Helmsby, Juli 1080

Es war ein perfekter Sommersonntag. Der Himmel zeigte sich in geradezu bestürzendem Blau und vollkommen wolkenlos. Die warme Luft war erfüllt vom Summen der Bienen und Hummeln, die die Blumen der kleinen Wiese am Brunnen umschwirrten.

Cædmon saß an den Stamm der mächtigen Eiche gelehnt, die den Brunnen überschattete, hielt die Laute auf dem Schoß und spielte das Lied vom Wolf und der Taube. Aliesa hatte den Kopf an seine Schulter gelehnt und summte die Melodie leise mit. Ein wehmütiges kleines Lächeln auf ihren Lippen verriet ihm, daß sie sich erinnerte, genau wie er. Und als er geendet hatte, murmelte sie: »Gott, wie unglücklich wir waren …«

Er nahm die Hand von den Saiten und legte den Arm um ihre Schultern. »Warst du das wirklich? Man konnte es dir nie anmerken.«

Sie seufzte leise. »Nun, wenigstens einer von uns mußte sich zusammenreißen, oder?«

Er war nicht so sicher. Er dachte, daß alles leichter gewesen wäre, wenn sie ihn von Anfang an hätte wissen lassen, wie sie zu ihm stand. Aber das war alles so lange her. Er fand es richtig, sich zu erinnern, und er tat es oft. Aber er redete nicht gerne darüber.

Aliesa hatte den Kopf gehoben und sah zu Richard hinüber, der mit seiner Ziehschwester Edith zusammen auf einer weichen Decke im Gras lag. Gunnild saß bei ihnen und erfreute beide Babys abwechselnd mit Richards Rassel, einem buntbemalten Hohlkörper aus Fichtenholz, der mit getrockneten Erbsen gefüllt war. Alfred hatte sie für sein Patenkind geschnitzt.

Aliesa atmete tief durch. »Warumkannnicht jeder Tag so sein wie dieser.« Cædmon nahm eine Kirsche aus der Schale neben ihm und steckte sie ihr zwischen die Lippen. »Warte lieber, bis der Tag vorbei ist«, warnte er lächelnd. »Wenn man so lange nichts von Ælfric und Wulfnoth und Harold und Guthrum hört, kann das nichts Gutes bedeuten.«

»Sie sind zum Fischen gegangen«, erklärte Hyld, die mit ihrem unvermeidlichen Stickrahmen auf den Knien neben dem Brunnen saß. »Alfred und Onkel Athelstan sind bei ihnen.«

»Fischen? Um diese Tageszeit?« Cædmon lachte. »Sie werden schwer enttäuscht werden.«

Hyld nickte lächelnd. »Ich nehme an, das Fischen diente in erster Linie als Vorwand, um im Fluß zu schwimmen. Auf die Art und Weise werden diese Kinder endlich einmal sauber.«

»Onkel Athelstan hätte ein Bad nötiger«, bemerkte Aliesa spitz, und alle lachten.

Hyld ließ den Stickrahmen sinken und legte den Kopf schräg. »Ich höre Pferde.«

Sie hatte kaum ausgesprochen, als sechs Reiter am Tor erschienen. Sie hielten kurz, sprachen mit den Wachen, trabten dann zu ihnen herüber und saßen ab.

Cædmon sprang auf die Füße. Aus dem Augenwinkel sah er Hylds enttäuschtes Gesicht. Der, auf den sie Tag für Tag mit zunehmender Ungeduld wartete, war nicht unter den Ankömmlingen.

»Rufus! Und Henry!« Cædmon verneigte sich vor den Prinzen, die mit vieren ihrer Ritter in den Hof geritten waren. »Willkommen in Helmsby.«

Auch Aliesa hatte sich erhoben und begrüßte den hohen Besuch, während Cædmon Eadwig und Leif umarmte und auch die anderen beiden Ritter willkommen hieß.

