genau. Oswald und Dunstan und Æthelwold und all ihre Schüler, die dem Geist von Cluny folgten, reformierten auch die Klöster, die es schon gab – nicht zuletzt hier in Winchester –, und verbreiteten Frömmigkeit, strenge Klosterregeln und Gelehrsamkeit im ganzen Land.«

»Aber was war mit dem Klerus? Wurden die Priesters auch reformiert?« wollte Richard wissen.

Cædmon zog die Brauen in die Höhe, und der Junge überdachte seinen Satz. »Wie muß es heißen?« fragte er.

»Priester«, antwortete Rufus.

»Aber das ist die Einzahl«, protestierte Richard. »Ein Priester. Zwei Priesters. Oder?«

Cædmon lachte in sich hinein. »Rufus hat recht. Ein Priester, zwei Priester.«

Richard schlug mit der Faust ins Gras. »Aber das ergibt keinen Sinn!« »Nein, ich weiß.«

Richard wedelte die Grammatik als hoffnungsloses Unterfangen beiseite. »Jedenfalls sagt Vater, die englische Kirche sei ein einziger Sauhaufen, ihre Priesters … Priester allesamt ungebildete, gottlose Frevler. Also, Cædmon. Was ist aus der wunderbaren Reform geworden?«

»Ja, das wüßte ich auch zu gern, Cædmon«, sagte eine tiefe Stimme hinter ihnen, und sie sprangen alle drei auf die Füße und verneigten sich tief.

»Sire«, grüßte Cædmon.

William winkte sie zurück auf ihre Plätze und setzte sich zu ihnen ins Gras. »Fahrt fort und belehrt mich über meine unergründlichen englischen Untertanen.«

Cædmon grinste und sagte achselzuckend: »Nun, die Reform blieb auf die Klöster beschränkt. Und nach König Edgars Tod verlor sie an Bedeutung. Neue Däneneinfälle versetzten das Land in Angst und Schrecken, und Schwerter wurden wieder wichtiger als Gelehrsamkeit.«

Wären sie allein gewesen, hätte Richard an dieser Stelle eingewandt, daß doch gewiß die Schwerter in Händen christlicher Streiter im Kampf gegen heidnische Wikinger der Führung der Kirche bedurften. Aber keiner der Jungen sagte etwas. Die Anwesenheit ihres Vaters machte sie befangen.

William schien das nicht zu bemerken. Er nickte Cædmon auffordernd zu, und der junge Angelsachse fuhr mit seinem Geschichtsunterricht fort. In englischer Sprache. Der König lauschte mit konzentriert gerunzelter Stirn. Wie immer war es unmöglich zu sagen, was er verstand. Er sprach nie ein Wort Englisch – er behauptete, er fürchte, sich bei dem Versuch Zunge und Gaumen irreparabel zu verbiegen –, und er ließ sich bei Verhandlungen immer noch jedes Wort übersetzen, das in der einheimischen Sprache gesprochen wurde. Es war nicht immer nur Cædmon, der diesen Dienst versah, inzwischen gab es auch eine Reihe von Mönchen, die beide Sprachen beherrschten und denen der König hinreichend traute. Aber wenn Cædmon für ihn übersetzte, tat er es heute mit größerer Vorsicht denn je. Er war einigermaßen sicher, daß William so gut wie jedes Wort verstand, und Cædmon hatte seine grausige Warnung von Berkhamstead nie vergessen.

Der König schien Cædmons Verdacht zu bestätigen, als er am Ende seines Vortrags sagte: »Aber Ihr könnt nicht leugnen, daß Oswald und Dunstan letztlich gescheitert sind. Der Geist von Cluny hat Edgars Regentschaft hier nicht lange überdauert.«

Cædmon wiegte den Kopf hin und her. »Es ist unterschiedlich«, antwortete er auf normannisch. »In Ely, Ramsey oder Glastonbury lebt er weiter. Ihr selbst sagtet kürzlich, daß die Bücher, die in Ely hergestellt werden, es mühelos mit denen aus Bec aufnehmen können.«

William nickte. »So sagen meine gelehrten Ratgeber, ja. Trotzdem. Ich bleibe dabei, die englische Kirche ist ein Schweinestall, und ihre Reform eins meiner dringendsten Anliegen. Die meisten englischen Priester können weder lesen noch Latein, dafür sind sie sehr bewandert in allen Lastern, die je ersonnen wurden.«

Cædmon räusperte sich. »Sie sind verheiratet, Sire. Das ist alles.«

William fegte den Einwand ungeduldig beiseite. »Schlimm genug! Der Papst hat es verboten, und ich werde dieses Verbot durchsetzen. Und wenn die englischen Priester sich nicht fügen, wird jeder einzelne durch einen normannischen ersetzt!«

Cædmon stellte sich einen der affektierten, aufgeblasenen normannischen Geistlichen in St. Wulfstan in Helmsby vor und in der armseligen, hölzernen Kate, die Vater Cuthbert, seine Familie und sein Vieh beherbergte.

