Helmsby, Mai 1069
»Willkommen daheim, Thane. Wir hatten keine Nachricht, daß du kommst.«
Cædmon zügelte Widsith unter dem hohen Tor in den Palisaden und betrachtete seine Burg voller Stolz.
Der Palisadenzaun mit den unüberwindlichen Spitzen umgab den Burghof, der die Viehställe, Wirtschaftsgebäude und die kleinen Lehmhütten für das Gesinde beherbergte. In der westlichen Hälfte dieses Innenhofs war ein Hügel aufgeschüttet worden, der hauptsächlich aus der Erde bestand, die beim Aushub des breiten, tiefen Grabens angefallen war, der ihn umgab. Der Graben, über den eine Zugbrücke zum Tor führte, war bewässert. In East Anglia konnte man einfach kein Loch schaufeln, ohne daß es sich innerhalb kürzester Zeit mit Wasser füllte. Ein zweiter, nicht ganz so hoher Palisadenzaun schützte den Erdwall.
Diesen Erdwall – den die Normannen aus unerfindlichen Gründen »Motte« nannten – krönte der dreigeschossige, hölzerne Burgturm. Es war keine große, aber eine solide Burg, und sollten die Dänen wirklich hier einfallen und Cædmon nicht in der Lage sein, sie zurückzuschlagen, wären er und die Seinen hier zumindest in Sicherheit.
Der Bau der Burg war eine gewaltige Anstrengung gewesen. Cædmon hatte ihn begonnen, sobald der König ihm die Erlaubnis erteilte, aber er hatte über ein Jahr gebraucht, sie war erst diesen Frühling fertig geworden. Das Vorhaben hatte die gesamten Rücklagen des Gutes aufgezehrt, obwohl William ihn wegen der strategisch wichtigen Lage der Burg zwischen Yare und Ouse finanziell unterstützt und ihm einen erfahrenen Baumeister zur Seite gestellt hatte, der schon ein gutes Dutzend Burgen gebaut hatte. Sie waren auf alle nur denkbaren Schwierigkeiten gestoßen: Der Boden war so weich, daß sie viel mehr Eichenpfähle als Fundament hatten einbringen müssen als ursprünglich erwartet, die dienstpflichtigen Bauern aus Helmsby und der Umgebung zeigten sich anfangs unwillig, am Bau mitzuwirken, und Cædmon hatte härter durchgreifen müssen, als ihm lieb war, um sie umzustimmen. Seine Mutter nannte das ganze Vorhaben größenwahnsinnig und hatte keinen Finger gerührt, um es voranzubringen. Aber Cædmon hatte vollkommen unerwartete Unterstützung gefunden.
Er saß ab und schloß seinen Vetter in die Arme. »Alfred! Seit wann hält der Steward von Helmsby Torwache?«
Wulfric, der alte Steward, war im ersten Winter nach der Eroberung an den Folgen seiner Kopfverletzung von Hastings gestorben. Ungefähr zur gleichen Zeit war der trunksüchtige Onkel Athelstan mit seinem Sohn Alfred in Helmsby gestrandet. Jetzt, da es keinen angelsächsischen Hof mehr gab, war er obdachlos geworden, hatte sich auf seine Wurzeln besonnen und war heimgekehrt. Cædmon hatte ihn mit mehr Herzlichkeit willkommen geheißen, als Ælfric es vielleicht getan hätte, denn er hatte seinen verrückten, leichtsinnigen, trinkfreudigen Onkel immer gern gemocht. Und dessen Sohn Alfred hatte sich als große Bereicherung und verläßlicher Verbündeter bei der Einführung neuer Ideen erwiesen. Alfred hatte genau wie Dunstan treu zu Harold Godwinson gestanden und bei Hastings entschlossen für seinen König gekämpft. Aber Alfred war jung und anpassungsfähig. Er hatte sich mühelos auf die geänderten Verhältnisse eingestellt, er bewunderte die überlegene Kriegskunst der Normannen und war seinem neuen König ebenso ergeben wie dessen Vorgänger. Genau wie Cædmon trug er keinen Bart und kleidete sich nach normannischer Sitte, und er konnte nie genug bekommen, wenn Cædmon vom Hof, vom König, dem höfischen Treiben und den Prinzen erzählte. Cædmon hatte nicht lange gezögert, Alfred zum Steward zu machen und ihm die Verantwortung für Burg und Ländereien zu übertragen, wann immer er selbst fort mußte. Auch diese Entscheidung hatte er gegen den Widerstand seiner Mutter durchgesetzt, aber er hatte sie noch keinen Tag bereut.
