1. BUCH
Dann erschien in ganz England ein Zeichen am Himmel, wie man es nie zuvor gesehen hatte. Manche sagten, es sei der Stern Comet, den man den »langhaarigen« Stern nennt, und er leuchtete eine ganze Woche lang Nacht für Nacht.
Angelsachsenchronik, 1066
Helmsby, März 1064
»Bei Gott, was für ein Treffer, Cædmon! Wer so mit einer Schleuder umgehen kann wie du, kann seinen Bogen getrost verfeuern.« Dunstan klopfte seinem jüngeren Bruder so kräftig auf den Rücken, daß dieser sich unauffällig mit der Linken auf den Sattelknauf stützte.
Cædmon strahlte, glitt aus dem Sattel und lief die fünfzig oder sechzig Schritte, die ihn von seiner erlegten Beute trennten. Es war ein einjähriger Rehbock. Er lag reglos auf der Seite, auch die Vorderläufe zuckten nicht mehr. Sein braunes Auge starrte in den weißgrauen Himmel hinauf, der noch weitaus mehr nach Winter denn nach Frühling aussah. Auch der Waldboden unter Cædmons dünnen, knöchelhohen Lederschuhen fühlte sich noch hart an. Die alten, dicht stehenden Bäume zeigten nicht den leisesten Hauch von Grün, aber die ersten verwegenen Narzissen blühten im struppigen Gras des Vorjahres.
Dunstan war ebenfalls abgesessen und trat zu seinem Bruder. »Meisterhaft«, wiederholte er und nickte nachdrücklich. »Mitten zwischen die Augen. Ich wette, er war schon tot, ehe er umfiel. Wie machst du das nur?«
Der Junge hob unbehaglich die Schultern und winkte verlegen ab. Dunstan war sechzehn, zwei Jahre älter als er, und für gewöhnlich sehr sparsam mit seinem Lob. »Ich weiß nicht. Ich … seh’ auf den Punkt, den ich treffen will, und hör’ auf das Singen der Schleuder über meinem Kopf. Und dann …«
Dunstan verpaßte ihm eine Kopfnuß der eher sanften Sorte. »Ja, ja. Erspar mir den lehrreichen Vortrag.«
Aber du hast gefragt, dachte Cædmon verständnislos.
»Jetzt ist jedenfalls endlich Schluß mit dem verfluchten Pökelfleisch«, bemerkte Dunstan zufrieden, beugte sich über den Bock und band ihm mit einer dünnen Lederschnur die Läufe zusammen. Dann sah er stirnrunzelnd auf. »Was ist? Hilfst du mir, oder hast du Angst, daß dir schlecht wird, wenn du Blut siehst?«
Cædmon seufzte verstohlen, zückte sein Jagdmesser und setzte es dem Bock an die Halsschlagader. Er vermied es, in das tote braune Rehauge zu sehen.
Wenig später waren sie auf dem Heimweg. Der ausgeblutete Bock lag vor Cædmon über dem Sattel, und das stämmige, gedrungene Pferd trug die doppelte Last ohne erkennbare Mühe. Eine fahle Märzsonne glitzerte auf dem Wasser des Ouse, an dessen östlichem Ufer sie entlangritten. Der Nebel, der sich den ganzen Tag über nicht so recht hatte lichten wollen, war hier am Ufer dichter. Ein paar Eisschollen trieben noch auf dem Wasser, aber der Fluß war schon wieder befahrbar. Ein Lastkahn tauchte vor ihnen aus den dichten Schwaden auf, beladen mit Fässern und Holzkohle. Der Schiffer hielt sein Gefährt mit einer langen Stange in der Strommitte und ließ sich flußabwärts treiben. Als er die beiden Reiter auf dem Uferpfad entdeckte, hob er eine Hand von seiner Ruderstange und winkte ihnen zu. Cædmon winkte zurück.
»Das war Godric«, murmelte er.
»Ich habe Augen«, erwiderte Dunstan trocken.
»Ich hab ihn den ganzen Winter nicht gesehen.«
»Nein, weil er sich den Winter über in seiner Hütte verkriecht wie ein Bär in seiner Höhle, sich von früh bis spät mit Bier vollaufen läßt oder eine seiner zahllosen Schwestern bespringt, bis das Tauwetter kommt und er wieder hinausfahren kann.«
»Dunstan!« rief Cædmon schockiert aus.
Sein Bruder schnitt eine verächtliche Grimasse. »Entschuldige, Schwesterchen …«
Cædmon schwieg beleidigt. Der Uferpfad verengte sich, so daß sie hintereinander reiten mußten, und das war ihm nur recht. Dunstan sollte nicht sehen, wie ihm das Blut in die Wangen geschossen war, und Cædmon drückte seinem struppigen Kaltblüter die Fersen in die Seiten und zog eine Länge vor. Laß ihn nur reden, dachte er. Aber ich war es, der den Bock erlegt hat.
»Sag, Cædmon, jetzt mal ganz ehrlich. Bist du noch Jungfrau?« fragte Dunstan mit vermeintlichem brüderlichem Wohlwollen. Doch Cædmon hörte das mutwillige Grinsen in seiner Stimme, er brauchte sich nicht einmal umzuwenden, um es zu sehen.
Er errötete schon wieder. Das schien ihm in letzter Zeit ganz besonders häufig zu passieren. Über den Winter hatte sein Körper begonnen, sich auf geradezu bestürzende Weise zu verändern. Er hatte einen ordentlichen Schuß getan und war jetzt ebenso groß wie Dunstan und sein Vater, aber das war es nicht allein. Sein Bartwuchs hatte eingesetzt, seine Stimme veränderte sich, er wurde von Träumen geplagt, an die er nicht denken konnte, ohne wieder aufs neue rot anzulaufen, und all das erschien ihm fremd, machte ihn so unsicher, daß es ihm manchmal vorkam, als lebe er im Körper eines Fremden.
»Antworte, Cædmon«, befahl Dunstan mit der befehlsgewohnten Stimme des Älteren. »Wenn es so ist, wüßte ich, wie wir Abhilfe schaffen könnten. Ehe du auf die Idee kommst, dich an den Schafen zu versuchen.«
Ein neuerliches, empörtes »Dunstan!« lag Cædmon auf der Zunge, aber er besann sich und wandte lediglich den Kopf, um seinem Bruder einen vernichtenden Blick zuzuwerfen. Doch statt dessen weiteten sich seine Augen vor Entsetzen.
»Heiliger Edmund, steh uns bei … Reite, Dunstan! Los, komm schon!« Dunstans Miene zeigte eine Mischung aus Verwunderung und gönnerhafter Belustigung, und statt dem guten Rat zu folgen, wandte er den Blick ebenfalls zum Fluß. »Oh, mein Gott … Ein Drache!«
Damit hatte er genug gesehen. Er rammte seinem Pferd die Hacken in die Seiten. Cædmon war schon angaloppiert. Er hörte ein seltsam surrendes Geräusch, wie das Summen einer Hornisse, und zog den Kopf ein. Im nächsten Moment spürte er einen stechenden Schmerz im linken Bein und schrie entsetzt auf. Sein sonst so gleichmütiges Pferd bäumte sich plötzlich auf, legte die Ohren an und bockte. Cædmon warf sich nach vorn, um im Sattel zu bleiben, doch das Tier wieherte angstvoll, stieg, und dann pflügte Dunstans Pferd in seine Seite. Sie stürzten in einem wirren Durcheinander aus Hufen, Armen und Beinen. Ein harter Stoß traf Cædmon in den Rücken, und er lag einen Moment still, unfähig zu atmen oder sich zu rühren. Wieder erklang das unheilvolle Surren, und er überwand seine Schwäche und kroch auf dem Bauch in das dichte Unterholz neben dem Pfad. Dann lag er still, hielt sein Bein umklammert und lauschte.
Es kam ihm vor, als habe er Stunden so gelegen. Die Stille war beinah vollkommen, nur ganz leise war das Plätschern des Flusses zu vernehmen.
Schließlich sammelte Cædmon seinen Mut und hob den Kopf. »Dunstan?«
Sein Pferd stand nur wenige Schritte entfernt auf dem Pfad. Offenbar war es ein Stück gerannt und dann zurückgekehrt; der Rehbock schleifte am Boden. Dunstans Brauner war hingegen nirgendwo zu sehen, doch sein Bruder selbst lag gleich neben ihm, halb auf dem Uferpfad, halb im Dickicht. Sein Gesicht war Cædmon zugewandt, und was durch die wirren, blonden Haare hindurch davon erkennbar war, wirkte todesbleich. Dunstan lag vollkommen reglos.
»Nein …« Cædmon richtete sich halb auf. Ein neuerlicher Schmerz zuckte durch sein Bein, und er sah es zum erstenmal an. Ein kurzer, hellgefiederter Pfeil steckte seitlich in seinem Oberschenkel. »Gott verflucht. Dunstan?«
Sein Bruder regte sich nicht. Cædmon robbte zu ihm hinüber und strich die Haare aus Dunstans Stirn. Dann legte er ihm furchtsam eine Hand auf die Brust. Das Herz schlug gleichmäßig und kräftig. Ein wenig erleichtert untersuchte er den Kopf des Bruders. Unter dem Haaransatz fand er eine anschwellende Beule. Anscheinend hatte Dunstan einen Huftritt vor die Stirn bekommen. Cædmon rüttelte ihn zaghaft an der Schulter. Nichts.
»Gott, was tu’ ich denn jetzt nur?«
Er sah auf den Fluß hinaus. Der Drache war verschwunden, zweifellos weiter flußaufwärts gezogen. Cædmon wußte, er mußte nach Hause reiten. Seinen Vater und die anderen warnen.
»Und je länger du hier herumsitzt, um so dunkler und kälter wird es werden«, murmelte er. Unbewußt versuchte er, Dunstans Stimme zu imitieren, denn nichts konnte ihn so dazu anspornen, über sich hinauszuwachsen, wie die Herablassung seines Bruders.