»Ich bin sicher, der normannische Klerus würde sich mit dem üblichen Feuereifer auf diese Aufgabe stürzen«, bemerkte er trocken.

William zeigte sein seltenes Lächeln. »Ja, bestimmt.« Er sah zu seinen Söhnen und machte eine auffordernde Geste. »Verschwindet. Ich möchte einen Moment allein mit Cædmon reden.«

Richard und Rufus sprangen auf, verneigten sich formvollendet vor dem König und ihrem Lehrer und gingen davon.

William schien sie augenblicklich zu vergessen. »Schlechte Nachrichten, Cædmon.«

Cædmons Herz sank. »Die Dänen?«

Der König nickte knapp. »Über zweihundert Schiffe, heißt es. Herrgott, was wollen die Dänen nur immerzu in England?«

Cædmon antwortete nicht.

William hob entrüstet das Kinn. »Ihr wollt nicht im Ernst sagen, der Dänenüberfall sei auch nur irgendwie mit meiner Eroberung Englands vergleichbar?«

»Ich sage überhaupt nichts, Sire.«

»Weil Ihr meint, daß ich Euch nicht hängen kann für das, was Ihr denkt.«

Richtig, dachte Cædmon, aber was er sagte, war: »Ich glaube, darauf möchte ich mich lieber nicht verlassen.«

Der König verzog amüsiert die Lippen, wurde aber gleich wieder ernst. »Sie kommen unter dem Befehl von König Svens Söhnen und seinem Bruder. Ich weiß nicht genau, wann sie kommen, aber sicherlich bald. Reitet nach Hause, bewaffnet Eure Leute und macht Euch bereit, die Küste zu verteidigen.«

Cædmon war verblüfft. »Aber denkt Ihr nicht, sie werden den Humber hinaufsegeln und in Northumbria landen?«

»Wo die Menschen sie willkommen heißen und ihnen jubelnd die Stadttore öffnen werden, meint Ihr, ja? Nun, gut möglich, daß sie das tun werden. Aber vielleicht hoffen sie auch, daß wir genau das annehmen und nach Norden ziehen, und sie fallen in Kent ein, während der Süden entblößt ist. Ich weiß es nicht. Ich will auf alle Fälle vorbereitet sein.«

Cædmon nickte. »Wann wünscht Ihr, daß ich gehe?«

»Morgen.«

 

Er war erleichtert, aus Winchester zu entkommen. An jedem Abend in der Halle, bei jedem Jagdausflug fühlte er sich wie ein Verdurstender, dem man einen Becher Wasser vorhält, ganz nah, aber doch außerhalb seiner Reichweite. Er war inzwischen zu der Überzeugung gelangt, daß er sich alles nur eingebildet hatte, was er am Abend ihrer Ankunft in Aliesas Blick zu sehen geglaubt hatte. Denn obwohl sie jetzt beinah jeden Abend nach dem Essen zusammen musizierten, war es nie wieder passiert. Aliesa setzte sich zu ihm auf die Kaminbank, aber doch ein gutes Stück von ihm entfernt, und wenn sie sang, schaute sie ihn nicht an. Ihr Blick schien vielmehr nach innen gerichtet.

Für Cædmon waren es die glücklichsten Momente des Tages. Er war natürlich niemals allein mit ihr, sie hatten immer eine größere oder kleinere Zuhörerschar, und trotzdem war es etwas, das er nur mit ihr teilte, so als hüteten sie zusammen ein Geheimnis. Er ergab sich all den körperlichen Empfindungen, die ihre Nähe auslöste, malte sich aus, was er ihr alles sagen würde, wenn die Dinge anders stünden, stellte sich vor, wie sie auf seine Eröffnungen reagieren würde, sah jedes einzelne ihrer Gefühle in ihrem wundervollen Gesicht widergespiegelt. Vor seinem geistigen Auge. Wahrhaftig hingegen sah er, wie ihr lilienweißer Hals im flackernden Feuerschein schimmerte, sah ihren herrlichen Mund Worte formen – und weil die meisten Lieder ja doch von nichts anderem handelten, waren es nicht selten Worte der Liebe.