Alfred klopfte ihm kräftig die Schulter und nahm Widsith am Zügel. »Ich halte nicht Wache, aber ich hatte so ein komisches Gefühl, als käme Besuch. Und weil ich, wie du weißt, unheilbar neugierig bin, hab ich mich am Tor rumgedrückt, um zu sehen, wer es ist. Ich hätte allerdings nicht damit gerechnet, daß der Burgherr höchstpersönlich heimkommt.«
Diese Bezeichnung war Cædmon noch reichlich fremd. »Wie geht es allen? Was macht dein Vater?«
Alfred seufzte. »Träumt von längst vergangenen Tagen, wie immer. Ansonsten sind alle wohlauf, außer Eadwig. Er hatte ein Fieber, ist furchtbar schwach und dünn, und deine Mutter erlaubt nicht, daß ich ihn mit auf die Felder hinausnehme, damit er reitet und wieder zu Kräften kommt.«
»Und Gytha?«
Alfred grinste von Ohr zu Ohr. »Ein Junge, Cædmon. Ein prächtiger Kerl.«
»Ist das dein Ernst? Wann?«
»Vor drei Tagen.«
Ein Sohn, dachte Cædmon ungläubig. Ich habe einen Sohn. Er hörte die Worte in seinem Kopf, aber er konnte es nicht so recht glauben.
Er beschleunigte seine Schritte. »Alfred, tust du mir einen Gefallen? Bringst du Widsith in den Stall?«
»Natürlich.«
Cædmon wandte sich eilig ab, rannte über den Hof und erstürmte seine Burg. Zehn Stufen führten zum Eingang hinauf, so daß man durch die Tür direkt in die geräumige Haupthalle über den im Erdgeschoß befindlichen Vorratskammern kam. Wie immer war hier Betrieb: Die Männer der Frühwache, die vor einer Stunde abgelöst worden waren, saßen an einem Ende des langen Tisches bei einem späten Frühstück, die Köchin und ihre Gehilfinnen ein Stück weiter oben und putzten Kohlköpfe, und Onkel Athelstan saß wie üblich mit einem Becher Met nahe am Feuer und starrte trübsinnig in die Flammen.
Cædmon hielt pflichtschuldig bei ihm an. »Ich hoffe, du bist wohl, Onkel?«
Athelstan hob den Kopf, und sein Gesicht hellte sich auf. Da er Ælfrics jüngerer Bruder war, konnte er kaum über Vierzig sein, aber er hatte das Gesicht eines alten Mannes. Seine Nase war mit einem feinen Netz roter Äderchen überzogen, die seine größte Schwäche verrieten, und seine Augen schienen trüb, doch das täuschte. Onkel Athelstan, so wußte Cædmon, sah immer noch mehr als die meisten anderen Leute. »Cædmon! Willkommen daheim. Ich hoffe, du bleibst ein Weilchen. Deine Mutter führt hier ein striktes Regiment in deiner Abwesenheit, weißt du, man kommt sich vor wie im Kloster.«
Cædmon grinste. »Ich nehme an, das heißt, sie rationiert Met und Bier?«
»Und den Cider auch, das einzig Segensreiche, was uns die Normannen beschert haben.«
»Cidre.«
»Sag ich doch, Cider.«
Athelstan hob den schlichten Holzbecher an die Lippen. Seine leicht schleppende Stimme verriet Cædmon, daß er betrunkener war als zu dieser frühen Stunde üblich, aber die große, arbeitsscheue Hand war ruhig und sicher.
»Ich schätze, du weißt, daß du einen kleinen, plärrenden Bastard hast?« erkundigte Athelstan sich, als er den Becher absetzte.
