Dover, Juli 1076
Ein etwa zwei Fuß breiter Leinenstreifen lag auf dem kostbaren byzantinischen Tisch, drei Köpfe waren emsig darüber gebeugt.
»Wir sollten nur die vorderen drei oder vier Pferde hintereinander galoppierend darstellen«, sagte Hyld nachdenklich. »Die nachfolgenden zeichnen wir versetzt nebeneinander. Das gibt den Eindruck einer geschlossenen Reihe von Reitern und dem Bild mehr Dichte.«
»Aber es müssen genug sein, daß es wie eine Armee aussieht«, erinnerte Odo sie etwa zum zehnten Mal.
»Und die Reitergruppe muß so weit in die Länge gezogen sein, daß darüber genug Platz für die Inschrift ist«, gab Bruder Oswald zu bedenken.
»Wie lautet die Inschrift gleich wieder?« fragte Hyld seufzend. Dieser unsinnige Buchstabensalat in ihren kunstvollen Bildern war ihr ein Dorn im Auge.
Oswald zog ein eselohriges Stück Pergament zu Rate. »Mal sehen … Hier ist es: ›Und sie zogen in den Kampf gegen König Harold‹. Also etwa: ›et venerunt ad prelium contra Haroldum rege‹.«
»Regem«, verbesserte Odo mit vorwurfsvollem Unterton.
»Ihr habt natürlich recht«, räumte Bruder Oswald ein, richtete sich auf und drückte die Hand in sein schmerzendes Kreuz. »Ich bin so müde, daß ich kein Latein mehr kann«, gestand er.
Hyld ignorierte seine Klage. »Zeichnet die Buchstaben ein, Bruder, damit ich sehe, wie breit die Reitergruppe werden muß. Und was soll oben und unten in die Borte, Monseigneur?« fragte sie den Bischof. Odo dachte einen Moment nach. »Oben vielleicht ein Angelsachse und seine Frau? Sie bringt ihm in aller Eile die Rüstung, ehe er sie ein letztes Mal …«
»Ihr wollt noch mehr nackte Menschen in der Borte?« fragte Oswald ungläubig.
Der Bruder des Königs klopfte dem Mönch die magere Schulter. »Nur weil Ihr sie so vortrefflich zeichnet, mein Freund. Und dieser Teppich soll so viele Details erzählen wie nur möglich …«
»Warum konntet Ihr mich nicht in meinem Kloster in Winchester lassen?« brummte Oswald. »Ich werde ein Jahr auf den Knien verbringen müssen, um für all diese anstößigen Zeichnungen zu büßen.«
Odo lachte. »Wenn das so wäre, sähe man keinen Benediktiner je anders als auf den Knien rutschend, bei all den nackten Weibern, die ihr in eure frommen Illuminationen schmuggelt … ähm, ich bitte um Verzeihung, Madame.«
Hyld grinste und trat ans Fenster, wo fünf Frauen um einen langen, schmalen Rahmen herumsaßen, in den einer der Leinenstreifen eingespannt war, und die Stickereien auf den von Oswald und Hyld angefertigten Zeichnungen ausführten. Sie verwendeten Wollgarn in acht verschiedenen Farben, und Hyld mußte gestehen, daß das Ergebnis in der Tat prachtvoll und farbenfroh wirkte, die Posen der Pferde und die Gesichter der Reiter so lebhaft, daß man meinen konnte, im nächsten Moment müsse man das Donnern vieler Hufe hören und sie alle aus dem Bild preschen sehen. »Dieser Schild ist wunderbar, Hedwig«, lobte sie die Novizin aus Canterbury, die Jüngste und Unsicherste unter den Stickerinnen.
»Aber es wird Jahre dauern, all die kleinen Ringe der vielen, vielen Kettenhemden zu sticken«, klagte Mildred, Hedwigs ältere Mitschwester. »Können wir nicht einfach nur den König und den König … ich meine König William und Harold Godwinson in Rüstungen stecken?« »Nein, Madame«, widersprach Odo entschieden, der hinzugetreten war. »Denn wir wollen bei der Wahrheit bleiben, und alle normannischen Ritter wie auch viele der englischen Housecarls trugen prächtige Rüstungen. War’s nicht so, Cædmon?«
Der Angesprochene saß mit angezogenen Knien auf dem breiten Fenstersims und starrte in den sonnenbeschienenen Hof hinaus. »Sicher, Monseigneur«, murmelte er.