Cædmon zog das gesunde Bein an, biß die Zähne zusammen und stand auf. Doch sobald er das angeschossene Bein mit seinem Gewicht belastete, zuckte der Schmerz bis in die Hüfte hinauf. Als er die wenigen Schritte zu seinem Pferd zurückgelegt hatte, weinte er.
Er umfaßte den Sattelknauf mit beiden Händen und sah im schwindenden Licht an seinem linken Bein hinab. Blut tränkte seine Hosen aus dunklem Wollstoff, der Fleck hatte beinah die gekreuzten Lederbänder erreicht, die seine Waden bis zum Knie umschlossen, und breitete sich weiter aus. Besser nicht hinsehen, dachte er. Er nahm sein geduldiges Reittier am Zügel. »Komm, Beorn. Wir müssen Dunstan nach Hause schaffen.«
Der stämmige Grauschimmel ließ sich willig führen, aber nach drei Schritten mußte Cædmon anhalten. Er hatte bis heute nicht gewußt, daß einem übel werden konnte vor Schmerz. Der Nachmittag war weit fortgeschritten, und es wurde schnell kälter. Trotzdem erschien sein Gesicht ihm heiß. Er fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn, legte dem Pferd den rechten Arm um den Hals und hüpfte auf einem Bein neben ihm her.
Dunstan war nach wie vor besinnungslos. Cædmon beugte sich über ihn und fühlte wieder seinen Herzschlag. Unverändert.
»Oh, Dunstan, werd wach. Bitte, wach doch auf, du verdammter Mistkerl …«
Aber Dunstan war nicht gerade dafür bekannt, daß er sich nach den Wünschen seiner Brüder richtete. Er zeigte nicht die leiseste Regung. Cædmon sah zum Himmel auf. Er war nicht mehr weiß, sondern dunkelgrau. Ein scharfer Wind hatte sich mit der Dämmerung erhoben und trieb schwere Wolken heran.
»Ja, warum nicht«, murmelte Cædmon bissig. »Das macht jetzt keinen großen Unterschied.«
Er wußte genau, was er tun mußte. Aber im Augenblick fühlte er sich seiner Aufgabe nicht gewachsen. Fast war es, als könne er den mörderischen Schmerz schon jetzt spüren, und er schauderte unwillkürlich. »Gott, Dunstan, das werde ich dir niemals verzeihen«, drohte er an. Er betrachtete das Gesicht seines Bruders, um noch einen kleinen Aufschub herauszuschinden. Es war kein übles Gesicht. Eingerahmt von flachsblonden Locken, eine hohe Stirn, helle Brauen und dichte Wimpern, eine gerade, fast zu schmale Nase über einem noch recht dünnen Schnurrbart und einem um so breiteren Mund, der von Natur aus, sogar jetzt in tiefer Bewußtlosigkeit, zu einem Lächeln neigte, das manchmal gutmütig, öfter aber höhnisch war. Cædmon legte den Kopf zur Seite, seine eigenen, dunkleren Locken fielen ihm dabei ins Gesicht, und er rief sich die eisblaue Farbe der Augen ins Gedächtnis.
»Komm, Bruder«, murmelte er seufzend. »Laß uns nach Hause reiten.« Er schätzte, sie waren noch etwa drei Meilen von Helmsby entfernt. Ausgeschlossen, den ganzen Weg zu laufen. Schon bei dem Gedanken brach ihm der Schweiß aus. Hoffnungsvoll spähte er den Uferpfad entlang, doch von Dunstans Pferd war nirgends eine Spur zu entdecken. Schweren Herzens löste er die Stricke, mit denen sie den Rehbock festgebunden hatten. Mit einem dumpfen Laut fiel der schwere Kadaver zu Boden.
»Die Füchse werden ein Fest feiern«, murmelte Cædmon. Er schwang den Strick in der Linken und sah auf seinen Bruder hinab. »Statt dessen werde ich dich heimbringen.«
Er erinnerte sich später nur vage. Er wußte noch, daß er mehrere Anläufe gebraucht hatte, um den schweren, leblosen Körper seines Bruders auf den Rücken des Pferdes zu hieven. Er vergaß, daß er zwischendurch verzweifelte, daß er beinah der Versuchung erlegen wäre, Dunstan liegenzulassen und Hilfe zu holen. Aber das durfte er nicht. Es wurde dunkel und kalt. Der Wald wimmelte von hungrigen Räubern auf zwei und vier Beinen, selbst der Drache mochte zurückkommen. Cædmon wußte, wenn er Dunstan zurückließ und allein heimritt, würden sie seinen Bruder vermutlich nur noch tot wiederfinden.
Als er den großen Körper schließlich aufs Pferd gehoben hatte, hatte Cædmon das Gefühl, daß seine Kräfte aufgezehrt waren. Er weinte wieder. Er konnte nichts dagegen tun, der Schmerz in seinem Bein war übermächtig. Seine Finger erschienen ihm ungeschickt und klamm, als er Dunstans Hände und Füße zusammenband. Dann führte er das Pferd zu einem nahen Baumstumpf, kletterte ungeschickt hinauf und saß auf. Als er den linken Fuß in den Steigbügel stellte und mit seinem gesamten Gewicht belastete, wurde ihm schwarz vor Augen. Hastig schwang er das rechte Bein über den Sattel, nahm die Zügel auf und ritt an.
Inzwischen war es dunkel. Cædmon ließ die Zügel lang und hoffte darauf, daß das Pferd von allein nach Hause finden würde. Er wußte nicht mehr, wo er sich befand. Er saß zusammengekrümmt im Sattel, eine Hand auf der Schulter seines Bruders, und es dauerte nicht lange, bis eisige Regentropfen ihn in den Nacken trafen wie Nadelstiche. Die Welt wurde finster.
»Je zwei Mann Richtung Fluß und nach Norden. Der Rest folgt mir. Aufsitzen!« Die tragende Stimme übertönte den prasselnden Regen ohne besondere Mühe. »Worauf wartet ihr, na los!«
»Da kommt jemand, Thane«, rief eine junge Stimme aus der Finsternis. Die Männer, die sich vor dem Pferdestall nahe der Halle versammelt hatten, nahmen die Füße aus den Steigbügeln und horchten hoffnungsvoll. Jetzt konnten sie alle den dumpfen Hufschlag im Morast hören. Eine schemenhafte Pferdegestalt hob sich plötzlich als schwarzer Schatten vor der nächtlichen Dunkelheit ab.
»Wo ist mein Vater?«
»Thane, es ist Cædmon!«
Ælfric, der Thane of Helmsby, ließ die Zügel seines kräftigen Wallachs los und trat auf den Reiter zu.
»Cædmon?«
Der Junge richtete sich im Sattel auf. »Wir hatten einen Rehbock erlegt. Aber dann … kam ein Drache und …«
»Cædmon, wo ist Dunstan?« Ælfric legte ihm die Hand auf das linke Bein, und Cædmon wurde ohnmächtig.
Er erwachte mit einem Gefühl vollkommener Schwerelosigkeit, wie er es aus den Träumen kannte, in denen er fliegen konnte. Er kostete das Erlebnis aus, und erst als er auf weichem Grund landete, schlug er die Augen auf.
Sein Vater stand über ihn gebeugt. Er hatte ihn getragen, erkannte Cædmon, und sah sich verwirrt um: Er lag auf einem breiten Bett mit Vorhängen aus rauhem, bräunlichem Wollstoff – kein Zweifel, er lag im Bett seiner Eltern. Einen Moment fragte er sich verwirrt, was in aller Welt er hier verloren hatte, doch als er sich regte, spürte er das Bein wieder, und die Erinnerung kam zurück.
»Dunstan …«
»Es geht ihm gut«, sagte Ælfric beschwichtigend. »Er ist aufgewacht.« »Vater, es waren die Dänen. Ein Drache kam den Fluß hinauf, und sie haben auf uns geschossen.«
Ælfric betrachtete ihn skeptisch. »Das hat dein Bruder auch behauptet. Ich dachte, er phantasiert. Ein Drachenschiff, Cædmon? Die Dänen haben unsere Küsten schon seit langem verschont, Gott und seinen Heiligen sei Dank, aber wenn sie kommen, dann wenigstens mit zehn Schiffen. Oder mit Hunderten. Es muß König Knuts Geisterschiff gewesen sein, das ihr gesehen habt.«
Cædmon wies auf sein abgewinkeltes Bein. »Und nennst du das einen Geisterpfeil?«
Ælfric sah besorgt auf den blutgetränkten Schaft hinab. »Keineswegs. Deine Mutter wird sich darum kümmern. Ich denke, es ist das beste, ich mache mich mit den Männern auf den Weg, um euren Drachen zu erlegen. Wenn das Schiff die Vorhut einer Invasion ist, sollten wir das wissen. Wahrscheinlicher ist, daß es nur Piraten sind.«
»Auf jeden Fall schießen sie gut.«
Ælfric lächelte. »Dunstan sagt, du hattest einen Bock?«
Cædmon nickte. »Ich mußte ihn zurücklassen, um Dunstan nach Hause zu bringen. Dabei hatte er sich so auf den Rehbraten gefreut.«
Sein Vater legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. Er war kein Mann, der dazu neigte, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Niemand hätte ahnen können, welche Ängste er ausgestanden hatte, nachdem Dunstans Pferd allein nach Hause gekommen war. Er suchte einen Moment nach Worten, um seinem Zweitältesten zu zeigen, wie dankbar er ihm war. »Du hast es trotzdem richtig gemacht. Wir werden sehen, ob wir deinen Bock auf dem Rückweg finden. Sonst schicke ich Wulfric und Cynewulf in den Wald. Auf keinen Fall können wir zulassen, daß du um deinen Braten betrogen wirst.«
Cædmon verzog einen Mundwinkel zu einem müden Lächeln, und Ælfric wandte sich ab und ging mit langen Schritten zur Tür. Der Junge schloß die Augen und bat Gott, er möge nochmals eine schützende Hand über seine Familie halten und seinen Vater unversehrt nach Hause kommen lassen.