»Alfred hat’s mir erzählt. Wo ist er?«
Sein Onkel hob langsam die breiten Schultern, strich sich die grauen Locken aus der Stirn und sah Cædmon mit seinen blauen Augen an, die zwar meist blutunterlaufen waren, ihn aber trotzdem immer so lebhaft an seinen Vater erinnerten.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Athelstan. »Wenn ich du wäre, würde ich in der Molkerei nach seiner Mutter suchen.«
Cædmon machte kehrt, verließ die Halle und eilte zu dem hölzernen Gebäude an der Ostseite des Hofs, wo aus der Milch der gutseigenen Kühe Butter, Quark und Käse hergestellt wurden. Wie immer verzog er leicht angewidert das Gesicht, als ihm beim Eintreten der aufdringliche Geruch saurer Milch entgegenschlug.
Zwei junge Frauen waren bei der Arbeit, die eine stampfte Butter, die andere füllte frische Milch aus einem ledernen Eimer in Holzbottiche um.
Gytha saß auf einem Schemel neben der Tür, hatte ihren Kittel über die linke Brust herabgezogen und ihr Kind angelegt. Als Cædmons Schatten über die Schwelle fiel, huschten die beiden anderen Mägde lautlos in den angrenzenden Vorratsraum.
Cædmon beugte sich über Gytha und küßte sie auf die Stirn.
»Da bist du also«, war alles, was sie sagte.
»Da bin ich.«
Er sah auf das Kind hinab. Es war ein winziges häßliches Ding mit einem feuerroten Kopf. Die Augen waren zugekniffen, und es saugte gierig an der Brust seiner Mutter.
Cædmon streckte unsicher die Hand aus, zögerte einen Augenblick und strich dann mit einem Finger über die klitzekleine Wange.
»Er ist so … winzig.«
»Er wächst«, prophezeite sie lächelnd.
Cædmon hockte sich vor sie, legte beide Hände auf ihr Gesicht und küßte sie auf den Mund. Sie roch immer noch nach Rauch und Milch. Er ließ sich neben ihr auf dem strohbedeckten Boden nieder, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und betrachtete seinen Sohn und dessen Mutter.
Gytha hatte den Kopf gesenkt, und erst als sie sich die Haare hinters Ohr strich, konnte er ihr Gesicht wieder sehen. Wie üblich zeigte es keine Regung.
Er mochte Gytha sehr gern. Sie war ein einfaches Bauernmädchen ohne alle Manieren, aber sie war zu still und scheu, um je vulgär zu sein. Außerdem war sie die erste Frau, die er je gehabt hatte, und er war ihr immer noch dankbar. Ihre stumme, eindringliche Zärtlichkeit konnte ihn nach wie vor rühren. Wenn er an zu Hause dachte, war es ein gutes Gefühl zu wissen, daß sie dort war.
»Cædmon, er ist noch zu klein, um dir ähnlich zu sein, aber er ist dein Sohn, glaub mir.« Es war ein hastig hervorgestoßener Wortschwall, der ihm verriet, welche Mühe es sie gekostet hatte, ihn herauszubringen.
Er runzelte verwundert die Stirn. »Ich wäre im Traum nicht darauf gekommen, daran zu zweifeln. Wieso sagst du das?«
Sie schüttelte kurz den Kopf.
Er nahm ihre Hand. Sie war klein und schmal, aber schwielig.
»Wie wollen wir ihn nennen, hm? Was denkst du?«
»Ich dachte, das solltest du entscheiden«, antwortete sie.
»Also gut. Was hältst du von Ælfric?«
Ihr Kopf fuhr hoch. »Nach deinem Vater?« fragte sie ungläubig.
Er lächelte. »Warum nicht?«
»Aber …« Sie brach ab und senkte den Kopf, ließ die langen, flachsblonden Haare absichtlich wieder vor ihr Gesicht gleiten.
Er strich sie beiseite. »Aber was?«
»Denkst du nicht, du solltest den Namen deinem Erben vorbehalten? Dem Sohn, den deine Frau dir eines Tages schenkt?«
Er schnitt eine Grimasse. »Diese Frau gälte es erst einmal zu finden.« Und außerdem, erkannte er unter leisen Gewissensbissen, sollte ich je heiraten und einen Erben haben, wird er wohl eher einen normannischen Namen bekommen. »Hast du Einwände gegen Ælfric?«
Sie lachte leise. »Einwände? Nein.«
»Dann soll es so sein.« Er stand auf und streckte ihr die Hand entgegen. »Komm, laß uns in die Halle hinübergehen. Ich bin staubig und durstig.«
Gytha rührte sich nicht. Ihre hellblauen Augen waren groß und unruhig.