Ein Weilchen redeten alle durcheinander, bis Cædmon schließlich Richard von seiner Decke holte und zu den Ankömmlingen brachte. »Das ist unser Sohn«, verkündete er überflüssigerweise. »Ein Vierteljahr alt. Was sagt ihr?«

»Neffe Nummer fünf«, bemerkte Eadwig strahlend. »Er ist ein Prachtkerl.«

Henry, der vor Aliesa im Gras kniete und mit gänzlich untypischer Unbefangenheit ihre Hände hielt, hob den Kopf und betrachtete Richard. »Meinen Glückwunsch. Er sieht aus wie du, Aliesa.«

»Ja«, stimmte sein älterer Bruder zu. »Und wie Lucien. Nur kleiner und mit zwei Armen.«

Aliesa warf ihm einen strafenden Blick zu, und Cædmon mußte die Zähne zusammenbeißen, um ernst zu bleiben. »Oh, Rufus. Du hast mir wirklich gefehlt. Dein Charme und dein Taktgefühl vor allem.«

Der Prinz war inzwischen vierundzwanzig, aber er grinste immer noch wie ein Flegel. »Wie heißt er denn?«

»Richard.«

Rufus’ Miene wurde schlagartig ernst, und er sagte leise: »Ein guter Name. Ich bin sicher, mein Bruder wäre sehr geehrt.«

Cædmon brachte seinen Sohn der Amme zurück. »Bring ihn hinein, wenn du so gut sein willst, Gunnild, hier wird es zu unruhig. Und würdest du uns Wein und ein paar Leckereien rausschicken?«

Gunnild nickte scheu und nahm ein Kind in jeden Arm. »Natürlich, Thane.«

»Ich gebe Helen Bescheid wegen des Essens«, erbot sich Hyld und ging zusammen mit Gunnild zur Zugbrücke.

Leif sah ihr einen Moment nach. »Mein Bruder ist nicht hier?« fragte er.

Cædmon schüttelte seufzend den Kopf. »Es scheint, er bleibt noch ein Jährchen länger aus.«

»Er ist ein Schwachkopf«, urteilte der junge Däne. »Entschuldigt mich einen Moment, ich will meine Schwester begrüßen.«

Sie setzten sich ins Gras, und nachdem eine Magd Bier und Wein und Brot und kaltes Fleisch gebracht hatte, tauschten sie Neuigkeiten aus. »Vater und Robert haben sich ausgesöhnt«, berichtete Rufus. »Das hat dem König von Frankreich natürlich gründlich die Suppe versalzen. In der Bretagne und im Maine ist es immer noch unruhig, aber Vater kommt noch diesen Monat nach England zurück.«

»Er hat euch vorausgeschickt?« fragte Cædmon.

Rufus nickte, und es war Henry, der erklärte: »Vater kommt mit Mutter nach. Und er wird Robert mitbringen. Das gefällt Rufus nicht; er fragt sich, was Robert plötzlich hier in England will.«

»Ach, halt doch die Klappe, Henry«, fuhr sein Bruder ihm über den Mund.

Cædmon sah von einem Prinzen zum anderen und nickte nachdenklich. »Ich verstehe deine Besorgnis. Robert ist gierig und machthungrig. Aber gräm dich nicht zu sehr. Wenn er weiterhin auf Edgar Ætheling und seine anderen Günstlinge hört, wird es nicht lange dauern, bis er sich wieder mit deinem Vater überwirft.«

»Ja, das gleiche sagt Eadwig auch«, brummte Rufus. »Trotzdem ärgert es mich. Ich habe all meine Kräfte, mein Vermögen, mein ganzes Leben in den Dienst meines Vaters gestellt. Ich habe alles getan, um ihm Richard zu ersetzen. Aber er weiß es überhaupt nicht zu schätzen. Plötzlich gibt es nur noch Robert für ihn.«

»Es ist wie die Geschichte vom verlorenen Sohn«, meinte Henry.

