Penistone, Oktober 1069

König William zog wieder einmal in atemberaubendem Tempo nach Norden und schlug auf seinem Vormarsch unberechenbare Haken wie ein Hase, um die diversen Rebellionen niederzuschlagen. Er tat es en passant, seine Entschlossenheit, sein Mut und sein taktisches Geschick, die nicht einmal seine erbittertsten Feinde leugnen konnten, verhalfen ihm überall mühelos zum Sieg. Als er auf die Isle of Axholme marschierte, zogen die Dänen sich über den Humber zurück. Sie gedachten nicht, wie der Fuchs in der Falle zu hocken und sich in ihrer Inselfestung aushungern zu lassen.

Cædmon stieß in Südyorkshire auf den König, der in einem der zahllosen kleinen Flußtäler nahe des Dorfes Penistone lagerte, dessen Name unter den normannischen Truppen nicht enden wollende Heiterkeit hervorrief.

Cædmon begab sich umgehend zum Zelt des Königs. Lucien de Ponthieu bewachte den Eingang, und sie begrüßten einander kühl wie gewöhnlich.

»Was zur Hölle tust du hier?« fragte Lucien mit gerunzelter Stirn. »Ich dachte, du verteidigst deine Schweineställe in East Anglia.«

Cædmon winkte ungeduldig ab. »Das habe ich getan, und die Dänen haben meinen Bruder verschleppt. Darum bin ich ihnen gefolgt und war in York, als es fiel.«

Lucien machte große Augen. »Dann geh lieber gleich hinein. Ich bin sicher, das will er sofort hören.«

»Ja. Wo ist Etienne?«

»Irgendwo nördlich des Humber. Er führt einen Spähtrupp an, der die Bewegungen der Dänen verfolgen soll.«

Cædmon nickte und betrat das Zelt.

König William stand mit einem schlichten Zinnbecher in der Hand mit ein paar normannischen Adligen zusammen. Sie berieten das weitere Vorgehen, und Cædmon erkannte an den erhobenen Stimmen, daß sie sich nicht einig waren. Der König lauschte der hitzigen Debatte schweigend, mit gerunzelter Stirn. Er wirkte bleich, und seine Augen waren gerötet; man konnte ihm mühelos ansehen, daß er seit Wochen nicht genügend geschlafen hatte. Sein Kinn war unrasiert, sein Kettenhemd hier und da angerostet und stumpf. Im Zelt war es kalt, das kleine Kohlebecken in der Mitte kam gegen die nasse Herbstkälte nicht an. Hinter der Gruppe erahnte Cædmon im Schatten ein paar Decken am Boden – das königliche Lager. Williams Armeen marschierten immer mit leichtem Gepäck. Es bedeutete, daß jeder Mann, er selbst eingeschlossen, auf alle Bequemlichkeiten verzichten mußte, aber es machte sie schnell.

Cædmon trat ohne zu zögern näher, ignorierte die streitenden Offiziere und sank vor dem König auf ein Knie nieder.

William betrachtete ihn unbewegt. »Ich erhielt Eure Nachricht aus York. Und ich war sicher, Ihr hättet Euren Ungehorsam mit dem Leben bezahlt.«

Cædmon rieb sich das Kinn an der Schulter. »Ich habe getan, was Ihr befohlen hattet, Sire.« Und er betete inständig, daß die Dänen kein zweites Mal den Ouse hinaufgekommen waren, nachdem er von Helmsby aufgebrochen war.