»Was ist?« fragte er ungeduldig. »Komm schon.«
»Deine Mutter hat es verboten. Sie will mich nicht mehr in der Halle sehen, hat sie gesagt.«
»Ah ja?« Er hob das Kinn, vermied es aber, irgendeine Regung zu zeigen. »Komm mit, Gytha«, wiederholte er, und sie erhob sich, ohne zu zögern, und streckte ihm das Kind entgegen. »Halt ihn einen Moment.«
Cædmon nahm seinen Sohn unsicher in seine beiden großen Hände. Gytha schnürte ihren Kittel zu und lachte über seine Ungeschicklichkeit. »Hier, so mußt du ihn halten.« Sie stellte sich neben ihn und legte ihm sein Kind in die Arme.
Cædmon mußte sich immer einschärfen, daß er keinen Grund hatte, sich vor seiner Mutter zu fürchten, damit es nicht passierte. Bevor er an ihre Tür klopfte, rief er sich ins Gedächtnis, daß er neunzehn Jahre alt und ein Ritter des Königs und Thane of Helmsby war, und wappnete sich für die eisige Feindseligkeit, die ihm entgegenschlagen würde.
Ohne eine Aufforderung abzuwarten, zog er den Riegel zurück und trat ein.
Marie de Falaise sah von ihrem Stickrahmen auf und blickte ihm unbewegt entgegen.
Cædmon verneigte sich. »Ma mère.«
»Willkommen daheim, Cædmon.« Sie lächelte nicht.
»Danke.«
Jedesmal, wenn er sie wiedersah, schien sie ihm verhärmter als beim Mal zuvor. Sie trug zu jeder Jahreszeit dunkle Kleidung, so daß man sie für eine Nonne hätte halten können. Das früher so frische Gesicht, dessen Ausdruck immer so schnell wechselte wie das Wetter im April, das der Spiegel ihres heftigen Temperaments gewesen war, war unnatürlich unbewegt und pergamentbleich geworden. Tiefe Furchen verliefen von ihren abwärts gezogenen Mundwinkeln zum Kinn hinab. Er wußte, warum. Er konnte sie sogar verstehen. Sie hatte ihren Mann mehr geliebt als jedes ihrer Kinder. Dunstans Verlust allein hätte sie überwinden können, aber Ælfrics Tod hatte sie bitter und unversöhnlich gemacht. Sie kam einfach nicht darüber hinweg. Er hatte ihr alle Zuversicht und Lebensfreude geraubt. Und Cædmon bedauerte sie aus tiefstem Herzen. Aber er hatte schon vor langer Zeit aufgehört, sich mit ihrem Unglück erpressen zu lassen.
Er trat lächelnd näher. »Wie geht es Eadwig?«
»Er erholt sich langsam.« Sie zuckte ungeduldig mit den Schultern. »Er war immer das kränklichste meiner Kinder.«
Cædmon war verblüfft. Er konnte sich nicht erinnern, daß Eadwig früher je kränklich gewesen war, aber er ging nicht darauf ein. »Und wie geht es dir, Mutter? Wie gefällt dir dein neues Heim?«
Sie schürzte verächtlich die Lippen. »Das fragst du? Nachdem du mich gezwungen hast, die alte Halle, mein Heim aufzugeben?«
Er trat mit verschränkten Armen ans Fenster. Jetzt da die warme Jahreszeit angebrochen war, war die Pergamentbespannung entfernt worden, und wenn die Läden geöffnet waren, hatte man einen herrlichen Blick über den Wald und den Ouse. Aus den wenigen Fenstern der ebenerdigen alten Halle hatte man nie etwas anderes gesehen als den schlammigen Innenhof und die dräuende Hecke.
»Die Zeiten ändern sich. Ich bedaure, wenn du dich nicht heimisch fühlst. Aber es war der Wunsch des Königs, daß wir diese Burg bauen.« »Die Zeiten ändern sich«, stimmte sie kühl zu.