All seine Vorfahren hatten gegen die Dänen gekämpft – die Dänen hatte Gott sich ausgesucht, um die Engländer zu prüfen. Vor langer Zeit hatte der große König Alfred mit den Dänen Frieden geschlossen und ihnen beinah die Hälfte von England überlassen. Die Nachfahren König Alfreds eroberten diese Hälfte Englands, die bis auf den heutigen Tag Danelaw genannt wurde, zurück. Über die Generationen waren die dänischen und englischen Nachbarn miteinander verschmolzen, ihre Sprachen wurden einander immer ähnlicher, so daß die Unterscheidung zwischen Dänen und Angelsachsen nach und nach in Vergessenheit geriet. Es hätte Frieden im Land herrschen können, wären nicht immer wieder neue Dänen gekommen, Wikinger, die nicht auf Land aus waren, das sie besiedeln konnten, sondern auf Beute. Auf Mord und Totschlag.
Doch in den letzten Jahren war es ruhig geworden um die Wikinger. Seit Ælfric seinem Vater als Thane of Helmsby gefolgt war, hatte es keine größeren Überfälle mehr gegeben, weder hier in East Anglia noch anderswo. Und das sei ein Glück, hatte Cædmon seinen Vater sagen hören, denn König Edward sei ein Heiliger, kein Krieger. Cædmon hoffte, das Drachenschiff, das den Ouse hinaufgesegelt war, kündigte nicht das Ende der ruhigen Jahre an. Er hatte keine Zweifel, daß sein Vater und die Housecarls, die in seinem Dienst standen, in der Lage waren, Haus und Hof zu verteidigen. Und auch er selbst und seine Brüder hatten gelernt, ein Schwert, eine Streitaxt und eine Pike zu führen. Von der Bandschleuder ganz zu schweigen. Trotzdem flößte die Vorstellung von einem neuen Däneneinfall ihm Angst ein. Genaugenommen, mußte er feststellen, erfüllte der Gedanke ihn mit Grauen. Die hölzerne Tür zu der kleinen Kammer hinter der Halle öffnete sich geräuschlos, und eine zierliche, dunkelhaarige Frau trat ein. In einer Hand hielt sie eine Wasserschüssel. Sie stellte sie neben dem Bett ab und beugte sich über ihn.
»Comment vas tu, mon fils?«
Sie legte ihm die Hand auf die Stirn, und Cædmon lehnte den Kopf in die Kissen zurück. »Na ja. Wie soll es einem Mann gehen, der gerade mit der Erkenntnis ringt, daß er ein Feigling ist?«
Sie lachte ihr leises, warmes Lachen. »Ein Feigling? Du? Das wäre mir ganz neu. Nein, nein, Cædmon. Du hast ein Herz so groß wie Beowulfs.« Sie sah kurz auf den gefiederten Schaft in seinem Oberschenkel. »Und das wirst du auch brauchen.«
Cædmon schnitt eine Grimasse und wechselte das Thema. »Was macht Dunstan?«
»Oh, Dunstan ist schon wieder ganz der Alte. Er sitzt drüben in der Halle, einen beeindruckenden Verband um die Stirn und einen vollen Becher vor sich und erfreut die Dienerschaft mit der Geschichte, wie er dich vor den Dänen errettet hat.«
»Ganz falsch«, tönte Dunstans laute Stimme von der Tür. »Er hat sich besonnen und ist gekommen, um euch zu helfen.«
Cædmon hob abwehrend die Rechte. »Verschwinde …«
Ehe Dunstan widersprechen konnte, öffnete die Tür sich erneut, und die drei übrigen Geschwister schlüpften herein.
»Wir wollten nur kurz nach ihm sehen«, sagte der dreizehnjährige Guthric hastig, um den Vorhaltungen seiner Mutter zuvorzukommen. Zögernd, ein bißchen ängstlich traten sie auf das breite Bett zu. Als sie den Pfeil und den großen Blutfleck auf dem Bein ihres Bruders sahen, wandte der kleine Eadwig sich abrupt ab und vergrub das Gesicht in den Röcken seiner Schwester.
Hyld legte ihm die Hand auf den Kopf. »Wird es gehen?« fragte sie Cædmon besorgt.
Er rang sich ein Lächeln ab. »Noch besteht jedenfalls kein Grund, die Totenwache zu halten. Schert euch raus.«
Alle vier wandten sich ab, doch seine Mutter rief ihren Ältesten zurück. »Dunstan, dich werde ich brauchen.«
Dunstan blieb stehen, aber Cædmon schüttelte den Kopf. »Ich will Guthric.«
Niemand erhob Einwände. Dunstan führte seine Schwester und seinen jüngsten Bruder hinaus, zog die Tür hinter sich zu, und sie hörten ihn lachen, eine Spur nervös vielleicht.
Guthric war der einzige der fünf Geschwister, der seiner normannischen Mutter wirklich glich. Seine Haare waren glatt und so dunkelbraun, daß sie bei schwachem Licht schwarz wirkten, ebenso dunkel waren seine Augen. Wäre diese offenkundige Ähnlichkeit nicht gewesen, hätte es gewiß Spekulationen über Guthric gegeben. Auch so konnte man die Köchin gelegentlich raunen hören, Guthric sei ein Wechselbalg, ein Feenkind. Er war still, ein Träumer; stundenlang konnte er manchmal draußen im Hof sitzen und den Vögeln lauschen, so als verstünde er ihre Sprache. Vor einiger Zeit hatte Guthric den Wunsch geäußert, nach Ely ins Kloster zu gehen und lesen zu lernen. Sein Vater hatte ihn ausgelacht, und danach war die Angelegenheit nie wieder erwähnt worden.
Cædmon liebte seine Geschwister ausnahmslos, aber alle auf andere Weise. Er bewunderte Dunstans unbekümmerte Verwegenheit, so sehr, daß er ihm seine Derbheit meist verzeihen konnte. Er mochte Hylds Scharfsinn und ihre Großzügigkeit, und wie jeder in der Familie vergötterte er seinen kleinen Bruder Eadwig. Aber Guthric stand ihm näher als jeder andere Mensch auf der Welt. Guthric konnte er Dinge anvertrauen, die ihn beschämten, denn Guthric urteilte nie nach allgemeingültigen Grundsätzen. Er hatte ein ganz eigenes Bild von der Welt, ein Bild, das Cædmon nie so recht begreifen konnte, aber das spielte keine Rolle. Mit einem schwachen Lächeln stieg Guthric auf das hohe Bett, richtete Cædmon ein wenig auf und glitt hinter ihn. »Ich dachte, du wolltest zur Jagd. Mir war nicht klar, daß du dabei an die Rolle des Hirschs gedacht hast«, bemerkte er. Dann griff er unter Cædmons Achseln hindurch und umschloß seine Brust mit beiden Armen. »Fertig.«
Cædmon sank zurück in die knochige und doch so tröstliche brüderliche Umarmung, blickte starr in den durchhängenden Baldachin hinauf und konzentrierte sich darauf, die Zähne fest zusammenzubeißen.
So sah er nicht, daß seine Mutter die Hände hob und die Linke um den kurzen Schaft legte. Dieses Mal zuckte der tückische Schmerz bis in die Schulter, und Cædmon schrie auf.
Marie de Falaise war in kriegerischen Zeiten in der Normandie aufgewachsen und hatte schon als junges Mädchen die Kunst ihres Vaters, der Wundarzt gewesen war, erlernt. Was in der Normandie als ausgesprochen unweiblich galt, hatte hier in England keine besondere Aufmerksamkeit erregt, als Ælfric of Helmsby schließlich mit König Edward aus dem normannischen Exil heimgekehrt war und seine Frau mitgebracht hatte. Ihre Heilkünste hatten dem einen oder anderen in Helmsby das Leben gerettet – Marie hatte sogar einmal einem altgedienten Housecarl nach einem bösen Sturz beim Pferderennen den zertrümmerten Arm abgenommen. Aber bei ihrem eigenen Sohn wurde sie plötzlich zimperlich.
Als Cædmon sah, daß sie den Mut verloren hatte, kehrte seine eigene Entschlossenheit zurück. Er atmete tief durch. »Tu es. Und gebt mir irgendwas, worauf ich beißen kann, sonst stürzt die Halle ein.«
Guthric lachte leise, zog sein Messer aus der Hülle am Gürtel und steckte Cædmon den hölzernen Schaft zwischen die Zähne. Dann verschränkte er die Hände wieder vor dessen Brustkorb.
Marie legte beide Hände übereinander an den Pfeil und zog. Sie drehte nicht, um die Wunde nicht zu vergrößern, ruckte beinah sanft, und der Pfeil gab ein wenig nach. Dann griffen seine Widerhaken erneut in das Muskelfleisch.
Der Pfeil muß raus, betete Cædmon sich vor. Er klammerte sich an den Satz, hob ihn wie einen Schild vor sein Bewußtsein. Der Pfeil muß raus, es wird nicht lange dauern, gleich ist es vorbei … Gott, mach, daß es bald vorbei ist …
Seine Zähne gruben sich in das Holz des Messergriffs, er krallte die Hände in Guthrics Unterarm, und sein Blick wurde unscharf. Er hörte seine eigenen Schreie nur wie aus weiter Ferne, aber er wurde nicht bewußtlos. Seine Schultern spannten sich, und Guthric preßte sich dagegen und hielt ihn und versuchte stumm, seine eigene Kraft in den Bruder überfließen zu lassen.
Dann zog Marie mit einem letzten Ruck die Pfeilspitze aus der Wunde, und es war vorbei.