Odo stemmte die Hände in die Seiten. »Hättet Ihr wohl die Güte, mich anzuschauen, wenn ich mit Euch rede, Thane?«
Betont langsam wandte Cædmon den Kopf.
Odo winkte seufzend ab. »Nein, vielleicht lieber doch nicht. Dieser waidwunde Blick geht mir inzwischen doch gar zu arg auf die Nerven. Ich wüßte es wirklich sehr zu schätzen, wenn Ihr Euch ein wenig an dieser schwierigen Aufgabe beteiligen wolltet. Ihr und ich sind schließlich die einzigen hier, die bei Hastings waren. Und gerade auf englischer Seite habt Ihr sicher mehr Details beobachtet als ich. Wie wäre es, wenn Ihr uns ein wenig unterstützen würdet?«
Cædmon erhob sich ohne Eile von seinem sonnenwarmen Fensterplatz und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. »Andernfalls?«
»Du meine Güte, wie streitsüchtig Ihr seid, Cædmon. Ich bitte Euch lediglich um Eure Hilfe.«
»Vielleicht könnte ich mich für Euren Bilderteppich eher erwärmen, wenn Ihr mich zur Einweihung Eurer Kathedrale mit nach Bayeux nehmen würdet.«
Odo trat einen Schritt näher auf ihn zu, verschränkte die Arme und sah ihn an. »Damit Ihr Euch davonmachen und nach Caen reiten könnt, meint Ihr, ja? Das könnt Ihr Euch aus dem Kopf schlagen! Selbst wenn Ihr je dorthin kämet, die Schwestern haben strengste Anweisung, Euch unter keinen Umständen, ganz gleich unter welchem Vorwand, mit ihr in Kontakt treten zu lassen.«
Cædmon blinzelte fast unmerklich, wandte sich brüsk ab und ließ den Bischof einfach stehen. Im Vorbeigehen sagte er zu den Stickerinnen: »Ladies, die Farbe, die Ihr jetzt vor allem braucht, ist Rot.«
Die Wache an der Tür versperrte ihm den Weg. Cædmon blieb mit gesenktem Kopf stehen. Über seine Schulter hinweg wechselte der Soldat einen Blick mit Odo. Der zögerte einen Moment, ehe er mit einem ärgerlichen Wink seine Erlaubnis erteilte. Die Wache öffnete die Tür, ließ Cædmon höflich den Vortritt, folgte ihm aber dicht auf den Fersen und begleitete ihn bis zu seinem Quartier. Nachdem Cædmon eingetreten war, zog der Mann die Tür zu, verriegelte sie und bezog davor Posten. Cædmon ging langsam ans Fenster, das viel zu klein war, um hindurchzuklettern, selbst wenn es nicht im dritten Stock gelegen hätte. Er sah auf den Ausschnitt des Innenhofs und der Palisaden hinab, die ihm inzwischen in jeder noch so kleinen Einzelheit vertraut waren, dann hob er den Blick und starrte aufs Meer, das wie ein weißgefleckter blauer Teppich in der Ferne lag. Ein kleiner werdender Punkt bewegte sich auf den Horizont zu. Jeden Tag überquerten Schiffe von Dover aus den Kanal, segelten nach Flandern, Dänemark, den deutschen Nordseehäfen oder in die Normandie. In seiner Phantasie war Cædmon immer an Bord, war aus diesem zugegebenermaßen komfortablen Gefängnis entkommen, unbemerkt zum Hafen hinuntergelangt und hatte den erstbesten Handelssegler bestiegen. In seiner Phantasie hatte das Blatt sich endlich zu seinen Gunsten gewendet: Der Handelssegler brachte englische Wolle nach Fécamp oder englisches Leder nach Dieppe, wo er mühelos im Hafengewimmel untertauchte, ein paar Meilen zu Fuß lief, ehe er einem Bauern ein Pferd stahl und nach Caen ritt …
Stundenlang beschäftigte er sich manchmal mit diesen Träumereien. Er konnte nicht essen, nicht beten und nicht schlafen, er konnte nicht einmal die Laute spielen. Das einzige, was ihn aus seiner Lethargie zu reißen vermochte, waren der Anblick der See und die Bilder, die er heraufbeschwor. Er wußte, daß er sich in geradezu schändlicher Weise gehen ließ. Nur fiel ihm einfach nichts ein, wofür es sich lohnen könnte, sich zusammenzureißen. Er erinnerte sich, daß er nicht hatte sterben wollen, als er krank war. Aber dieses Leben wollte er auch nicht.
