Metcombe, Dezember 1069
Seit dem frühen Nachmittag tobte ein Schneesturm, daß man meinen konnte, das Ende der Welt sei nun doch endlich gekommen. Es war den ganzen Tag nicht richtig hell geworden – kaum war die Sonne aufgegangen, schoben sich vom Meer die dicken, schwarzen Wolken heran und hüllten die stille Winterlandschaft in gespenstisches Zwielicht. Jetzt war es kurz vor Mitternacht, und der Wind heulte immer noch mit Dämonenstimmen um die Mühle, rüttelte an den Läden und ließ die Balken knarren.
Hengest lag mit offenen Augen im Bett und lauschte. Dann richtete er sich auf. »Da klopft jemand.«
»Unsinn«, sagte die Müllerin. »Das ist der Sturm.«
Doch als die Faust wieder an die Tür hämmerte, konnte es keinen Zweifel geben.
Hengest wollte von ihrem Strohlager aufstehen, aber sie packte seinen Ärmel. »Mach nicht auf! Nur der Wilde Hirte könnte in einer Nacht wie dieser umgehen.«
Der Müller lachte leise. »Laß das nicht Vater Wilfred hören …«
Im Herd war noch ein bißchen Glut. Er zündete einen Kienspan an, führte ihn an den Strohdocht der Öllampe und trug sie zur Tür. »Wer ist da?«
Im Heulen des Sturms erahnte er die Antwort: »Cædmon of Helmsby!« Der Müller öffnete erschrocken die Tür. »Thane! Tretet ein.«
»Danke, Hengest. Kannst du mir sagen, wo ich mein Pferd lassen kann?«
»Bringt es mit herein.«
Erleichtert führte Cædmon Widsith durch die Tür. Die Mühle war größer als die meisten anderen Häuser, trotzdem schien das mächtige normannische Schlachtroß beinah den ganzen freien Raum einzunehmen, und es mußte den Kopf senken, um nicht an die Querbalken zu stoßen, die das Gewicht des Obergeschosses mit dem schweren Mühlstein trugen.
Cædmon brachte seinen durchfrorenen, völlig erschöpften Reisegefährten in die hintere Ecke, wo die beiden Kühe des Müllers standen, und band ihn neben ihnen an.
Dann wandte er sich um und nickte der Müllerin zu. »Verzeiht, daß ich euch einfach so überfalle. Ich …« Er brach ab.
Sie stand von ihrem Lager auf und hielt ihm ihre Decke hin. Wegen der Winterkälte war sie vollständig bekleidet, nur ihr Kopf war unbedeckt. »Hier, Thane. Sie ist noch ganz warm. Nehmt den nassen Mantel ab und wickelt euch in die Decke, während ich das Feuer aufschüre und Euch etwas Heißes mache.«
Schon von ihrer Freundlichkeit wurde ihm wärmer. »Danke.« Er löste die Spange auf der Schulter, die den Mantel hielt, ließ ihn achtlos ins Stroh gleiten und hängte sich die rauhe Wolldecke um.
»Setzt Euch«, drängte der Müller. »Bei allem Respekt, Ihr seht furchtbar aus.«
Cædmon sank auf die Bank nahe am Feuer nieder. In seinem Rücken machte die Müllerin sich zu schaffen, während Hengest eine Handvoll Stroh vom Boden aufnahm und begann, das Pferd trockenzureiben. Niemand sagte etwas. Der Müller und seine Frau wollten keine neugierigen Fragen stellen, und Cædmon war zu durchfroren und erschöpft, um zu reden. Er war keineswegs sicher gewesen, daß er es bis Metcombe schaffen würde. Zweimal war er unterwegs auf Schneewehen gestoßen, die so unüberwindlich schienen, daß er fürchtete, seine Reise sei zu Ende. Irgendwann war er nicht einmal mehr sicher, ob er überhaupt noch dem richtigen Weg folgte.
Als könne der Müller seine Gedanken lesen, sagte er: »Beinah ein Wunder, daß Ihr in diesem Wetter hergefunden habt.«
»Ja. Ja, das ist es wirklich.« Er strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht und steckte die gefühllosen Hände dann unter die Achseln, bis die Müllerin ihm einen dampfenden Becher reichte. Er nahm ihn mit einem dankbaren Lächeln und hielt das Gesicht über die aufsteigende Hitze. Der durchdringende Hefegeruch von heißem Bier drang ihm in die Nase. Es gab nicht gerade viele Dinge, die er so verabscheute wie heißes Bier, aber heute trank er es gierig.
»Seid Ihr hungrig?« fragte sie.
Er nickte beschämt. »Es tut mir leid, ich … ich komme als Bettler an eure Tür. Ich kann nicht nach Hause. Das heißt, ich komme von dort, aber ich fand mein Tor von normannischen Soldaten bewacht.«
Hengest strich Widsith bewundernd über die Stirnlocke, kam dann zum Tisch und setzte sich Cædmon gegenüber. »Ja, wir haben davon gehört, daß ein paar Normannen sich auf Eurer Burg eingenistet haben. Alle Welt rätselt, was es damit auf sich hat. Erst dachten wir, Ihr hättet sie in Euren Dienst genommen und hergeschickt, aber … ähm …«
»Na ja, sie reiten von Dorf zu Dorf und fragen nach Euch.«
Cædmon schloß für einen Moment die Augen. »Seid unbesorgt. Morgen früh werde ich wieder verschwinden. Ich will euch nicht in Schwierigkeiten bringen.«
Hengest und seine Frau tauschten über seinen Kopf hinweg einen beunruhigten Blick.