»Gut gemacht, Cædmon. Jetzt gib mir das Messer.« Marie faßte die scharfe Klinge vorsichtig mit zwei Fingern, legte die andere Hand unter sein Kinn und half ihm, den Mund zu öffnen. »Hier, trink das.«
Er spürte einen Becher an den Lippen und schluckte. Es war starker Wein. Den Geschmack war er nicht gewöhnt, und er öffnete verblüfft die Augen. Als sie den Becher absetzte, keuchte er.
Marie gab den restlichen Wein auf ein reines Tuch und drückte es behutsam auf die Wunde. Der Alkohol brannte, aber das war nichts im Vergleich zu dem höllischen Schmerz, den er hinter sich hatte. Er fand das Brennen fast leicht zu ertragen. Sein Körper entspannte sich. Während seine Mutter ihm einen Verband anlegte, ließ er sich zurücksinken und löste seinen Klammergriff um Guthrics Unterarm. Seine Nägel hatten blutige Halbmonde hinterlassen.
»Entschuldige, Bruder …«
Guthric lächelte und stand vom Bett auf. »Komm. Laß uns nachsehen, was die anderen uns vom Essen übriggelassen haben.«
Aber Marie schüttelte den Kopf. »Cædmon bleibt hier und rührt sich bis morgen früh nicht vom Fleck. Das Bein muß ruhig liegen, hörst du?«
Cædmon sah verwundert auf. »Und willst du mit Vater statt dessen in der Halle schlafen?« erkundigte er sich. Dieses war das einzige Privatgemach. Nur der Thane und die Dame der Halle genossen das Privileg, sich zurückziehen zu können. Ihre Kinder schliefen, sobald sie dem Kleinkindalter entwachsen waren, mit den Housecarls und deren Familien, den Mägden und dem übrigen Gesinde im Stroh auf dem Fußboden der großen Halle.
Marie bedachte Cædmon ob seiner respektlosen Bemerkung mit einem mißfälligen Stirnrunzeln. »Ich denke nicht, daß dein Vater vor morgen früh heimkommt. Und selbst wenn. Für eine Nacht ist hier Platz genug für drei.«
»Dann lasse ich euch etwas zu essen bringen«, erbot sich Guthric.
Cædmon hätte keinen Bissen hinunterbringen können. Aber alle weiteren Debatten blieben ihm erspart, denn er war fest eingeschlafen, als die Magd mit Bier und Eintopf kam.
Leise Stimmen weckten ihn. Es war finster.
»… haben Metcombe niedergebrannt und große Verwüstung angerichtet«, hörte er seinen Vater wispern. »Vier Männer sind tot, sieben verletzt, Gott allein weiß, wie viele Frauen geschändet. Das Dorf liegt in Schutt und Asche. Es ist furchtbar.«
»Aber wieviel furchtbarer wäre es geworden, wenn Dunstan und Cædmon sie nicht entdeckt hätten und ihr nicht hingeritten wäret«, erwiderte Marie ebenso leise.
»Das ist wahr.«
»Und du bist sicher, es waren Piraten?«
»Ja. Wir haben einen der Anführer lebend erwischt, und er hat beim Blute Christi geschworen, daß sie auf eigene Faust handelten und ihr König Sven nichts damit zu tun hat.«
Marie schnaubte leise. »Ein fragwürdiger Schwur. Diese gottverfluchten Wikinger sind doch in Wahrheit allesamt Heiden.«
Ælfric lachte leise. »Und das sagst ausgerechnet du? Es ist nicht viel länger als hundert Jahre her, daß ihr Normannen heidnische Wikinger wart.« Er wurde wieder ernst. »Er hat die Wahrheit gesagt, ich bin sicher.«
»Dann sei Gott gepriesen. Sind sie geflohen?«
»Nein. Ich habe fünf Gefangene. Gesunde, kräftige Kerle, wir können sie gut gebrauchen. Sobald sie handzahm sind, schicke ich sie nach Metcombe. Dann können sie wenigstens einen Teil des Schadens wiedergutmachen, den sie angerichtet haben. Die anderen sind tot. Das Schiff haben die Leute von Metcombe in Brand gesteckt.«
»Und unsere Männer?«
»Alle unversehrt, bis auf ein paar Kratzer. Wir hatten leichtes Spiel, die Dänen waren vollkommen überrascht, so schnell auf Widerstand zu stoßen. Und jetzt sag mir, wie steht es mit Cædmon?«
Plötzlich ging dem Jungen auf, daß er lauschte, und er schämte sich, aber jetzt war es zu spät, um sich bemerkbar zu machen. Er wünschte, er wäre nicht aufgewacht, auch wenn es ihn beruhigt hatte, der Stimme des Vaters zu lauschen.
Durch die geschlossenen Bettvorhänge hörte er seine Mutter antworten: »Das wissen wir morgen oder übermorgen. Wenn er Fieber bekommt …« Sie beendete den Satz nicht.
»Aber der Pfeil ist heraus?«
»Ja.«
Cædmon fand, man konnte ihrer Stimme mühelos anhören, daß sie nicht mehr darüber sagen wollte, aber sein Vater schien nicht den gleichen Respekt vor diesen Warnsignalen zu haben wie er selbst.
»Der Pfeil saß direkt auf dem Knochen. Ich habe versucht, es nicht schlimmer zu machen und ihn auf dem gleichen Weg herauszuziehen, auf dem er eingedrungen ist. Gott helfe mir, ich habe getan, was ich konnte, Ælfric. Aber welchen Schaden er angerichtet haben mag …« »Wird er ein Krüppel sein, Marie?«
Zu Cædmons größter Bestürzung begann seine Mutter zu weinen.
Die Wunde oberhalb des Knies entzündete sich nicht, sondern begann schnell zu heilen. Cædmon bekam kein Fieber und befand nach einem Tag, daß er das Bett jetzt lange genug gehütet hatte. Seine Mutter machte aus ihrer Erleichterung keinen Hehl. Sie gestattete ihm aufzustehen, allerdings mit der Ermahnung, es sie sofort wissen zu lassen, falls der Wundschmerz sich verschlimmerte. Der Schmerz nahm jedoch mit jedem Tag ab, nur fühlte das Bein sich zunehmend taub an. Selbst nach zwei Wochen konnte Cædmon nur mit Hilfe eines Krückstocks laufen und zog den linken Fuß nach. Nach drei Wochen stellte er immer noch keine Besserung fest, und das gab ihm zu denken. Er fragte seine Mutter, was sie von der Sache hielt, und sie riet ihm, sich in Geduld zu fassen.
»Herrgott noch mal, Cædmon, du kommst einhergehinkt wie ein Tattergreis.« Dunstan lehnte neben dem Tor zum Pferdestall und sah dem Bruder ungehalten entgegen. »Ich meine, du solltest dich langsam mal ein bißchen zusammenreißen.«
Cædmon hielt entrüstet vor ihm an. »Und was willst du damit sagen?« »Daß du dich gehen läßt und ein Riesengetue um die Geschichte machst, damit alle dich bedauern und du dich vor der Arbeit drücken kannst.«
Cædmon verzog sarkastisch den Mund. »Zu schade, daß der Pfeil nicht dich getroffen hat, Dunstan. Ich bin sicher, du würdest viel besser damit fertig und könntest wieder einmal unter Beweis stellen, was für ein Kerl du bist.«
Dunstan machte mit erhobener Faust einen drohenden Schritt auf ihn zu. »Du …«
Ihr Vater war unbemerkt hinzugetreten und riß seinen Ältesten am Ellbogen zurück. »Schluß damit! Was fällt dir ein?«
»Entschuldige«, brummte Dunstan unwirsch.
Ælfric bedachte ihn mit einem Kopfschütteln. »Wo sind die Pferde? Wozu, glaubst du, hab ich dich vorausgeschickt? Um jetzt hier in der Kälte zu stehen und zu warten?«
Dunstan wollte sich rechtfertigen, er war sehr erfindungsreich im Ersinnen von Ausreden, aber Ælfric winkte ab.
»Ich weiß genau, wo du dich rumgetrieben hast.« Mit einem ungehaltenen Seufzer trat er in den Stall, zog gewohnheitsgemäß den Kopf ein, um durch die niedrige Tür des verwitterten Holzgebäudes zu passen, und fand im dämmrigen Innern einen vielleicht achtjährigen Jungen, der auf Zehenspitzen neben dem großen Wallach stand und versuchte, diesem den Sattel aufzulegen.
»Guten Morgen, Ine. Wo ist dein Vater?« Ælfric nahm dem kleinen Kerl den schweren hölzernen Sattel aus den Händen und legte ihn seinem Pferd auf den Rücken.
Ine lächelte scheu. »Krank, Thane.« Dankbar ließ er sich auch die Trense abnehmen und machte sich statt dessen daran, den Sattelgurt festzuschnallen, eine Aufgabe, die seiner Körpergröße eher entsprach. »Dunstan, Cædmon«, rief der Thane über die Schulter. »Kommt rein und sattelt selbst, wenn das nicht zuviel verlangt ist!« Dann wandte er sich wieder an den kleinen Jungen. »Was fehlt ihm denn?«
Ine senkte den Blick und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Er hat Fieber. Er brennt, sagt Mutter.«
Ælfric klopfte seinem Pferd den Hals und wandte sich zu der steilen, wackeligen Stiege, die zum Heuboden hinaufführte, wo der Stallknecht mit Frau und Kindern lebte. Oben angekommen, mußte er nicht nur den Kopf einziehen, sondern sich vornüberbeugen, um stehen zu können, selbst unmittelbar unter dem First.
Der Dachboden über dem Stall bildete eine kleine Kammer, die fast zur Hälfte mit Heu und Hafersäcken gefüllt war. Der verbleibende Raum dahinter war nicht viel größer als eine Pferdebox. Auch ohne Feuer wurde es hier oben nie wirklich eisig, weil die Körperwärme der Pferde aufstieg und die Kammer einigermaßen warmhielt, aber der scharfe Märzwind pfiff durch die Ritzen zwischen den Holzlatten der Wände, und es war sehr feucht.