Hyld machte einen Inspektionsrundgang in den umliegenden Räumen, wo je vier oder fünf Frauen an den übrigen fünf Teilstücken des Teppichs stickten, die bereits fertig entworfen und vorgezeichnet waren. Im großen und ganzen war sie zufrieden. Nur ihre Freundin Gunnild, die sie aus Helmsby mit hergebracht hatte, hatte sie zum wiederholten Male bitten müssen, ein fertiges Stück wieder aufzutrennen, weil es nicht sorgsam genug gestickt war. Sie zog ernsthaft in Erwägung, Gunnild nur noch die Randmuster der Borte sticken zu lassen, denn ihre Figuren sahen alle wie mißgestaltete Gnome aus, Normannen ebenso wie Engländer.
»… nicht mehr lange dauern, bis ich die Geduld mit ihm verliere«, hörte sie den Bischof grollen, als sie in sein privates Gemach über der Halle zurückkam.
Er war allein mit Bruder Oswald; die fleißigen Stickerinnen machten eine wohlverdiente Pause und waren in den Hof hinuntergegangen, um sich ein wenig die Beine zu vertreten. Hyld nahm ihren pfeilspitzen Kohlestift wieder auf, beugte sich über die halbfertige Reitergruppe und sagte beiläufig: »Wenn Ihr ihn wieder einsperrt, könnt Ihr die Bilder der glorreichen Schlacht von Hastings selber sticken, Monseigneur.« Odo seufzte tief und schenkte sich einen Becher Wein ein. »Davon ist ja keine Rede. Ich kann nur einfach nicht begreifen, wie ein Mann wegen einer Frau in solche Düsternis versinken kann.«
»Nein, wie auch«, bemerkte sie spitz. »Eure Leidenschaft verzehrt sich immer so schnell, daß sie längst ausgebrannt ist, ehe irgendwelche tieferen Gefühle sich entwickeln könnten.«
Sie verbrachten seit zwei Monaten beinah jede Stunde des Tages zusammen, und die gewaltige Aufgabe, die sie sich gesetzt hatten, schuf eine ungewöhnliche Vertrautheit. Inzwischen kannten sie einander recht genau. Hyld war auch keineswegs verborgen geblieben, daß der Bruder des Königs sie gern der langen Reihe seiner Eroberungen hinzugefügt hätte. Behutsam, aber entschieden hatte sie ihn wissen lassen, daß das nicht in Frage kam. Und obwohl oder auch gerade weil sie ihn abgewiesen hatte, war Odo ihr freundschaftlich verbunden und ließ sich von ihr Dinge sagen, die er anderen nie nachgesehen hätte.
»Und gerade Cædmons Beispiel zeigt, daß ein Mann gut beraten ist, keiner Frau in die Falle zu gehen«, konterte er ungerührt.
»Ein Bischof ist vor allem gut beraten, sich überhaupt nicht mit Frauen einzulassen«, raunte Bruder Oswald der nackten Männerfigur zu, die er gerade zeichnete.