Cædmon atmete tief durch und wandte sich ihr wieder zu. »Mutter, ein neuer Däneneinfall steht bevor. Deswegen hat der König mich heimgeschickt. Möglich, daß sie gleich den Humber hinaufsegeln, aber ebensogut kann es passieren, daß sie über unsere Küste herfallen. Wir sollten auf alles vorbereitet sein.«
Sie nahm ihre Nadel wieder auf. »Was sollte es mich kümmern, wo die Dänen landen?«
»Es könnte bedeuten, daß wir Verwundete haben, die versorgt werden müssen. Haben wir Kräutervorräte, um Brüche und Fleischwunden und Wundbrand und Fieber zu behandeln?«
Sie nickte. »Darauf bin ich immer gerüstet.«
»Gut.« Er zögerte einen Moment, wählte seine Worte mit Bedacht. »Weißt du, daß du einen Enkel bekommen hast?«
Sie hielt den Kopf tief über ihren Stickrahmen gebeugt. »Ich weiß nur, daß eine der Melkerinnen einen Bastard geboren hat.«
»Nun, es ist mein Bastard.«
»Ich frage mich, wie du so sicher sein kannst. Und wenn es so ist, solltest du dich schämen.«
»Er ist meiner, und ich schäme mich nicht. Und ich bitte dich eindringlich, Gytha nicht mehr aus der Halle zu weisen und ihr das Leben schwerzumachen. Ich habe keinen Anlaß, an ihrem Wort zu zweifeln.« »Nein. Weil du leichtgläubig und einfältig bist. Frag deinen Cousin Alfred, auf den du so große Stücke hältst, ob er sich nicht auch brüstet, der Vater von Gythas Balg zu sein.«
Cædmon sah verständnislos auf sie hinab. Wie treffsicher sie ihr Gift einzusetzen weiß, dachte er, für einen Moment hatte er einen eifersüchtigen Stich verspürt. Aber er wußte, sie sagte es nur, weil sie Alfreds und Athelstans Anwesenheit in Helmsby nicht billigte, weil sie Cædmons Vertrauen in Alfred für unangebracht hielt. Und weil sie wußte, daß diese Mutmaßung Cædmon härter treffen würde als jede andere. Er verneigte sich sparsam. »Ich glaube, ich habe meine Wünsche deutlich zum Ausdruck gebracht. Gytha steht es frei, sich in der Halle aufzuhalten, auch wenn ich nicht hier bin.«
Maries Lippen verzogen sich verächtlich. »Mir würde im Traum nicht einfallen, deine Wünsche zu mißachten, Cædmon.«
»Das weiß ich zu schätzen.« Er ging hinaus, blieb einen Moment vor der Tür stehen und atmete tief durch, ehe er sich auf die Suche nach seinem Bruder machte.
Er fand Eadwig, wie Alfred gesagt hatte: weitgehend genesen, aber bleich und apathisch. Tatsächlich erkannte er sich selbst in seinem Bruder wieder. Cædmon war nur wenig älter gewesen als Eadwig jetzt, als Erik ihn angeschossen hatte, und er hatte das gleiche getan wie sein Bruder: Er hatte sich gehenlassen, war schwermütig und teilnahmslos geworden und … faul.