Der winzige Raum war unmöbliert bis auf ein paar Strohlager am Boden. Der Stallknecht und seine Familie nahmen ihre Mahlzeiten genau wie alle anderen Angehörigen des Guts in der Halle ein und schliefen nur deswegen auf dem Heuboden, weil es Ælfric lieber war, wenn auch nachts jemand bei den Pferden blieb. Für gewöhnlich hielt sich tagsüber niemand hier oben auf, Ine und sein Vater kümmerten sich um die Reittiere, während seine Mutter und die beiden Schwestern mit anderen zusammen die Kühe versorgten, molken und Butter und Käse herstellten. Die beiden Mädchen waren auch heute zur Arbeit gegangen, doch als Ælfric nähertrat, entdeckte er eine rundliche Frau, die sich über eine reglose Gestalt auf einer der Strohmatratzen beugte.
»Mildred«, sagte er leise.
Die Frau fuhr erschrocken zusammen und kam eilig auf die Füße. »Thane …«
»Was ist mit ihm?«
Sie schüttelte den Kopf und fuhr sich mit dem Ärmel über ihr reizloses, gerötetes Gesicht. »Ich weiß nicht … Ich glaube, er stirbt.« Ihre Stimme drohte zu kippen.
Ælfric sah auf den Kranken hinab, der bedenklich reglos auf seinem Strohbett lag. Im Dämmerlicht konnte man das Gesicht nicht deutlich erkennen, aber es schien ihm wächsern und tatsächlich todesbleich. »Warum habt ihr nicht nach meiner Frau geschickt?« fragte er, gedämpft, aber ärgerlich.
Mildred schüttelte stumm den Kopf und preßte eine Hand auf den Mund, um ihr Schluchzen zu unterdrücken.
»Aber das haben wir doch«, protestierte Ine.
»Still, Junge«, fuhr seine Mutter ihn an.
Ælfric wandte sich zu dem kleinen Kerl um. »Was soll das heißen, ihr habt nach ihr geschickt?«
Ine überlegte einen Augenblick, was das kleinere Übel war, seiner Mutter oder dem Thane nicht zu gehorchen. Noch ehe er eine Entscheidung getroffen hatte, regte sein Vater sich plötzlich, stöhnte heiser und krümmte sich zusammen wie im Krampf. Mildred hockte sich neben ihn, nahm einen Lappen aus einem Ledereimer und versuchte, ihm die Stirn abzutupfen.
»Ich warte, Junge«, sagte Ælfric.
Ine biß sich auf die Unterlippe und hob dann den Kopf. »Mutter hat mich gestern abend zur Halle rübergeschickt, ich solle die Lady Marie holen. Und ich hab’s ausgerichtet.«
»Wem?«
Ine verließ der Mut. »Ich … ich weiß nicht mehr, Thane.« Er sah mit großen Augen auf seinen Vater hinab, der sich stöhnend im Fieberkrampf wälzte, und Tränen begannen seine schmutzigen Wangen hinabzurinnen.
Ælfric vergeudete keine Zeit mehr. Er hastete die Stiege hinab und ins Freie. Vor dem Tor warteten seine Söhne mit den Pferden. »Dunstan, hol deine Mutter. Schnell. Und dann finde heraus, wem Ine gestern abend gesagt hat, sein Vater sei krank.«
Dunstan drückte Cædmon die Zügel in die Hand, wandte sich ab und rannte über den Hof zur Halle hinüber.
»Was ist mit Edgar?« fragte Cædmon.
Ælfric seufzte leise. »Ich glaube nicht, daß deine Mutter ihm noch helfen kann. Wo ist Guthric?«
»Ich weiß nicht, Vater«, log Cædmon.
Guthric hatte ihm während des Frühstücks eröffnet, daß er nicht die Absicht habe, mit nach Metcombe zu reiten, und war kurz darauf mit dem kleinen Eadwig an der Hand ins Dorf aufgebrochen, wo er, so vermutete Cædmon, Vater Cuthbert heimsuchen und so lange beschwatzen würde, bis der Dorfpriester sich bereitfand, ihm ein paar neue Buchstaben beizubringen. Helmsby war eine ärmliche Gemeinde mit einer zugigen, schäbigen kleinen Holzkirche, und der Priester und seine Frau lebten in einer ebenso zugigen, schäbigen kleinen Kate. Vater Cuthbert bewirtschaftete kein Land, er und seine Familie lebten von den kärglichen Erträgen ihres Gemüsegartens und dem, was die Gemeindemitglieder an Kirchenabgabe erübrigen konnten. Aber der Priester besaß einen Schatz von großer Seltenheit: ein dickes, in Leder gebundenes Buch voll brüchiger Pergamentseiten, die Auszüge aus der Bibel und einige Heiligengeschichten enthielten. Sein Latein war so schlecht, daß er kaum in dem kostbaren Buch lesen konnte, aber er kannte die Buchstaben und hatte auf Guthrics hartnäckiges Drängen hin begonnen, ihn zu unterrichten.
»Ich kann mir schon vorstellen, wo er steckt«, knurrte Ælfric.
Cædmon fuhr seinem struppigen Kaltblüter über die lange Stirnlocke und sah mit vorgetäuschtem Interesse zum Himmel auf. »Wird Regen geben.«
»Um so besser. Die Erde ist zu hart zum Pflügen.«
»Ja.«
Ælfric betrachtete Cædmon einen Augenblick, der unbewußt sein ganzes Gewicht auf den Stock gestützt hatte. »Wirst du es schaffen bis Metcombe?«
Cædmon sah verlegen zu Boden. »Natürlich.«
»Das Bein immer noch taub?«
Der Junge nickte.
Ælfric zeigte sein seltenes Lächeln. »Das vergeht schon wieder.«
»Ja. Bestimmt.«
»Verdammt, wo bleibt deine Mutter …«
Wie aufs Stichwort erschien Marie an der Tür zur Halle, hastete die Stufen hinab und überquerte den Hof. Dunstan folgte ihr. Ohne anzuhalten trat sie durch das Stalltor, und gleich darauf hörten sie die Stiege knarren. Ælfric nickte seinen Söhnen zu. »Also. Höchste Zeit, daß wir uns auf den Weg machen.«
Cædmon klemmte sich seinen Stock unter den Arm und packte den Sattel mit beiden Händen. Er konnte nicht aufsitzen, indem er den linken Fuß in den Steigbügel stellte, weil der Fuß sofort wegknickte, wenn er ihn mit seinem Körpergewicht belastete. Also sprang er mit dem gesunden Fuß ab, stemmte sich hoch und schwang sich in den Sattel.
Ælfric war ebenfalls aufgesessen, aber Dunstan stand noch mit dem Zügel in der Hand, er hielt den Kopf untypisch gesenkt und räusperte sich nervös. »Vater …«
Ælfric sah ihn wortlos an.
»Ine ist zu mir gekommen gestern abend«, gestand Dunstan. »Ich wollte es Mutter auch sofort sagen, aber …« Er brach kopfschüttelnd ab. »Du hast es einfach vergessen«, beendete sein Vater den Satz für ihn. Dunstan nickte.
Ælfric sah zum Himmel auf, als wolle er Gott fragen, was er denn verbrochen habe, um mit so einem Nichtsnutz von Sohn geschlagen zu sein. »Herrgott, Dunstan …«
»Ich weiß.« Dunstan hob den Blick und sah den Vater offen an. »Wenn er stirbt, ist es vielleicht meine Schuld, und gute Sklaven sind teuer.« »Und darüber hinaus schwer zu finden. Vielleicht sollten wir dich ein paar Monate seine Arbeit tun lassen, damit du endlich lernst, Verantwortung zu tragen.«
Dunstan starrte den Vater entsetzt an. »Aber …«
Ælfric schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab. »Warten wir ab, wie die Sache ausgeht und was deine Mutter sagt. Für heute kannst du deine Bußfertigkeit unter Beweis stellen, indem du hierbleibst und mit Wulfric zusammen das Pflügen überwachst.«
Dunstan war alles andere als begeistert, aber er hütete sich, seinen Unwillen zu zeigen. Er fand, er war ausgesprochen gut davongekommen. Vorerst. Er wäre tausendmal lieber mit seinem Vater und Cædmon in das von den dänischen Piraten verwüstete Dorf geritten, als die langweilige Feldarbeit der Sklaven und dienstpflichtigen Bauern zu überwachen, aber er wußte selbst, daß er zu wenig Interesse an der Landwirtschaft zeigte.
»Natürlich, Vater.«
Ælfric nickte Cædmon zu, und nebeneinander ritten sie durch den Torbogen der hohen Hecke, die die Halle umgab, und auf die Felder hinaus.
»Was werden wir in Metcombe vorfinden, Vater?« fragte Cædmon, als sie nach einer guten Stunde aus dem Schatten des kleinen Waldes kamen und wieder zwischen frisch gepflügten Feldern einherritten. Ælfric antwortete nicht gleich. Er sah zu dem Gespann aus acht dunkelbraunen Ochsen hinüber, das einen langen, schmalen Feldstreifen entlangtrottete. Ein junger Bauer führte den Pflug, den sie zogen; seine hochschwangere Frau, die kaum älter als Hyld schien, hatte die Hand auf das Joch gelegt und lenkte die Tiere. Es waren unfreie Pächter, die einen ihrer drei Feldstreifen bestellten, und Cædmon wußte, daß höchstens einer der acht Ochsen dem jungen Paar gehörte. Die ärmeren Bauern liehen sich gegenseitig ihre Ochsen aus, so daß ein jeder das notwendige Achtergespann hatte, um seine Felder zu pflügen.