Der König nickte und fuhr sich kurz mit der Hand über die Stirn. »Ich weiß, ich weiß. Ihr habt Wort gehalten, und das werde ich auch tun. Steht schon auf. Und berichtet uns von York.«

Cædmon schilderte, was er gesehen und erlebt hatte, und sein Mund wurde immer trockener. Er hatte schon gelegentlich erlebt, wie diese unheimliche, eiskalte Wut in William aufstieg – der König war ein jähzorniger Mann, und es geschah relativ häufig. Diese Wut war schon am Werk gewesen, als Cædmon eintrat. Er hatte sie auf den ersten Blick erkannt, darum war er schlagartig nervös geworden. Jetzt fing er an zu schwitzen. Der König lauschte ihm schweigend, nichts regte sich in seinem Gesicht. Aber Cædmon sah einen Zorn in seinen Augen, wie er ihn noch nie erlebt hatte. Er hatte etwas Unmenschliches, etwas ganz und gar Erbarmungsloses an sich, das Cædmon mit einem hilflosen, kläglichen Entsetzen erfüllte.

»Ihr sagt nicht viel über die Leute von York, Cædmon«, bemerkte William ausdruckslos, als er geendet hatte. »Haben sie Widerstand geleistet? Oder sind sie geflohen?«

Cædmon schüttelte den Kopf und senkte den Blick. »Nein, Sire. Manche mögen geflohen sein, aber sie … haben keinen Widerstand geleistet.«

»Sondern den Dänen und Schotten und englischen Verrätern die Tore geöffnet und sie überschwenglich willkommen geheißen, das wolltet Ihr doch sagen, nicht wahr?«

»Ja.« Es klang tonlos. Cædmon räusperte sich. »Ja, ich fürchte, so war es.«

»So wie überall in Northumbria«, murmelte fitz Osbern, Etiennes Vater. Selbst ihn machte die Stimmung des Königs offenbar beklommen. »Kein Wunder, daß die Dänen nach York zurückziehen. Ich bin überzeugt, sie wollen dort überwintern. Unter Freunden, könnte man wohl sagen«, schloß er bitter.

»Aber York ist nur noch ein Haufen verkohlter Trümmer«, wandte Cædmon ein, zu nervös, um seine Zunge zu hüten.

Der König nickte versonnen. »Ja, ja. Aber ein befestigter Trümmerhaufen …«

»Wir sollten auf keinen Fall zulassen, daß sie sich in der Stadt verschanzen«, meinte Robert, der Halbbruder des Königs. »Eine Winterbelagerung mit der feindseligen Bevölkerung und der schottischen Bedrohung in unserem Rücken ist zu riskant. Wir …«

»Du hast recht, Robert«, stimmte der König leise zu. »Und ich schwöre euch, nicht die Dänen, sondern wir werden Weihnachten in York verbringen. Auf dem Weg dorthin werden wir uns des Problems der aufrührerischen Bevölkerung … entledigen. Und die Dänen können nach Hause segeln oder im winterlichen northumbrischen Ödland verhungern.«

Für einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann fragte sein Bruder: »William, was habt Ihr vor?«

Der König trat achtlos an ihm vorbei und schlug den Zelteingang zurück. »Lucien.«

»Mein König?«

»Seht Ihr die Schafherden dort drüben?«

»Ja, Sire.«

»Nehmt fünfzig Männer, reitet auf die Weiden und macht sie nieder.« »Ja, Sire.«

»Dann reitet Ihr weiter in dieses Dorf dort unten, tötet das Vieh und verbrennt die Ernte in den Scheunen. Auch das Saatgut.«

»Ja. Sire.«

»William …«, begann Robert in seinem Rücken, und der König fuhr zu seinem Bruder herum.

»Sei still! Sag kein Wort, Robert, tu uns beiden den Gefallen.« Sein erhobener Zeigefinger zitterte leicht.

Er drehte sich wieder zu Lucien um. »Und dann, Lucien, wenn Ihr mit dem Vieh und der Ernte fertig seid, tötet Ihr die Männer.«

Vor dem Zelt war keine Antwort zu hören.