»Was ist mit meiner Mutter? Und meinen Verwandten?« fragte Cædmon plötzlich erschrocken. »Ich hoffe, die Normannen haben sie nicht auf die Straße gesetzt?«
»Um Gottes willen, nein. Thane, wollt Ihr uns nicht sagen, was passiert ist? Hat der König …«
»Ich bin fertig mit dem König«, unterbrach Cædmon hitzig. »Aber wie es aussieht, ist er noch lange nicht fertig mit mir. Habt ihr irgend etwas von meinem Bruder Eadwig gehört?«
Hengest schüttelte wortlos den Kopf.
Cædmon schlug die Augen nieder. Er fühlte sich so mutlos wie nie zuvor im Leben, und Müdigkeit lag wie Blei auf seinen Gliedern.
»Sobald der Sturm nachläßt, gehe ich nach Helmsby und hole Euren Vetter Alfred«, erbot sich der Müller. »Er wird Euch sagen können, wer die Normannen geschickt hat.«
»Lieber nicht. Vermutlich warten sie nur darauf, daß ich Verbindung zu Alfred aufnehme, und folgen ihm auf Schritt und Tritt.« Dabei hätte er seinen Vetter wirklich gern gesprochen. Und er wollte Gytha und seinen Sohn sehen. Doch am allermeisten, mußte er gestehen, sehnte er sich nach seiner Laute. Aber es war einfach zu riskant. »Wenn du mir einen Gefallen tun willst, Hengest, dann geh zu Alfred, sobald ich fort bin, und sag ihm, daß ich wohlauf bin. Sicher sind er und meine Mutter in Sorge.«
»Aber wo wollt Ihr hin?«
Cædmon hob kurz die Schultern. »Ich weiß es noch nicht. Vermutlich wird mir nichts anderes übrigbleiben, als England für eine Weile zu verlassen.«
Die Müllerin brachte ihm eine Schale mit kochendheißer Hafergrütze und einen Teller mit Brot und Räucheraal.
Cædmon sah sehnsüchtig darauf hinab. »Seid ihr sicher, daß ihr so viel entbehren könnt?«
Hengest nickte lächelnd. »Wir hatten eine gute Ernte, wißt Ihr. Ausnahmsweise braucht sich hier mal niemand Sorgen wegen des Winters zu machen. Und ich bin sicher, Euer Vetter Alfred könnte Euch berichten, daß Eure Schatullen von den Pachteinnahmen bersten.«
Cædmon schwieg und aß gierig. Das Herdfeuer knisterte und wärmte ihm den Rücken. Langsam kehrte Leben in seine gefühllosen Hände und Füße zurück. Als sein ärgster Hunger gestillt war, ließen die hämmernden Kopfschmerzen nach, und die lähmende Schwäche wich aus seinen Gliedern. Er fühlte sich viel besser, gestärkt und in der Lage zu berichten, was er erlebt hatte.
»Habt ihr gehört, was der König in Northumbria getan hat?« fragte er leise.
»Es gibt einen Haufen Gerüchte«, antwortete Hengest. »Haarsträubende Geschichten.«
»Es ist alles wahr. Deswegen habe ich mich mit dem König überworfen.« Nachdem er geflohen war, war er erst einmal zurück nach York geritten, zuversichtlich, daß der König das niemals annehmen und dort ganz sicher nicht nach ihm suchen würde. Cædmon wollte sich vergewissern, daß es Hyld und den Kindern gutging, und er wollte herausfinden, ob Erik etwas über Eadwig in Erfahrung gebracht hatte. Doch in York fand er nur Eriks Onkel Olaf, der ihm sagte, Erik und Hyld hätten die Stadt kurz vor dem Fall der Burg verlassen. Also war Cædmon über einen Monat lang kreuz und quer durch Yorkshire geritten, um sie zu suchen, und hatte gesehen, mit welch grausiger Gründlichkeit die normannischen Soldaten die Befehle ihres Königs ausgeführt hatten.