Cædmon glaubte schon, sein Vater habe ihn nicht gehört. Aber schließlich riß Ælfric sich von ihrem Anblick los und sagte: »Ich habe keine Worte dafür. Vermutlich wirst du niemals vergessen, was du heute in Metcombe siehst.«
Der Junge schwieg beklommen. Bald tauchten sie wieder in ein Waldstück ein, und nach einer Weile nahm Cædmon einen schwachen, aber durchdringenden Geruch wahr, ein eigentümliches Gemisch aus brennendem Holz, Nässe und Fäulnis.
Sein Vater hob den Kopf. »So riecht der Krieg, Cædmon.«
Metcombe war einmal ein Dorf von gut siebzig Seelen gewesen. Die Hütten und Katen der freien Bauern hatten sich an die kleine St.-Guthlac-Kirche geschmiegt, ein jedes Haus umgeben von einem Gemüsegarten und einer niedrigen Hecke, über die die strohgedeckten Dächer der kleinen, meist einräumigen Häuschen lugten. Ein unauffälliger Ort. Die Bauern lebten vom Ertrag ihrer kleinen Felder, bekamen Fleisch und Milch von den Kühen, Ziegen und Schweinen, die in der Regel mit ihnen unter einem Dach lebten, und Aale, Forellen und Lachse aus dem Fluß, der ihr Dorf säumte, sie seit Menschengedenken vor jeder Hungersnot bewahrt hatte und ihnen jetzt zum Verhängnis geworden war. Cædmon hatte die Schultern hochgezogen und sah sich so wenig wie möglich um. Aber selbst aus dem Augenwinkel nahm er die schreckliche Verwüstung wahr. Die Hütten mitsamt der St.-Guthlac-Kirche waren zu verkohlten, jammervollen Gerippen verbrannt, denen ein bitterer Gestank nach feuchter Asche entstieg. Hier und da hatte jemand in seinem Garten ein kleines, qualmendes Feuer entzündet, um das die Menschen sich fröstelnd scharten. In dreien der niedergebrannten Hütten, die sie passierten, lagen Tote auf groben Holzbänken oder der nackten Erde aufgebahrt; für keinen von ihnen brannte auch nur eine einzige Kerze. Bei einem der Toten kniete eine weinende Frau. Ein Stück abseits stritten zwei kleine Jungen um ein Stück Brot, das im Eifer des Gefechts im Morast gelandet war. Einer der beiden Kampfhähne trug einen schmutzigen Verband um den Kopf. Beide heulten.
Die Hecken und Gärten waren niedergetrampelt, totes, verstümmeltes Federvieh lag auf dem Weg, die Dorfwiese war eine Schlammwüste. An ihrem Saum standen die Überreste dessen, was einmal die Mühle gewesen war. Dort hielten sie an, und Cædmon folgte dem Beispiel seines Vaters und saß ab.
Das vergleichsweise große Gebäude war nur teilweise abgebrannt und hatte noch eine Tür. Ehe Ælfric anklopfen konnte, öffnete sie sich, und ein hagerer, großer Mann mit rötlichem Bart trat heraus.
»Hengest«, grüßte Ælfric höflich. Er nickte zu Cædmon. »Mein Sohn. Cædmon, das ist Hengest, der Müller.«
Cædmon reichte dem Müller die Hand.
Hengest zeigte den Anflug eines Lächelns. »Ich bin nicht sicher, ob ich mich so noch nennen darf. Es wird viel Zeit vergehen, ehe ich wieder etwas zu mahlen habe.« Er schlug trotzdem ein.
»Ja.« Ælfric trat langsam einen Schritt auf ihn zu. »Deswegen bin ich hier.«
Der Müller verschränkte die Arme. »Ich höre, Thane.«
»Nun, ich denke, als erstes sollten wir über Saatgut reden. Das ist wohl das dringlichste.«
»Das ist es allerdings.« Hengest schien einen Moment unentschlossen. Dann sah er zu Cædmon. »Würdest du mir einen Gefallen tun, Junge? Wenn du dorthin läufst, wo einmal unsere Kirche stand, findest du rechts ein verkohltes Haus mit einer doppelstämmigen Eiche vor der Tür. Der Baum ist wie durch ein Wunder unversehrt. In dem Haus wohnt eine alte Frau, ihr Name ist Berit. Bring sie her.«
Cædmon nickte, zog seinen Stock aus dem Sattelgurt und machte sich hinkend auf den Weg.
Hengest sah ihm einen Moment nach. »Ach ja. Ich erinnere mich wieder. Sie haben auf Eure Söhne geschossen, Thane.«
Ælfric ließ ihn nicht aus den Augen. »Ja.«
»Wird er wieder gesund?«
»Er ist gesund.«
Der Müller verzog schmerzlich das Gesicht. »Ihr habt natürlich recht. Netter Junge.«
Ælfric wechselte das Thema. »Saatgut und Viehfutter, Hengest. Ich kann euch nicht alle beköstigen, aber wenn nicht reicht, was ihr aus dem Fluß holt, kann ich euch zumindest unter die Arme greifen.«
»Wartet, bis Berit kommt.«
»Ich werde nicht stundenlang mit einem alten Weib feilschen. Ich mache euch ein Angebot, und ihr könnt es euch in Ruhe überlegen. Zum Vollmond komme ich wieder, um mir eure Antwort zu holen.« Hengest tat, als habe er ihn nicht gehört. Er wies dem Thane einen Platz auf der Bank vor der abgebrannten Mühle. »Ihr müßt mir verzeihen, daß ich Euch kein Bier einschenke, es ist alles dahin. Ein Becher Flußwasser ist alles, was ich zu bieten habe.«
Ælfric hob abwehrend die Hand, trat zu seinem Pferd, holte einen Lederschlauch aus der Satteltasche und setzte sich damit neben den Müller. »Hier, trink. Ich bin nicht durstig.«
Hengest nahm einen tiefen Zug aus dem Schlauch. Er enthielt starkes, würziges Bier. »Hm. Gott, das tut gut. Danke, Thane.« Er gab Ælfric den Schlauch zurück. »Saatgut und Futter, sagt Ihr. Und was noch?« »Vier dänische Sklaven. Keiner älter als fünfundzwanzig. Kräftig und kerngesund. Sie werden euch das Dorf im Handumdrehen wieder aufbauen, notfalls könnt ihr sie auch vor den Pflug spannen.«
»Sie würden uns das Dorf vielleicht wieder aufbauen, wenn wir Holz hätten.«
»Schön. Meinetwegen bekommt ihr auch Holz. Dafür bekomme ich von jedem Mann und jeder Frau einen Tag Arbeit während der Erntezeit.« Hengest antwortete nicht direkt. »Vier dänische Sklaven, sagt Ihr? Ich dachte, es waren fünf?«
Ælfric nickte. »Einen behalte ich selbst. Als Wergeld für das Bein meines Sohnes.«
Der Müller blinzelte in die fahle Märzsonne. »Ja. Ich schätze, das ist recht. Also, Thane: Ihr bietet uns Bauholz gegen Arbeit. Und Ihr bietet uns Saatgut und Futter gegen …?«
»Euer Land. Jeder Bauer von Metcombe überschreibt mir sein Land. Sie können ihre Häuser wieder aufbauen und ihre Felder weiter bewirtschaften, nichts wird sich wirklich ändern, bis auf die Tatsache, daß sie mir Pacht schulden.«
Hengest machte ein finsteres Gesicht. »Ihr verlangt, daß die Bauern Euch ihr Land überlassen, das Erbe ihrer Söhne, für ein paar Körner Saatgut?«
Ælfric nickte ungerührt. »Und meinen Schutz, ja.«
Ehe der Müller seiner Erbitterung Luft machen konnte, kam Cædmon in Begleitung einer alten Frau zurück. Berit war die Dorfälteste; niemand wußte, wie alt genau sie war, jedenfalls war sie die einzige, die sich noch an die Zeiten erinnerte, da der glücklose König Æthelred die Geschicke Englands in seinen unfähigen Händen gehalten hatte, jeden Mann aus Metcombe zum Kriegsdienst holte und von den Frauen Geld forderte, damit er den Dänen Tribut zahlen konnte.
Vor Hengest und Ælfric blieb sie stehen. Sie hatten sich höflich erhoben, als sie nähertrat. Erst sah sie dem Thane in die Augen, dann dem Müller, setzte sich auf die frei gewordene Bank und stützte die Hände auf die Oberschenkel.
»Es ist gut von Euch, uns zu besuchen, Thane. Und ich nehme an, Ihr wollt uns Euren Schutz anbieten.«
Hengest wiederholte, was Ælfric vorgeschlagen hatte. Er sprach bedächtig und ohne die Stimme zu erheben, aber seinem Gesicht war anzusehen, was er von dem Angebot hielt.
Berit äußerte sich nicht gleich. Sie sah nachdenklich auf ihre runzligen Hände hinab, die auf ihrem Rock aus rauher, bräunlicher Wolle lagen, verschränkte schließlich die Finger ineinander und sah zu Ælfric auf. »Ich denke, die meisten werden auf Euer Angebot eingehen, Thane.« »Gut.« Er reichte ihr den Bierschlauch, und sie nahm einen tiefen Zug. »Aber Berit …«, begann der Müller.
Sie hob abwehrend die Linke. »Die Zeiten ändern sich, Hengest. Dies ist das dritte Mal, daß Metcombe zu meinen Lebzeiten verwüstet wurde. Ich wäre dankbar, wenn es sich als das letzte Mal erweisen sollte. Die Dänen werden wiederkommen. Sie werden keine Ruhe geben, bis wieder einer von ihnen auf Englands Thron sitzt. Es wird stürmisch, und wir brauchen Schutz. Wenn du mir nicht glaubst, frage deine Schwester, ich bin sicher, sie wird mir recht geben.«
Hengest wandte den Kopf ab, aber nicht schnell genug, um den Schmerz in seinem Gesicht vor dem Besucher zu verbergen.
»Aber wir können doch nicht einfach so unser Land aufgeben«, wandte er flehentlich ein.