Also tat Cædmon mit Eadwig das, was Jehan de Bellême mit ihm selbst gemacht hatte, wenn auch nicht in ganz so drastischer Weise. Gegen den ausdrücklichen Protest seiner Mutter nahm Cædmon den Jungen jeden Tag mit hinaus, wenn er über die Felder ritt oder in die Dörfer, um vor dem eventuell drohenden Däneneinfall zu warnen und die jungen Burschen in seinen Dienst zu nehmen. Anfangs ermüdete Eadwig schnell und jammerte ständig, und Cædmon wünschte mehr als einmal, er hätte seinen kleinen Bruder in dessen abgedunkelter Kammer vor sich hinsiechen lassen. Aber es waren nur die Folgen eines Fiebers, die Eadwig zu überwinden hatte, keine schwere Verwundung. Nach wenigen Tagen lebte er auf, seine Augen bekamen wieder Glanz, und er zeigte ein zunehmendes Interesse an allem, was er sah und hörte. »Mir war nie klar, wieviel Land uns gehört, Cædmon. Ich meine mich zu erinnern, daß Vater abends immer heimkam, ganz gleich, wo er den Tag verbracht hatte. Aber wir sind jetzt schon zwei Tage unterwegs, und du sagst, wir haben noch nicht alle Dörfer besucht.«
Cædmon nickte. Ihm unterstand ein wesentlich größeres Gebiet als seinem Vater vor ihm. »Ich nehme an, du weißt, daß zwei unserer Nachbarn bei Hastings gefallen sind?«
Eadwig nickte. »Onkel Ulf of Blackmore und Gorm of Edgecomb, der früher Sheriff war.«
»So ist es. Der König hat ihr Land kurzerhand mit Helmsby und Metcombe zusammengefaßt und mir diesen ansehnlichen Brocken von Norfolk als Lehen gegeben.«
»Als was?«
»Als Lehen. Das ist etwas typisch Normannisches, Eadwig: schlau ausgedacht, aber unnötig kompliziert.«
»Also. Grundsätzlich gehört alles Land der Krone. Aber der König ›verleiht‹ es an seine Lords und seine Witan.«
»›Lehen‹ kommt von ›leihen‹?«
»Richtig.«
»Also gehört dir Helmsby eigentlich gar nicht mehr?«
»Doch. Das mit dem Leihen ist reine Formsache. Es gehört mir, es geht an meine Erben über, mir allein stehen die Pachteinnahmen zu. Dafür schulde ich dem König Soldaten zur Verteidigung Englands oder auch der Normandie. Je mehr Land ich besitze, um so mehr Soldaten schulde ich ihm. Aber je mehr Land ich besitze, um so reicher bin ich auch. Darum sind die normannischen Adligen ganz versessen auf Ländereien in England.«
Eadwig atmete tief durch. »Nur gut, daß du so klug warst, dich auf die Seite des Königs zu stellen. Sonst wären wir Bettler wie Onkel Athelstan oder Onkel Ulfs Witwe.«
Cædmon wiegte den Kopf hin und her. »Wir werden noch sehen, ob ich so klug war. Jedenfalls bin ich jetzt ein Vasall des Königs.«
»Vasall?«
»So heißen die Männer, die ein Lehen halten. Und sollte es mir gelingen, irgendwann soviel Land anzuhäufen, daß ich es allein nicht mehr verwalten und selbst nicht mehr genug Soldaten stellen kann, um meine Seite des Abkommens zu erfüllen, steht es mir frei, meinerseits einen Teil meines Landes als Lehen zu vergeben. An dich, zum Beispiel. Du wärst dann ein Aftervasall.«
Eadwig prustete. »Vielen Dank, ich verzichte. Was für ein Wort!«
Cædmon grinste ihn an, hob die Hand und wies nach Süden. »Siehst du die Rauchfahnen? Das muß Blackmore sein. Es ist nicht mehr weit.« »Gott sei Dank. Mir tun alle Knochen weh. Ich hätte nichts gegen ein kühles Bier und ein weiches Bett.« Er trabte neben Cædmon an und kicherte vor sich hin. »Aftervasall, also wirklich …«
Sie verbrachten die Nacht in Blackmore, der südlichsten Ortschaft seines Lehens, und Cædmon suchte seine Tante Edith auf und lud sie zum wiederholten Male ein, mit ihren Kindern nach Helmsby zu kommen und dort zu leben. Sie lehnte zum wiederholten Male ab. Sie blieb höflich und verbindlich, aber Cædmon und Eadwig verstanden durchaus, daß sie lieber in einer ärmlichen Bauernkate in Blackmore ein kärgliches Dasein fristen wollte, als mit dem normannisch gesinnten Thane of Helmsby und seiner normannischen Mutter unter einem Dach zu leben.
»Aber dein Geld hat sie angenommen«, bemerkte Eadwig bissig, als sie sich auf den Rückweg machten.