Cædmon gab ihm recht. Zu Rufus sagte er: »Doch, er weiß zu schätzen, was du für ihn tust, ich bin sicher. Er ist nur unfähig, es zu zeigen. Aber er wird es nicht vergessen. Er vergißt nie etwas.«

Rufus warf ihm einen zweifelnden Blick zu, steckte ein Stück Räucherforelle in den Mund und wechselte das Thema. »Was in aller Welt ist in Northumbria passiert?«

Cædmon senkte den Blick, und es war Aliesa, die antwortete: »Walcher ist ermordet worden.«

»Ja, das haben wir gehört«, bemerkte Eadwig.

»Wer ist Walcher?« wollte Henry wissen.

»War«, verbesserte sein Bruder. »Ein Priester, stammte aus Lothringen, soweit ich weiß. Er kam kurz nach der Eroberung an Vaters Hof, etwa zu der Zeit, als du zur Welt kamst. Der König machte ihn zum Bischof von Durham, und Walcher bewies solches Geschick im Umgang mit den störrischen Leuten im Norden, daß er nach Waltheofs Verrat Earl of Northumbria wurde. Aber anscheinend hatte er doch keine so glückliche Hand, wie Vater und Lanfranc dachten.«

»Nein«, stimmte Cædmon zu. »Die Northumbrier sind erbittert über die ständigen schottischen Überfälle und suchten einen Sündenbock. Es gab eine Revolte, und Walcher floh mit seinen Rittern und ein paar Amtsträgern seines Haushaltes in seine Kirche. Die aufgewiegelte Menge steckte die Kirche in Brand. Als Walcher und seine Leute ins Freie flüchteten, wurden sie einer nach dem anderen abgeschlachtet.« »Mein Gott …«, Eadwig rieb sich die Stirn, »diese Northumbrier sind wahrhaftig Barbaren.«

»Ja. Was muß passieren, damit sie endlich Ruhe geben?« brummte Rufus. »Das will ich dir sagen«, erwiderte Cædmon. »Der König von Schottland muß endlich aufhören, sie zu drangsalieren. Wir brauchen einen dauerhaften Frieden mit Schottland. Vielleicht solltest du einfach deine schottische Prinzessin heiraten.«

Rufus verschluckte sich. Als er schließlich aufhörte zu husten und zu röcheln, keuchte er: »Aber sie ist doch erst sieben oder so.«

Cædmon nickte. »Stimmt. Einstweilen hat euer Onkel Odo eine Truppe aufgestellt und ist in Eilmärschen nach Norden gezogen, um die Aufstände niederzuschlagen und die schottischen Truppen zurück über die Grenze zu treiben. Er hat auch die sieben Männer mitgenommen, die Helmsby der Krone stellen muß. Seine Mission war alles in allem erfolgreich, aber von meinen Männern sind nur drei zurückgekommen.«

»Wer wird vermißt?« fragte Eadwig erschrocken.

»Edwin, Gorm, Elfhelm und sein Bruder Odric«, zählte Cædmon bekümmert auf. »Und ich fürchte, ›vermißt‹ ist nicht der richtige Ausdruck. Das alles war im Mai. Odo ist seit über sechs Wochen zurück. Wenn sie noch leben würden, wären sie längst wieder zu Hause.«

Eadwig schlug die Augen nieder und schüttelte den Kopf. All diese Männer waren nach Helmsby gekommen, als Cædmon Thane geworden war. Länger als sein halbes Leben hatte Eadwig sie gekannt. Sie hatten ihn Reiten und den Umgang mit der Streitaxt gelehrt und ihm Geschichten erzählt, hatten alle so gut sie konnten versucht, ihm den toten Vater zu ersetzen und den Bruder, der ständig fort mußte. Eadwig rang sichtlich um Haltung, und Rufus legte ihm leicht die Hand auf die Schulter.