»Davon ist ja auch keine Rede«, sagte Ælfric ruhig. »Niemand soll sein Land aufgeben. Jeder soll genau da bleiben, wo er ist, wo seine Vorfahren vor ihm waren, seine Nachkommen nach ihm sein werden. Nur das Eigentum geht auf mich über.«
Berit verzog den Mund zu einem kleinen, freudlosen Lächeln. »Wie glattzüngig Ihr seid, Thane. Genau wie Euer Großvater. Aber seid Ihr auch ein ebenso großer Krieger wie er? Das wüßte ich gern. Ist Euer Schutz wirklich unser Land wert?«
Ælfric erwiderte das Lächeln mit demselben Mangel an Frohsinn, dafür einem deutlichen Anflug von Hohn. »Ich glaube wirklich nicht, daß ich dem Vergleich mit Ælfric Eisenfaust standhalte, Berit …«
»Gott, wie das verfluchte Wikingerpack sich vor ihm gefürchtet hat«, murmelte sie wehmütig.
»Wie dem auch sei. Er und seinesgleichen sind aus der Welt verschwunden. Mein Schutz ist das beste, was ihr kriegen könnt. Und ich werde tun, was ich kann. Darauf habt ihr mein Wort.«
»Und das ist genug«, erwiderte sie unerwartet. »Wie ich sagte. Ich werde den Leuten raten, Euer Angebot anzunehmen. Wenn Ihr zum Vollmond wiederkommt, gehört Metcombe Euch.«
Er verneigte sich knapp.
»Dann laß uns die Einzelheiten besprechen.«
Cædmon hörte aufmerksam zu, während sein Vater, die alte Frau und der Müller über Saatgut, Viehfutter und Bauholz redeten. Berit verhandelte hart und geschickt, es schien, als holte sie mehr aus seinem Vater heraus, als dieser bereit gewesen war zu geben. Doch schließlich wurden sie handelseinig. Ælfric verabschiedete sich höflich und gab ihr ein paar Pennies, die sie dort verteilen sollte, wo die Not am größten war. Cædmon hatte schon auf dem Weg zu Berits Haus alles verschenkt, was er in seinem Brotbeutel trug. Er nickte dem Müller und der Alten zu, folgte dem Beispiel seines Vaters und saß auf.
Berit trat zu ihm und half ihm, den gefühllosen linken Fuß in den Steigbügel zu führen.
Cædmon wünschte, sie würde ihn in Ruhe lassen, und sah verlegen auf den Widerrist seines Pferdes.
Berit strich ihm leicht übers Knie. »Ich sehe, du trägst es mit Fassung, mein Junge.«
Er rieb sich unbehaglich das Kinn an der Schulter. »Es ist nichts. Es vergeht schon wieder.«
Sie runzelte die Stirn, sah kurz zu Ælfric und trat dann zurück. »Ja. Natürlich. Gott schütze dich, Junge.«
»Und dich auch, Berit.« Er hob die Hand und folgte seinem Vater über die niedergetrampelte Wiese zum Ufer des Flusses.
Guthric und Hyld erwarteten sie am Tor und folgten ihnen zum Pferdestall.
Ælfric saß ab und wandte sich an seine Tochter. »Was ist mit Edgar?« Sie hob die Schultern. »Mutter sagt, mit Gottes Hilfe kriegt sie ihn durch.« Sie verschwieg, daß Marie auch gesagt hatte, Edgars Chancen hätten besser gestanden, wenn sie ihn schon am Vortag hätte behandeln können. Hylds Loyalität gehörte in Zweifelsfällen immer Dunstan. Sie war ein hübsches Mädchen von zwölf Jahren, und glich sie auch ansonsten mehr ihrem Vater, hatte sie zumindest die Anmut ihrer zierlichen, normannischen Mutter geerbt. Ein langer blonder Zopf fiel ihr über den Rücken, sie hatte große Hände, die gerne zupackten, und ein ebenmäßiges, beinah herzförmiges Gesicht mit ebenso bestürzend blauen Augen wie Cædmons.
»Es ist eine Blutvergiftung«, fuhr sie fort. »Er ist in einen rostigen Nagel getreten. Der Fuß hat sich entzündet, und rote Streifen liefen sein Bein hinauf. Mutter hat ihn in die Halle bringen lassen und den Fuß dort aufgeschnitten.« Bei der Erinnerung verzog sie das Gesicht und schauderte. »Dann hat sie einen Umschlag aus Birkenrinde darumgelegt, gegen das Fieber. Aber er brennt immer noch.« Sie senkte den Kopf.
Ælfric fuhr ihr über den Scheitel. »Sei nicht so niedergeschlagen, Hyld. Wir sind alle in Gottes Hand.«
Sie nickte, ohne aufzusehen. »Ich weiß. Aber es war so … furchtbar.« »Ja. Ich bin sicher, das war es. Geh nur und sieh, ob du deiner Mutter helfen kannst. Wir kümmern uns schon selbst um die Pferde.«
Hyld eilte zur Halle zurück. Ælfric löste den Sattelgurt, schlang ihn über den hölzernen Sattel und führte seinen Wallach auf das Stalltor zu. Guthric machte ihm Platz.
Ælfric hielt einen Moment an, ließ den Zügel los, holte aus und schlug ihn so hart ins Gesicht, daß Guthric gegen die Stallwand geschleudert wurde. Er zog erschrocken die Luft ein, und noch ehe er das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, schlug sein Vater ihn mit dem Handrücken in die andere Gesichtshälfte.
Guthric legte sicherheitshalber die linke Hand um den Torpfosten und schüttelte kurz den Kopf. »Gott … War’s das?«
»Wenn ich das nächste Mal sage, du sollst mit mir reiten, wirst du nicht verschwinden.«
»Nein, Vater.«
»Und um dich von deiner eitlen Lust am Lesen zu heilen, wirst du Edgars Aufgaben übernehmen, bis er wieder gesund ist oder wir einen neuen Stallknecht gefunden haben.«
Guthric sah einen Augenblick ungläubig zu ihm auf. Dann wandte er den Kopf ab, damit sein Vater das rebellische Aufblitzen in seinen Augen nicht sah. »Wie du willst, Vater.«
Ælfric drückte ihm wortlos die Zügel in die Hand, machte auf dem Absatz kehrt und überquerte mit großen Schritten den Innenhof.
Cædmon zog den Sattel von Beorns Rücken und hängte ihn auf den zugehörigen Holzpflock, nahm dem Pferd die Trense aus dem Maul, spülte sie in einem Eimer Wasser ab, alles ohne einen Ton zu sagen. Guthric stand mit verschränkten Armen an einen Pfosten gelehnt und beobachtete, wie sein Bruder auch das Pferd des Vaters versorgte.
»Du könntest wenigstens einen von beiden abreiben«, knurrte Cædmon wütend.
Guthric zog verwundert eine Braue hoch, nahm eine Handvoll reines Stroh und fuhr dem Wallach damit über die Flanke. »Man könnte beinah meinen, du beneidest mich um meine neue Aufgabe, die, so hörte ich heute morgen, eigentlich schon Dunstan versprochen war. Aber der kostbare Dunstan wird natürlich wieder einmal verschont.« »Nun, wie es aussieht, war’s ja noch nicht zu spät für Edgar, auch wenn Dunstan vergessen hat, Mutter sofort Bescheid zu geben«, sagte Cædmon über die Schulter.
»Ich würde sagen, das bleibt noch abzuwarten. Und ich würde darüber hinaus sagen, das ist überhaupt nicht der Punkt. Oder? Hier wird wieder einmal mit zweierlei Maß gemessen. Wie üblich.«
Cædmon hielt einen Augenblick mit seiner Arbeit inne. »Du hast recht. Wie üblich.« Seine Stimme klang eigentümlich leblos.
Auch Guthric ließ die Hand mit dem Stroh sinken. »Was hast du, Cædmon? War es so schrecklich in Metcombe? Was glaubst du, wieso ich mich gedrückt habe.«
Cædmon neigte den Kopf leicht zur Seite. »Ja. Ich würde sagen, es war schrecklich.«
»Aber das ist es nicht allein?« hakte Guthric nach.
Cædmon antwortete nicht sofort. Schließlich fragte er unvermittelt: »Wenn du an die Hölle denkst, Guthric, was stellst du dir vor?«
Guthric mußte nicht lange überlegen. »Ein eisiges, lebloses Ödland aus schwarzem Fels. Riesig. Endlos. Dann plötzlich ein Abgrund, und darin ein Meer aus Feuer und Schwefel. Warum fragst du?«
Cædmon atmete tief durch und fuhr fort, mit langen, gleichmäßigen Strichen sein Pferd trockenzureiben. »Ich glaube, die Hölle ist in Metcombe. Kälte, Schlamm, Asche, Hunger, ein Ort der Hoffnungslosigkeit. Und ein Ort der Wahrheit.«
Guthric warf das Stroh zu Boden und trat auf ihn zu. »Cædmon …«
Cædmon hob den Kopf und sah ihn an. Zwei Tränen liefen über sein Gesicht, und er tat nichts, um sie wegzuwischen. »Das Bein wird nicht heilen. Ich hab es im Gesicht der alten Frau gesehen. Und Vater wußte es auch. Sie haben mir etwas vorgemacht, Guthric.«
Guthric nickte langsam. »Ja.«
Cædmon war fassungslos. »Du hast es gewußt? Und mir kein Wort gesagt?«
»Ich habe überhaupt nichts gewußt«, wehrte der Jüngere ab. »Aber es ist beinah drei Wochen her und wird und wird nicht besser. Und wenn Mutter dich ansieht … wenn sie glaubt, niemand beobachtet sie, dann verrät ihr Gesicht sie.«
Cædmon wandte sich abrupt ab und entfernte sich hinkend ein paar Schritte. Dann legte er einen Arm um den hölzernen Stützpfeiler und lehnte die Stirn dagegen. »Gott … Warum ich?« Er spürte Guthrics Hand auf der Schulter und schüttelte sie wütend ab. »Warum nicht Dunstan? Warum nicht du?«
»Ich weiß es nicht, Cædmon. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe mir die Frage auch schon ein paarmal gestellt. Denn hätte es mich erwischt, hätte Vater mir bestimmt erlaubt, ins Kloster zu gehen.«
Cædmon lachte leise, verlagerte absichtlich sein ganzes Gewicht auf das linke Bein und fühlte mit einem distanzierten Interesse, wie es einknickte. Er fiel zu Boden und schlug sich den Ellbogen auf. Beinah verspürte er eine Art Genugtuung, als das schwache Brennen sich bemerkbar machte. Er setzte sich auf und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. »Oh, wenn ich diesen verfluchten Dänen nur in die Finger bekommen könnte …«
Guthric hatte sich wieder eine Handvoll Stroh genommen und setzte die Arbeit fort. Hin und wieder sah er auf den gebeugten, reglosen Rücken seines Bruders, und der Anblick verursachte in ihm eine eigentümliche Beklommenheit, beinah ein leises Grauen. Als er dem Wallach Wasser und Heu gebracht hatte, fragte Guthric schließlich: »Und was würdest du tun, wenn du ihn in die Finger bekämest?«
Cædmon ließ die Hände sinken und hob ungeduldig die Schultern. »Ich glaube, darüber möchte ich lieber nicht reden.«
Guthric trat aus der Box des Wallachs und klopfte seinem Bruder im Vorbeigehen leicht auf den Rücken. »Komm mit, Cædmon. Ich will dir was zeigen.«
Guthric führte ihn aus dem Stall, vergewisserte sich, daß ihr Vater nirgendwo in der Nähe war, und huschte an der Hecke entlang zum nördlichen Teil des Innenhofs. Es war Nachmittag, und so früh im Jahr stand die Sonne noch tief; die Hecke warf lange Schatten.