Hyld schaute ihm über die Schulter und errötete leicht, als sie die gewaltige Erektion der Figur sah. »Bruder Oswald!« rief sie schockiert. »Man muß sich wirklich fragen, in welche Richtung Eure Phantasie schleicht. Denkt doch wenigstens an die armen Schwestern, die die Stickerei ausführen müssen.«
Er trat einen Schritt zurück, legte den Kopf schräg und betrachtete sein Werk. »Zu groß? Na schön, noch ist es nicht endgültig.« Er rieb mit dem Finger über die dünne Linie, bis das Prachtstück verschwunden war. Dann warf er sein Kohlestück achtlos auf den Tisch und streckte sich. »Ich glaube, ich brauche eine Pause.«
Er setzte sich auf den Fenstersims, zog ein Bein an und verschränkte die Arme darauf. »Vielleicht solltet Ihr Cædmon wenigstens nach Hause reiten lassen, Monseigneur. Jetzt beginnt die Ernte, und außerdem baut er doch eine Kirche. Er hätte so viel zu tun …«
»Es ist ausgeschlossen, Bruder«, unterbrach Odo ungeduldig. »Nicht einmal wenn er mir sein Wort gäbe, Helmsby nicht zu verlassen, könnte ich ihm trauen. Er ist einfach unberechenbar, wenn es um Aliesa geht.«
»Ich glaube, Ihr begreift beide nicht, was in ihm vorgeht«, sagte Hyld. »Wie einsam er wirklich ist.«
»Aber er hat es immer gewußt, Hyld«, entgegnete Odo. »Er hat gewußt, daß das eines Tages passieren würde und daß er seinen Freund dann ebenso verlieren würde wie seine Geliebte.«
»Was soll ihm das helfen, daß er es gewußt hat? Wenn ein Dieb ein Goldstück stiehlt, weiß er, daß der Sheriff ihm die Hand abhacken läßt. Macht das Wissen den Verlust erträglicher? Oder den Schmerz?«
»Nein«, räumte Odo ein.
»Und Ihr vergeßt den Prinzen«, fuhr sie fort und mußte einen Augenblick überlegen, bis ihr der Name einfiel. »Richard.«
Odo senkte den Kopf und nickte. »An dem Verlust tragen wir alle schwer.«
»Ja, aber Herrgott noch mal … Cædmon hat sie alle gleichzeitig verloren! Versteht Ihr das denn nicht? Er steht mit völlig leeren Händen da. Ich weiß, daß Ihr ihm sein Verhältnis mit Aliesa de Ponthieu nicht wirklich verübelt, Monseigneur, das … ähm … könnt Ihr Euch gar nicht leisten. Also habt ein bißchen mehr Geduld mit ihm und übt Nachsicht, bis er wieder Boden unter die Füße bekommt.«
Odo sah hingerissen in die tiefblauen Augen, die sich im Zorn noch um eine Schattierung verdunkelten, und fragte: »Wann, sagtet Ihr, Madame, erwartet Ihr Euren Piraten aus Grönland zurück?«
Hyld stöhnte und wandte sich hilfesuchend an Oswald, doch ehe der Bruder zu einer spitzen Bemerkung ansetzen konnte, trat auf leisen Sohlen ein Diener ein und meldete: »Monseigneur … Prinz Rufus, Prinz Henry, Eadwig of Helmsby und Leif Guthrumson.«
Odos Miene hellte sich auf. »Herein mit ihnen. Und bitte den Thane of Helmsby her.«
Cædmon hätte die »Bitte« gern mißachtet, denn er hatte nicht das geringste Bedürfnis, Rufus wiederzusehen. Doch die Wache vor seiner Tür nahm ihm die Entscheidung ab. Nachdem der Diener die Nachricht überbracht hatte, hielt der Soldat höflich die Tür auf und sah auffordernd zu Cædmon hinüber. Cædmon wußte, wenn er sich weigerte, würde der Mann die höfliche Maske kurzerhand fallenlassen, ihn packen und nach unten schleifen. Also ging er lieber freiwillig.
Von der Tür aus beobachtete er sie einen Moment. Leif und Eadwig bewunderten das halbfertige Teilstück des Teppichs in dem Rahmen am Fenster. Hyld hatte sich bei ihrem Bruder und ihrem Schwager eingehakt und erklärte ihnen, was die Bilder darstellten und was noch hinzukommen sollte.
Derweil erläuterten Odo und Bruder Oswald Rufus den Entwurf auf dem Tisch. Henry stand auf Zehenspitzen am Fenster und versuchte vergeblich, hinauszusehen.