»Lucien? Habt Ihr mich verstanden?«

»Ja. Ich … ich habe verstanden, Sire.«

»Gut. Tötet die Männer, am besten auch die Knaben. Was Ihr mit den Frauen macht, ist mir gleich. Dann reitet Ihr weiter zum nächsten Dorf, und dort tut Ihr dasselbe. Und so weiter. Und morgen, wenn wir nach York ziehen, werdet Ihr ausschwärmen und Euer Werk fortsetzen, Ihr und jeder meiner Männer, der mir ergeben ist. Tötet jeden, der Widerstand leistet. Und vor allem, vernichtet die Ernte. Wenn die Leute von Northumbria hungrig genug sind, werden sie schon zahm. Und wenn ihre dänischen und schottischen Befreier keinen Proviant mehr finden, werden sie die Lust verlieren und nach Hause gehen.«

Lucien de Ponthieu besaß zumindest genug Anstand, sich unbehaglich zu räuspern, ehe er sagte: »Ich werde tun, was Ihr wünscht, mein König.«

»Nein! Warte, Lucien!« Cædmon trat einen Schritt vor.

Der Bruder des Königs legte ihm eine warnende Hand auf die Schulter. »Macht Euch nicht unglücklich, Junge«, raunte er. »Hier ist ohnehin jedes Wort verschwendet.«

Cædmon hörte ihn nicht. Er riß sich los, beging die unverzeihliche Anmaßung, den König leicht am Arm zu berühren, so daß William sich zu ihm umwandte, und fiel vor ihm auf die Knie. »Das könnt Ihr nicht tun!«

Die Männer im Zelt und Lucien, der im Eingang stand, starrten ihn mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen an. Der Bruder des Königs trat unauffällig einen halben Schritt zurück, als versuche er unbewußt, sich von ihm zu distanzieren. Er mochte Cædmon of Helmsby gern, aber mit diesem selbstmörderischen Irrsinn wollte er lieber nichts zu schaffen haben.

Der König sah ausdruckslos auf Cædmon hinab, nur seine Stimme verriet eine gewisse Verblüffung. »Wie war das?«

»Tut das nicht, Sire, ich … flehe Euch an. Ihr habt ja recht, die Northumbrier sind rebellisch und waren es immer schon; selbst den angelsächsischen Königen wollten sie keine Gefolgschaft leisten …« Es war ein hastiger Wortschwall, und er unterbrach sich, versuchte, sich zusammenzureißen, und atmete tief durch. Zum erstenmal bemerkte er die vollkommene Stille im Zelt. »Aber es wäre … ein furchtbares Verbrechen. Eurer nicht würdig.«

Nur ein winziges Blinzeln verriet, daß William in seinem rasenden Zorn nicht völlig taub geworden war. Ohne Hast, mit bedächtigen Bewegungen zog er sein Schwert und setzte Cædmon die Spitze an die Kehle. »Nur weiter.«

Cædmon schloß die Augen. »Es sind doch nur Bauern, sie … stellen doch keine Gefahr dar. Und es sind Engländer, und Ihr … Ihr habt geschworen, ihnen ein gerechter König zu sein. Aber wenn Ihr das tut, was Ihr vorhabt, werden sie alle verhungern. Ihr seid ein gottesfürchtiger, frommer Mann, Sire. Doch … was Ihr tun wollt, wird Gott Euch nicht vergeben …« Er brach ab.

Einen Augenblick spürte er die kühle Klinge noch unterhalb seines Adamsapfels, aber sie stieß nicht zu, sondern verschwand. Cædmon hob den Kopf und sah William sein Schwert einstecken. Dann blickte der König kopfschüttelnd auf ihn hinab. »Wißt Ihr, Euer Mut hat mir immer gefallen, aber Ihr verschwendet ihn seit jeher an Dinge, die es nicht wert sind.« Dann fuhr er zu Lucien herum und wies mit dem Finger auf Cædmon, der immer noch reglos am Boden kniete. »Sperrt ihn ein. Und befreit ihn von der Verräterhand, die er gegen mich erhoben hat.«

Lucien nickte, packte Cædmons linken Arm, zerrte ihn auf die Füße und in den unablässigen Oktoberregen hinaus. Cædmon torkelte neben ihm her, fühlte ein Brausen wie ein Sturm in seinen Ohren, sein Gleichgewichtssinn schien nicht mehr vorhanden, und er hatte den Verdacht, daß er im Begriff war, in Ohnmacht zu fallen.