»Komm schon«, raunte Guthric.
»Wohin gehen wir?« fragte Cædmon, ungehalten und doch neugierig. »Zum Brauhaus.«
Es war ein kleines Holzgebäude wie alle anderen im Hof, das jedoch nur selten benutzt wurde. Bier wurde immer für etwa zwei Monate gebraut, die vollen Fässer nicht hier, sondern in einem der verschließbaren Vorratshäuser aufbewahrt.
Vor der Tür stand ein Mann.
Guthric nickte höflich. »Ohthere.«
Der Housecarl erwiderte das Nicken. »Wollt ihr rein?«
»Wenn du so gut sein willst. Und wenn du dichthältst.«
Ohthere hob gleichmütig die Schultern. »Macht ausnahmsweise keinen Unfug.« Er wandte sich zur Tür, zog den schweren Riegel zurück und stieß sie auf. Dann winkte er die beiden Jungen hindurch.
Cædmon folgte Guthric zögerlich. »Was zur Hölle wollen wir hier?« Guthric trat vor ihm in den dämmrigen, fensterlosen Raum. Cædmon folgte. Zuerst nahm er nichts wahr als einen intensiven Hefegeruch. Dann erkannte er ein paar schemenhafte Gestalten.
»Da, Cædmon. Das ist der Pirat, der dich angeschossen hat.«
Vier Männer saßen auf dem feuchten, lehmigen Boden. Sie waren an Händen und Füßen gefesselt, blinzelten gegen das Licht, das plötzlich durch die geöffnete Tür hereinströmte, und sahen dann unbewegt zu ihnen auf. Drei waren blond, einer dunkel. Die Haare hingen ihnen offen bis auf die Schultern, die beiden älteren trugen kurze Bärte. Ihre gürtellosen Gewänder und Hosen waren besudelt und zerrissen, aber aus guter Wolle, erkannte Cædmon, braun oder gar schwarz gefärbt, dunkler als die Kleidung, die Angelsachsen in der Regel trugen. Was immer sie an Schuhwerk besessen haben mochten, hatte man ihnen abgenommen.
Der fünfte Mann lag reglos am Boden. Er hatte die Augen geschlossen, aber die Lider zuckten, er war wach. Sein entblößter Rücken war mit Striemen übersät. Getrocknetes Blut entstellte sein bartloses Gesicht, die Nase war gebrochen. Füße und Waden waren schwärzlich blau von Blutergüssen und grotesk geschwollen. In seinem ganzen Leben hatte Cædmon noch keine so geschundene Kreatur gesehen.
Er wandte sich ab. »O mein Gott …«
»Vater hat sie alle prügeln lassen«, sagte Guthric hinter seiner linken Schulter. »Bis der hier schließlich zugab, auf euch geschossen zu haben. Ich denke, das hätte ich an seiner Stelle auch getan, ganz gleich, ob’s stimmt oder nicht, aber genug ist genug. Jedenfalls, nachdem die Männer ihn endlich in Ruhe ließen, hat Dunstan ihn sich vorgenommen. Und verbringt seither beinah jede freie Minute bei ihm. Ehrlich, Dunstan hat eine echte Schwäche für unseren Erik entwickelt. Und ich könnte mir denken, wenn du Erik hier nach seiner Meinung fragst, wird er dir sagen, die Hölle ist in Helmsby.«
Der Mann schlug die Augen auf, als er seinen Namen hörte, und Cædmon erkannte, daß der Däne nicht viel älter war als er selbst, siebzehn höchstens. Erik bewegte den Kopf, und die dunklen Haare, die einen Teil des Gesichts verdeckt hatten, fielen zurück und entblößten eine langgezogene, frische Schnittwunde auf seiner Wange. Dunkle, graue Augen blickten Cædmon unverwandt an. Dieser wagte nicht, näher zu treten, ihm graute davor, in den Augen des anderen einen Ausdruck von Hohn oder Triumph zu entdecken, wenn er ihn hinken sah.
»Erik … Ist das dein Name? Kannst du mich verstehen?«
Der junge Däne nickte. »Du mußt langsam sprechen.« Er hatte eine unerwartet sanfte, angenehme Stimme.
Aber Cædmon hatte ihm nichts zu sagen. Er hatte sich gewünscht, den Mann zu töten, der ihn zum Krüppel gemacht hatte, aber jetzt, da er ihn vor sich sah, schien die Vorstellung vollkommen irrsinnig. Er hatte sich ein johlendes, bärtiges Ungeheuer mit einem gehörnten Helm vorgestellt, ein langes, blutverschmiertes Schwert in einer fleischigen Faust, eine Streitaxt in der anderen. Nicht das hier.
»Hast du … hast du mich wirklich angeschossen?«
»Ja. Es ist … schwierig, von einem fahrenden Schiff auf ein …«, er suchte nach dem Wort, »auf ein bewegliches Ziel zu schießen. Ich wollte dich töten.«
»Warum?«
»Um zu verhindern, daß du … warnst.«
Cædmon nickte langsam und fragte sich einen finsteren Augenblick lang, ob es nicht für sie beide besser gewesen wäre, wenn Erik ihn mitten ins Herz getroffen hätte. »Aber was hattet ihr hier zu suchen? Was wollt ihr nur immerzu von uns?«
Erik verzog verächtlich einen Mundwinkel. »Jedes Land gehört dem, der es zu erobern vermag. Und wer sein Land nicht verteidigen kann … hat es verwirkt. So wie der eifrige Beter, den ihr … auf den Thron gesetzt habt …«
Einer seiner Gefährten fuhr ihn scharf in einer Sprache an, die für Cædmons Ohren hart und unmelodisch klang, der seinen aber doch so ähnlich war, daß er die Worte »genug« und »vorsichtig« verstand.
Er schüttelte langsam den Kopf. »Ihr wart nichts weiter als Piraten. Euer König hat euch nicht geschickt.«
»Nein.« Eriks Augen wurden glasig. »Nein, nicht … geschickt.« Die Augen fielen zu.
Cædmon wandte sich abrupt ab und trat ins Freie. »Ich will, daß Dunstan ihn zufrieden läßt.«
Guthric war ihm gefolgt. »Da sehe ich schwarz.«
Cædmon blieb vor ihm stehen und rammte wütend seinen Stock in die nasse Erde. »Aber von Rechts wegen sollte er mir gehören.«
Guthric breitete kurz die Arme aus. »Dann sprich mit Vater. Auf dich hört er doch hin und wieder. Fordere dein Recht, ich kann mir nicht vorstellen, daß er es dir abschlägt.«
Cædmon ging ein Licht auf. »Deswegen hast du mich hergebracht, oder? Dieser verfluchte dänische Misthund tut dir leid.«
Guthric schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Ich habe dich hergebracht, damit du weißt, wie die Dinge liegen.«
»Aber du willst doch, daß ich dafür sorge, daß Dunstan ihn zufriedenläßt.«
Guthric wandte den Blick ab. Er starrte in den Schatten am Fuße der Hecke und sagte leise: »Dunstan ist ein Ungeheuer, Cædmon.«
»Dunstan ist unser Bruder. Wieso soll ich nicht glauben, daß er es für mich getan hat?«
»Weil du es in der Regel lieber mit der Wahrheit hältst.«
Cædmon wandte sich wütend ab. »Ich würde sagen, dieser dänische Pirat ist das Ungeheuer. Er ist ohne jedes Recht über unsere Küste hergefallen. Und über Metcombe. Und über mich.«
»Ich bin nicht so sicher, daß er eine Wahl hatte. Sein Onkel befehligte das Schiff. Der Onkel ist tot. Ebenso zwei von Eriks Vettern. Was würdest du tun, wenn Vater von dir verlangte, mit ihm auf einen Raubzug gegen Dänemark zu segeln?«
»Das würde ihm im Traum nicht einfallen.«
»Insofern hast du es leicht mit deinem Urteil.«
Cædmon schnaubte. »Nimm dein Messer, Guthric. Ramm es dir ins Bein. Schneide dir die Sehnen durch, oder was immer es ist. Mach einen Krüppel aus dir. Dann reden wir weiter.«