Es war himmlisch, und er trank alles gierig in sich auf und verdurstete trotzdem. Die ersten Anzeichen waren schon erkennbar. Beim Rasieren sah ihn ein bleiches Gespenst mit dunklen Schatten unter den Augen aus dem Spiegel an, die Folge seiner zunehmenden Schlaflosigkeit. Er war rastlos und unausgeglichen, und Etienne hatte bemerkt, er sehe mit jedem Tag blasser aus, und sich besorgt erkundigt, ob Cædmon krank sei.

Ja, Etienne, krank. Unheilbar liebeskrank. Ich liebe deine Frau …

Er hörte die Worte so deutlich in seinem Kopf, daß er einen Augenblick fürchtete, er habe sie vielleicht wirklich laut ausgesprochen. Er war so angespannt, daß er manchmal glaubte, die Kontrolle über sich zu verlieren, als müsse sich irgend etwas Bahn brechen.

Und das war kein Zustand. Vermutlich war es wirklich besser, wenn er den Hof verließ, besser für sie alle. Auch wenn ihm bei der Vorstellung, sie nicht mehr zu sehen, ihre Stimme nicht mehr zu hören, und das vielleicht monatelang, hundeelend wurde.

 

»Haltet die Küste für mich zwischen Yare und Ouse, und es soll Euer Schaden nicht sein, Cædmon«, sagte der König zum Abschied, und Cædmon dachte bei sich, daß es eine Aufgabe war, die ihn und seine Möglichkeiten weit überforderte. Wie sollte er zwei Flüsse und die Küste dazwischen bewachen? Woher sollte er die Männer dafür nehmen? Aber er behielt seine Zweifel für sich. »Das werde ich, Sire.«

Der König entließ ihn mit einem eleganten Wink, und Cædmon verneigte sich und ging hinaus. Er beeilte sich auf dem Weg zu den Stallungen; der Morgen war schon weit fortgeschritten, und er wollte vor dem nächsten Mittag in Helmsby sein.

Vor dem Stall wartete ein Knecht mit Widsith, dem gewaltigen, normannischen Schlachtroß, das der König Cædmon nach der Niederschlagung der Rebellion in Lincoln geschenkt hatte. Am gleichen Tag hatte er ihn zum Ritter geschlagen. Nichtsdestotrotz hatte Cædmon seinem normannischen Pferd an diesem Tag normannischer Ehrungen einen angelsächsischen Namen gegeben. Es war ein junger, sehr kostbarer Hengst, ausdauernd und perfekt geschult, und Cædmon liebte ihn sehr.

»Danke, Odric.« Er nahm die Zügel in die Linke und wollte aufsitzen, als Richard, Rufus, Etienne und Aliesa in den kleinen Hof vor dem Stall traten.

»Da haben wir dich so gerade noch erwischt«, bemerkte Etienne lächelnd. »Glückliche Reise, Cædmon.«

Cædmon nahm den Fuß aus dem Steigbügel und trat zu ihnen. »Danke.« Er lächelte auf seine beiden Zöglinge hinab. »Vergeßt nicht alles, was ich euch beigebracht habe«, sagte er auf englisch.

Sie schüttelten die Köpfe. »Rufus hat sich in den Kopf gesetzt, mir in Englisch zu unterrichten, solange du fort bist«, berichtete Richard voller Empörung.

Cædmon legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. »Ich glaube, das könnte nicht schaden.«

»Ich werde mir seinem Unterricht anschließen«, sagte Aliesa zwinkernd. »Ich glaube, ein paar Stunden englischer Grammatik könnten mich auch nicht schaden.«

Cædmon starrte sie entgeistert an. »Aliesa … Ich wußte nicht, daß Ihr Englisch lernt.«

Etienne lächelte stolz. »Sie ist schon richtig gut, oder was meinst du? Sie hat sich Bücher in eurer Sprache besorgt, stell dir das vor.«

Er hört sich an, als lobe er die Klugheit seines Falken, dachte Cædmon gehässig, aber ehe er auf eine höfliche Antwort sinnen konnte, sagte Aliesa seufzend: »Ich fürchte nur, mein Akzent ist schrecklich.«

Das ist er in der Tat, dachte er, unterdrückte ein Grinsen und versicherte inbrünstig: »Aber ganz und gar nicht. Haltet Euch nur an Rufus, wenn Ihr unsicher seid, er ist ein Genie in Grammatik.«

»Das werde ich. Bis Ihr wiederkommt. Lebt wohl, Cædmon. Möget Ihr auf Eurem Weg Freunde finden, die Führung der Engel und das Geleit der Heiligen. Sagt man in England nicht so?«

Er nickte verblüfft. »So sagt man. Danke, Aliesa.« Er verneigte sich tief und saß auf.

Das zweite Königreich
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