Eadwig wandte plötzlich den Kopf und entdeckte seinen Bruder. »Cædmon!« Er lächelte, aber Cædmon war nicht entgangen, daß die Augen sich einen winzigen Moment erschreckt geweitet hatten. Sah er denn wirklich so furchtbar aus?
Rufus’ Kopf ruckte hoch, als er den Namen hörte.
Cædmon trat zu ihm und verneigte sich förmlich. »Mein Prinz.«
»Cædmon.« Rufus lächelte unsicher. Auf einmal wirkte er viel jünger als seine zwanzig Jahre, beinah knabenhaft. Er schluckte sichtlich. »Wir hörten, du seiest krank. Ich hoffe, du bist vollständig genesen?« »Ja, vielen Dank.« Er sah dem Prinzen unverwandt in die Augen, schien überhaupt nicht wahrzunehmen, wie der Blick sich in die Länge zog, und Rufus war unendlich erleichtert, als Eadwig hinzutrat und Cædmon ungestüm an sich zog. »Bruder! Du bist immer noch dürr wie ein Rindvieh im Frühjahr.«
Cædmon lächelte kurz. »Dabei gibt Hyld sich solche Mühe, mich zu mästen. Was verschlägt euch hierher?«
»Lanfranc hat nach Rufus geschickt. Und es ist so grauenhaft langweilig in Winchester, also haben wir uns gedacht, wir leisten ihm Gesellschaft. Und den kleinen Plagegeist haben wir mitgenommen, weil er so ein Trauerkloß ist in letzter Zeit. Seine Mutter meinte, eine Reise täte ihm gut.« Er wies auf den achtjährigen Henry.
»Was gibt es Neues in Winchester?« wollte Bruder Oswald wissen.
Eadwig hob kurz die Schultern, nahm dankbar den Becher, den ein Diener ihm reichte, und trank. Dann antwortete er: »Gar nichts. Das letzte große Ereignis war Waltheof of Huntingdons Hinrichtung vor zwei Monaten. Ich nehme nicht an, daß ihr hören wollt, wie er mitten im Paternoster zu heulen anfing und jeden Engländer bis auf die Knochen beschämt hat?«
»Du warst da?« fragte Hyld, ihre Mißbilligung war unüberhörbar.
Eadwig nickte. »Der Sheriff befürchtete Unruhen, jeder verfügbare Mann war da. Aber alles blieb friedlich. Waltheof gab so eine traurige Figur ab, daß auch die Engländer erleichtert waren, als der Scharfrichter seinem Gewinsel schließlich ein Ende machte.«
»Wie kannst du nur so reden?« fragte sie aufgebracht. »Ohne ihn wäre der König vermutlich gestürzt! Und wie hat er Waltheof seine Treue gedankt?«
»Waltheof hat ein bißchen lange gezögert, seine Treue unter Beweis zu stellen, Madame«, wandte Odo behutsam ein.
»Mag sein. Aber die wahren Verräter leben noch«, gab sie zurück.
»Ralph de Gael nur deswegen, weil er geflohen ist«, sagte Rufus. »Und Roger fitz Osbern …«, sein Blick glitt unwillkürlich in Cædmons Richtung, als er den Namen aussprach, aber er hielt den Kopf gesenkt und beendete den Satz: »ist meines Vaters Neffe, Madame. Ihr müßt zugeben, daß das einen Unterschied macht, der nichts mit der Frage ob Engländer oder Normanne zu tun hat. Glaubt mir, bei Verrätern macht der König keine Unterschiede …«
Cædmon verspürte ein wirklich flaues Gefühl in seinem leeren Magen. Er wollte nichts von alldem hören. Unbemerkt schlenderte er zum Fenster hinüber. Henry hatte den Versuch aufgegeben, in den Hof hinunterzuschauen. Der Sims war etwa auf der Höhe seiner Nasenspitze, aber so tief, daß er vom Ausblick nichts sehen konnte.
»Möchtest du, daß ich dich hochhebe, Henry?« fragte Cædmon leise. Der blonde Lockenkopf fuhr zu ihm herum, und die Augen, die zu ihm aufsahen, erinnerten Cædmon so sehr an Richards, daß seine Brust sich zusammenzog. Der Prinz nickte stumm.