Cædmon hob seufzend die Schultern. »Du darfst ihr nicht böse sein, Eadwig. Onkel Ulf und zwei ihrer Söhne sind bei Hastings gefallen, und der König hat ihnen ihr Land genommen und es statt dessen mir gegeben. Es ist kein Wunder, daß sie die Normannen verabscheut. Und uns.«
Eadwig dachte darüber nach. Mit halbgeschlossenen Lidern sah er über die grünen Felder hinweg, seine langen Wimpern warfen kleine, halbmondförmige Schatten auf die Wangen, und mit einer ruckartigen Kopfbewegung warf er die langen Engelslocken über die Schulter zurück. »Schämst du dich, daß du ihr Land bekommen hast?«
Cædmon sah ihn überrascht an, nickte aber wahrheitsgemäß. »Ja.« »Aber du hättest es doch nicht ablehnen können. Der König wäre dir sicher böse gewesen.«
»Todsicher.«
Eadwig dachte immer noch nach und fragte dann schließlich: »Könntest du es ihr nicht zurückgeben? Oder ihrem Sohn. Könnte er nicht dein … du weißt schon … Aftervasall werden?«
»Ja, wenn sie klug genug wäre, ihre Stellung zu wahren und ihre verbliebenen zwei Söhne für so eine Aufgabe zu erziehen. Doch jetzt wachsen sie auf wie Bauern, darum wird daraus nichts werden, fürchte ich.« Aber sein Gewissen plagte ihn dennoch.
In einem weiten nordwestlichen Bogen ritten sie zurück zum Ufer des Ouse und kamen so schließlich nach Metcombe. Sie folgten der abschüssigen Gasse, die zwischen den neuen, recht großzügigen Katen hindurchführte, und hielten auf der Wiese vor der Mühle.
Der Müller kam zum Vorschein, als er den Hufschlag hörte, und Cædmon saß ab und streckte ihm die Hand entgegen. »Hengest.«
Der Mann betrachtete ihn wortlos, ließ den Blick über sein bartloses Gesicht und die normannischen Kleider gleiten, und seine Miene zeigte Ablehnung. Dann sah er ihm wieder in die Augen, Erkennen dämmerte, und er schlug lächelnd ein.
»Thane! Seid uns willkommen. Ihr müßt mir verzeihen, ich habe Euch viele Jahre nicht gesehen.«
Cædmon winkte ab und wies dann auf Eadwig. »Mein jüngster Bruder. Eadwig, das ist Hengest der Müller.«
Eadwig saß ab und gab dem Müller höflich die Hand.
»Wie geht es den Leuten von Metcombe?« fragte Cædmon, nachdem er der Einladung gefolgt war und sich auf der Bank vor der Tür zur Mühle niedergelassen hatte.
Hengest brachte drei hölzerne Becher mit gutem, dunklem Bier aus der Mühle und setzte sich zwischen sie.
»Seht euch um. Wir haben unsere Häuser wieder aufgebaut, wir hatten seit der Eroberung jedes Jahr eine reiche Ernte, Euer Vetter Alfred ist ein fairer Steward, der niemanden übers Ohr haut, und außerdem ist Frühling. Uns geht es prächtig, Thane. Dank Eurem Vater. Er und Berit hatten recht, ich hatte unrecht. Es war eine gute Entscheidung.«
Cædmon trank von dem würzigen Bier und nickte zufrieden. »Was macht die alte Berit?«
Hengest hob lächelnd die Schultern. »Im Winter hat sie ihren letzten Zahn verloren, aber ansonsten ist sie ganz die Alte. Sie wird uns alle überleben. Wollt Ihr zum Essen bleiben?«
Cædmon lehnte dankend ab. »Ich will vor Einbruch der Dämmerung wieder in Helmsby sein. Ich war über ein halbes Jahr lang nicht zu Hause und habe viel Arbeit nachzuholen.«
Der Müller betrachtete ihn versonnen. »Viel Verantwortung für einen jungen Kerl wie Euch. So viel Land, so viele Dörfer. Und Eure Mutter ist Euch keine große Hilfe, heißt es.«
Cædmon unterdrückte im letzten Moment eine barsche Zurechtweisung. Der Müller von Metcombe war ein angesehener Mann und sagte seine Meinung ohne Scheu. Er begegnete Cædmon mit Respekt, aber nicht unterwürfig, denn dazu sah er keinen Anlaß. Es war typisch normannische Denkweise, ihn anmaßend zu finden, erkannte Cædmon, und er verbarg sein Befremden hinter einem kleinen Lächeln und wechselte das Thema.