»Es ist … es ist unbeschreiblich«, sagte er hilflos. »Viele Dörfer sind ganz und gar verlassen. Die Überlebenden haben sich nach Süden aufgemacht. Im Norden gibt es einfach nichts mehr zu essen. Nichts. Das Vieh ist abgeschlachtet, die Ernte verbrannt, auch das Saatgut. Ich habe ungezählte Flüchtlingsgruppen auf den Straßen gesehen, meist Frauen und Kinder. Sie sind … vollkommen verzweifelt.«
Zweimal war er von Banden abgerissener Greise und halbwüchsiger Jungen überfallen worden, die sein Pferd wollten, um es zu schlachten. Aber sie waren schon zu schwach und ausgezehrt, um gefährlich zu sein, er war ihnen einfach davongeritten. Junge, vormals anständige Mädchen hatten sich an seinen Steigbügel gehängt und sich ihm für ein Stück Brot angeboten. Sie glaubten, er sei reich und müsse die Satteltaschen voller Proviant haben, weil er eine gute Rüstung trug und ein so prächtiges Pferd ritt. Dabei hungerte er inzwischen selbst. Schamlos hatte er in des Königs Wäldern gewildert, nur deswegen war er überhaupt lebend bis nach Ely gekommen. Er war nur zwei Nächte dort geblieben. Bruder Oswald, der inzwischen der Prior des mächtigen Klosters war, hatte ihn ebenso wie Guthric gedrängt, ein paar Tage auszuruhen und wieder zu Kräften zu kommen, aber er wagte es nicht. Er wußte, falls der König nach ihm suchen ließ, würden sie hierher sicher zuerst kommen.
»Warum?« fragte die Müllerin verstört. »Warum hat der König das getan?«
»Weil er ein Vieh ist«, spie Hengest hervor. »Ein Satan.«
Cædmons erster Impuls war immer noch, William in Schutz zu nehmen. Aber er tat es nicht. Es war unmöglich. Es gab einfach keine Rechtfertigung.
»Er will, daß die Dänen den Winter über in Northumbria nichts zu essen finden und ihnen nichts anderes übrigbleibt, als heimzukehren. Und er will den Widerstand der Northumbrier brechen. Wenn sie damit beschäftigt sind, ums nackte Überleben zu kämpfen, werden sie keine Kraft für Rebellionen übrig haben. Und wenn sie alle verhungern, dann … dann wird er ihnen keine Träne nachweinen«, schloß Cædmon tonlos. Er vergrub das Gesicht in den Händen. »Ich hab ihm vertraut. König Edward hatte ihm die Krone versprochen, und sie stand ihm zu. Dann mußte er sie sich erkämpfen, und er hat sie bekommen, weil Gott auf seiner Seite war, sagt er. Ich war sicher, er habe recht. Er hat geschworen, dem englischen Volk ein gerechter Herrscher zu sein, und ich hab ihm geglaubt, und jetzt hat er das getan …«
Der Müller legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. »Ihr solltet nicht fortgehen aus England, Thane. So viele tapfere Engländer sind bei Hastings und Stamford Bridge gefallen. Jeder, der übrig ist, wird gebraucht.«
Cædmon ließ die Hände sinken. »Wie meinst du das?«
Der Müller sah ihm in die Augen. »Habt Ihr je von Hereward dem Wächter gehört?«
Cædmon winkte müde ab. »Ein Gesetzloser mit einer Bande von Strolchen. Damit will ich nichts zu schaffen haben.«
»Normannische Reden«, knurrte der Müller mißfällig. »Hereward ist ein englischer Thane genau wie Ihr! Aber anders als Ihr weiß er, wo er steht!«
»Hengest!« rief seine Frau erschrocken aus.
»Ihr solltet nicht vorschnell urteilen«, fuhr der Müller gemäßigter fort. »Hereward will nichts, als seinem Volk zu seinem Recht verhelfen. Und jeden Tag schließen sich ihm neue Männer an. Unter seiner Führung könnte es einen geeinten, schlagkräftigen Widerstand geben.« »Ja, aber zu welchem Zweck, Hengest? Um was zu erreichen?«
»Was schon? Das verdammte Normannenpack zurück über den Kanal zu jagen!« Der Müller schlug sich nachdrücklich mit der Faust aufs Bein. Cædmon schüttelte mutlos den Kopf. »William ist der gesalbte König.« »Wenn er tot ist, nicht mehr.«
»Mann, du redest dich um Kopf und Kragen«, jammerte die Müllerin leise.
Cædmon warf ihr einen überraschten Blick zu. Er hätte nicht gedacht, daß sie ihm mißtraute. Aber er ging nicht darauf ein, sondern sagte zu Hengest: »Ich kann irgendwie nicht daran glauben, daß Hereward gelingen soll, was Harold Godwinson nicht konnte. Aber einmal angenommen, der Widerstand wäre erfolgreich. Wer, denkst du, sollte dann König von England werden?«
»Edgar Ætheling natürlich«, erwiderte der Müller. »Er steht dem Thron am nächsten.«
Cædmon schüttelte langsam den Kopf. »Er würde England kein Glück bringen. Er ist schwach und ein Feigling.«
»Woher wollt Ihr das wissen?« fragte der Müller entrüstet.
Cædmon hob kurz die Schultern. »Ich kenne ihn, und ich weiß, welches Spiel er seit Hastings gespielt hat. Er würde England im Handumdrehen an die Dänen verlieren, er wäre niemals in der Lage, sie uns vom Leib zu halten. Das«, fügte er beinah verzweifelt hinzu, »kann nur William der Bastard.«
Hengest betrachtete ihn kopfschüttelnd. Ein halb verächtliches, halb mitleidiges Lächeln lag auf seinen Lippen, als er schließlich murmelte: »Und Ihr wollt behaupten, Ihr wäret fertig mit ihm?«