Cædmon packte ihn unter den Achseln und stellte ihn auf den Sims. »Da, siehst du? Dort drüben ist das Meer.«
Der Junge sah auf die tiefblaue See hinaus, auf der die Strahlen der Abendsonne wie Tausende von Edelsteinen funkelten, so daß sie schließlich beide blinzeln mußten.
»Manchmal träume ich von einem weißen Schiff auf dem Meer«, vertraute Henry ihm leise an.
»Ja? Und ist es ein prächtiges Schiff? Ein Königsschiff?«
»Nein.« Er wandte den Kopf ab. »Es ist ein Todesschiff.«
Cædmon legte ihm die Hand auf die Schulter, und sie sahen sich an, sprachlos.
»Gehst du mit mir zum Meer hinunter, Cædmon? Ich würd’ es mir gern aus der Nähe ansehen.«
»Ich kann nicht weiter als bis zur Zugbrücke. Aber wenn du willst, können wir auf die Brustwehr steigen. Von dort hat man einen wundervollen Blick aufs Meer.«
Henry nickte heftig, und Cædmon hob ihn von der Fensterbank. Nebeneinander gingen sie zur Tür. Odo war mit Leif in ein angeregtes Gespräch über Geschichtsschreibung vertieft, aber er sah sie aus dem Augenwinkel und nickte der Wache unauffällig zu, so daß Cædmon und der Prinz den Raum ungehindert verlassen konnten.
Schweigend überquerten sie den Hof, stiegen die hölzerne Treppe an den Palisaden hinauf, und wieder hob Cædmon den Jungen hoch und setzte ihn auf seinen Arm, damit er über die angespitzten Pfähle schauen konnte.
Henry schirmte die Augen mit der flachen Hand ab und spähte hinaus. »Kann man bis zur Normandie schauen?«
»Nein, leider nicht.«
»Ist sie so furchtbar weit weg?«
»Ach was. Bei gutem Wind dauert es nicht länger als von Winchester nach Dover zu reiten.«
Der Junge sah ihn mit großen Augen an. »Ist das wirklich wahr?«
»Ich würde dich nie anlügen, Henry.«
»Ich hab sie gefragt, ob sie traurig ist, daß sie in die Normandie ins Kloster muß.«
Schlagartig wurde Cædmon bewußt, daß es nicht allein Richards Tod war, der Henry so verstört hatte, sondern daß Aliesas plötzliches Verschwinden ihn vermutlich ebenso hart traf. Von frühester Kindheit an hatte der kleine Prinz an ihr gehangen, war seiner Amme ausgerissen, um Aliesa auf Schritt und Tritt zu folgen, und hatte gejammert, wenn sie nicht bei Hofe war.
»Was hat sie gesagt?«
»Sie hat nein gesagt. Weil sie in dem Kloster groß geworden ist und weiß, wie wundervoll der Garten ist. Und sie hat gesagt, sie kann es kaum erwarten, all die vielen Bücher zu lesen. Und meine Schwester Cecile ist mit ihr gegangen. Also war sie nicht einsam. Und Cecile auch nicht.«
Cecile war vierzehn oder fünfzehn, die einzige der älteren Prinzessinnen, die noch unverheiratet war, denn sie hatte den Wunsch geäußert, den Schleier zu nehmen. Sie war ebenso zierlich wie ihre Mutter und verstand es offenbar ebenso wie diese, sich durchzusetzen. Der König hatte sie jedenfalls nicht gegen ihren Willen in eine politische Ehe gedrängt. Darum hatte Cecile länger als jede ihrer älteren Schwestern am Hof ihres Vaters gelebt, und vermutlich vermißte Henry auch sie. »Und was ist mit dir, Henry? Bist du manchmal einsam? Jetzt, da Aliesa und Cecile fort sind?«
Henry nickte. »Und Richard«, flüsterte er.
»Ja. Und Richard.«
Die großen braunen Kinderaugen füllten sich ganz allmählich mit Tränen, die langsam über die Wangen rollten und auf Cædmons Ärmel tropften. Einen Moment sahen sie sich noch an, dann wandten sie gleichzeitig die Köpfe und blickten wieder aufs Meer hinaus.