»Was ist aus den vier Dänen geworden, die mein Vater euch damals geschickt hat?«
Hengest seufzte leise und leerte seinen Becher. »Einer ist vor Heimweh eingegangen, einer an einer Pilzvergiftung, der dritte ist uns davongelaufen, und der vierte hat meine Schwester geheiratet.«
Cædmon zog die Brauen hoch und nickte dann. »Na ja. Warum sollte es dir besser gehen als mir …«
Hengest lachte leise, stützte die Hände auf die Oberschenkel und sah von einem Bruder zum anderen. »Es ist sehr gut von Euch, herzukommen und nach uns zu sehen, aber ich bin sicher, das war nicht der einzige Grund Eures Besuches. Braucht Ihr Arbeitskräfte für Eure Burg? Nun, viel kann ich Euch nicht versprechen, aber wir werden tun, was wir können.«
Cædmon schüttelte den Kopf. »Die Burg ist fertig, Gott sei Dank. Nein, es geht um etwas anderes, Hengest: Es ist möglich, daß wir diesen Sommer Besuch bekommen.«
Alle Fröhlichkeit wich aus Hengests Miene. »Dänen?«
»Dänen.«
Der Müller bekreuzigte sich. »Heiliger Oswald, steh uns bei.«
Cædmon erhob sich rastlos und stellte sich mit verschränkten Armen vor die Bank. »Sein Beistand kann sicher nicht schaden, aber wir sollten uns nicht darauf verlassen. Sehen wir den Dingen ins Auge, Metcombe ist besonders verwundbar, weil es direkt am Fluß liegt. Aber gerade Metcombes Sicherheit liegt mir am Herzen.«
Der Müller hob mutlos die Schultern. »Was können wir schon tun? Wenn sie kommen, dann kommen sie.«
Cædmon fegte diese Bemerkung ungeduldig beiseite. »Wir können allerhand tun. Schickt mir jeden jungen Mann, den ihr hier entbehren könnt, nach Helmsby, und ich werde sie im Kampf ausbilden, so gut es geht, und ihnen an Waffen zur Verfügung stellen, was ich kann. Von jetzt an solltet ihr jeden anderen sonntäglichen Zeitvertreib einstellen und euch nur noch im Bogenschießen üben. Mit Pfeil und Bogen waren die Dänen seit jeher am ehesten verwundbar. Wenn ihr entschlossen genug seid, könnt ihr etwas ausrichten.«
»Aber Thane«, wandte der Müller ein. »Die Leute hier sind einfache Bauern. Wie sollen sie …«
»Ich bin sicher, viele haben für König Harold bei Stamford Bridge oder Hastings gekämpft und allerhand gelernt. Aber sei unbesorgt, ich will euch nicht eurem Schicksal überlassen. Wir werden noch mehr tun: Ich schicke euch ein Pferd nach Metcombe. Ein gutes Pferd, ihr müßt es gewissenhaft versorgen und lernen, es zu reiten. Bringt es in einem Stall am Dorfrand unter. Und wenn ihr ein Drachenschiff den Ouse hinaufkommen seht, schickt mir einen Boten mit diesem Pferd, und ich werde mit meinen Männern herkommen, so schnell ich kann. Plant alles genau und probt den Ernstfall. Laßt euch nicht wieder aus heiterem Himmel überraschen.«
Hengest betrachtete ihn verwundert und schüttelte dann langsam den Kopf. »Nein, Thane. Wir werden tun, was Ihr sagt.«
Er brachte sie zu ihren Pferden zurück, hielt Cædmon höflich den Steigbügel, während dieser aufsaß, und sah mit einem kleinen, staunenden Lächeln zu ihm auf. »Wenn ich denke, was für ein blasses, mageres, hinkendes Bürschchen Ihr damals wart, Thane. Und heute … Nicht zu glauben.«
Cædmon rieb sich verlegen das Kinn an der Schulter. »Was immer ich heute bin, haben die Normannen aus mir gemacht, Hengest.«
Der Müller nickte ernst. »Ja. Und darum ist es kein Wunder, daß Ihr so große Stücke auf das verdammte Pack haltet.«