»Welche war’s denn?« fragte er atemlos. »Links oder rechts?«

»Ich habe keine Ahnung, Cædmon«, antwortete Lucien gleichgültig. Er winkte zwei seiner Männer zu sich, die ihnen zu einem abgelegenen, kleinen Zelt am Rande des Lagers folgten, gleich am Bachufer. Es war die Waffenschmiede. Mit einem Blick schickte Lucien den Schmied hinaus. Die Glut in der Esse verströmte eine dumpfe Hitze, fast sofort begannen ihre Mäntel zu dampfen. Ein geborstenes Schwert lag auf der Werkbank. Cædmon starrte gebannt auf den Amboß und rechnete damit, daß Lucien ihn auffordern würde, die Hand, von der er sich besser trennen konnte, daraufzulegen. Er war keineswegs sicher, daß er es fertig bringen würde. Er riß den Blick mit Mühe von dem massiven Block los und sah in das Gesicht, das Aliesas so sehr glich. »Ich glaube nicht, daß ich so gut damit fertig werde wie du«, gestand er offen.

Lucien schüttelte ungeduldig den Kopf. »Mach dir nicht in die Hosen, ich werde dir keine Hand abhacken.« Er sah zu seinen Männern. »Albert, du gehst und holst sein Pferd. Ein großer Apfelschimmel mit irgendeinem unaussprechlichen angelsächsischen Namen. Und du besorgst ihm Proviant, Pierre. Beeilt euch und seid unauffällig. Dann gebt den anderen Bescheid, sie sollen satteln lassen. Wir brechen in einer halben Stunde auf.«

Die Männer nickten und traten hinaus.

Cædmon sah ihnen verwirrt nach. »Aber … was tust du?«

»Wonach sieht es denn aus?«

»Du willst, daß ich fliehe?«

»So ist es. Sollte der König auf die Idee kommen, nach dir zu fragen, werde ich sagen, du habest mich überrumpelt. Er wird nicht beglückt sein, aber er wird es verzeihen, weil er einen solchen Narren an dir gefressen hat.«

»Und deine Männer?«

»Sind dem König sehr ergeben, aber mir noch eine Spur ergebener. Sie werden schweigen.«

»Wieso … wieso tust du das?« fragte Cædmon verständnislos.

Lucien betrachtete ihn ohne alle Sympathie. Dann zuckte er ungehalten mit den Schultern. »Was weiß ich. Vielleicht, weil meine Schwester so große Stücke auf dich hält. Oder vielleicht, damit dein untadeliger Ruf endlich einmal Schaden nimmt. Deine unbefleckte Ehre ist mir seit Rouen ein Dorn im Auge. Oder vielleicht … vielleicht weil ich hoffe, daß Gott dann wenigstens mir vergibt, wenn schon nicht dem König.«

»Aber er kann dich doch nicht zwingen, gegen deine Überzeugung …« Lucien schnitt ihm mit einer barschen Geste das Wort ab. »Doch, natürlich kann er das. Er ist der König, wann wirst du das endlich begreifen? Und täusch dich nicht, ich verabscheue dieses ganze rebellische Engländerpack genauso wie dich, es wird mir nicht den Schlaf rauben, ihnen eine Lektion zu erteilen.«

Doch, dachte Cædmon, das wird es. »Lucien, ich beschwöre dich, laß ihnen wenigstens die Chance zu überleben. Du kannst …«

»Da ist dein Pferd, Cædmon. Sitz auf und verschwinde, oder leg die Hand auf den Amboß. Mir ist es gleich, aber tu eins von beiden, und zwar jetzt gleich.«

Cædmon trat aus dem Zelt. Über die Schulter sagte er: »Danke, Lucien.«

»Ja, ja. Sieh zu, daß du wegkommst. Ich hoffe, du brichst dir den Hals.«

Das zweite Königreich
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