»Wir werden es den verfluchten Schotten zeigen«, murmelte er. »Ich bin sicher, ich kann die Erlaubnis des Königs erwirken, noch dieses Jahr nach Schottland zu ziehen. Und zwar nicht, um Prinzessin Maud den Hof zu machen, so liebreizend sie auch sein mag, sondern um ihren Vater das Fürchten zu lehren.«

Eadwig nickte, aber er schien nur wenig getröstet.

»Wieso glaubst du, dein Vater läßt dich nach Schottland ziehen?« fragte Cædmon neugierig.

»Weil er selbst gesagt hat, daß es Zeit werde, sich der Schotten anzunehmen. Er will gleich nach seiner Ankunft in England seine Vasallen zusammenrufen, um sich in der Angelegenheit mit ihnen zu beraten. Ein außerplanmäßiger Hof, wenn du so willst. Du sollst auch kommen. Das heißt, er wünscht, daß du uns nach Winchester begleitest und dort bist, wenn er eintrifft, läßt er dir ausrichten.« Er verneigte sich knapp vor Aliesa. »Die Einladung gilt auch für Euch, Madame.«

»Ich bin hingerissen, mein Prinz«, erwiderte sie leichthin, wechselte einen kurzen Blick mit Cædmon und sah in seinen Augen, was sie selber dachte: Die friedlichen, unbeschwerten Tage waren vorüber.

 

Sie brachen drei Tage später auf. Rufus hatte zur Eile gedrängt und wäre lieber gleich am nächsten Morgen nach Winchester geritten, doch er sah ein, daß Cædmon und Aliesa ein paar Vorbereitungen zu treffen hatten, ehe sie Helmsby auf unbestimmte Zeit verlassen konnten.

Einen Tag vor ihrer Abreise kehrte auch Erik endlich zurück. Hyld empfing ihn freudestrahlend, aber ohne großes Getue, so als sei er zwei Tage fortgewesen, nicht zwei Jahre. Durch nichts ließ sie sich anmerken, wie unglücklich und besorgt und einsam sie in all der Zeit oft gewesen war. Denn das, vertraute sie Aliesa später an, sei die sicherste Methode, Erik ein schlechtes Gewissen zu machen. Und er wirkte auch tatsächlich zerknirscht und erklärte, er wäre ja schon vor Monaten zurückgekommen, wäre er nicht mitten auf der Nordsee Prinz Knut vor den Bug gelaufen, der auf dem Heimweg nach Dänemark war, um sich nach dem Tod seines Bruders zum König krönen zu lassen, und weil sein Anspruch keineswegs unangefochten war, hatte er wiederum Eriks Dienste gefordert.

»Was hätte ich tun können, Hyld? Ich bin Untertan der dänischen Krone, ganz gleich, wo ich lebe.«

Hyld nickte voller Verständnis und legte unter dem Tisch die Hand auf sein Bein.

»Also Knut ist König von Dänemark …«, murmelte Cædmon versonnen.

»Ist das gut oder schlecht?« fragte Rufus.

Cædmon zuckte mit den Schultern, und ihm lag auf der Zunge zu sagen, daß ein Pirat letztlich so gut oder schlecht wie der andere sei, besann sich aber im letzten Moment und sah Erik fragend an. »Was denkst du?«

Erik grinste und zeigte zwei Reihen bemerkenswert guter Zähne, die in seinem schwarzen Bart regelrecht zu leuchten schienen. »Es ist bestimmt gut für Dänemark. Aber wenn ihr wissen wollt, ob Knut auf die Idee kommen könnte, irgendwann noch einmal sein Glück in England zu versuchen … Es würde mich nicht wundern.«

»Das finde ich nicht komisch«, erklärte Leif finster.

Sein vorwurfsvoller Blick schien Erik nicht sonderlich zu erschüttern. Er hob kurz die Schultern, stand auf und zog seine Frau mit sich hoch. »Auf jeden Fall könnte König Knut dir reichlich Stoff für dein komisches Geschichtsbuch liefern, Brüderchen. Und wenn ihr uns jetzt entschuldigen wollt …«

Das zweite Königreich
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