Carisbrooke, Mai 1082
»Wer seid Ihr?« fragte der junge Wachsoldat verschreckt. »Was wollt Ihr?«
William krallte eine seiner Pranken in das Kettenhemd, als sei es aus weichem Leinen, und schleuderte den schmächtigen jungen Mann gegen den Türpfosten. »Ich bin der König von England, du Lümmel, und ich hätte gern ein Wort mit meinem Bruder gesprochen, wenn ich nicht gar zu ungelegen komme!«
Halb saß, halb lag der Junge am Boden und starrte mit großen Augen zu ihm auf. »O Jesus, Maria und Josef …«
Der König stieg achtlos über ihn hinweg.
»Sire«, sagte Robert de Mortain leise. »Ich bitte Euch nochmals: Erlaubt mir, zum Schiff zurückzukehren.«
Über die Schulter warf William ihm einen kurzen Blick zu. »Nein. Hör endlich auf zu winseln, Robert. Er ist mein Bruder ebenso wie deiner, glaubst du, für mich sei es leichter?«
Robert warf Cædmon einen hilflosen, kläglichen Blick zu und formte mit den Lippen die Worte: Ja, das glaube ich.
Tatsächlich hatte William schnell, besonnen und mit größter Entschlossenheit gehandelt, als Cædmon ihm von seiner Gefangenschaft, von Odos verdächtigen Machenschaften und Guthrics Verdacht berichtet hatte. Der Zorn des Königs hatte sich in der Tat zuerst über dem Haupt des Unglücksboten entladen, aber es wurde nicht so schlimm, wie Cædmon gedacht hatte. William hatte keine Möbel zertrümmert und niemanden zusammengeschlagen. Vor allem hatte er nicht einen Moment lang an Cædmons Worten gezweifelt, sondern war umgehend nach England gesegelt, hatte seine Berater nach Winchester berufen, um gleich nach ihrem Eintreffen auf die Isle of Wight überzusetzen. Vor gut einer Stunde waren sie in Cowes gelandet und ohne jede Verzögerung hierher nach Carisbrooke geritten.
Mit vier langen Schritten durchquerte der König die Vorhalle, und als er mit seinem beachtlichen Gefolge den Hauptraum der Burg betrat, verstummten die Instrumente der Musiker eines nach dem anderen, und auch das Stimmengewirr ebbte ab und versiegte.
William trat an die hohe Tafel. »Auf ein Wort … Bruder.«
Odo erhob sich langsam. »Sire.«
Das war alles. Seine Stimme bebte nicht, klang auch nicht gepreßt, aber mehr brachte er nicht heraus. Er sah vom König zu ihrem jüngeren Bruder, dann weiter zu Warenne und Montgomery und all den anderen, an deren Seite er für seinen Bruder England erobert und verwaltet hatte. So mancher senkte den Blick.
Cædmon nicht. Offen sah er in die schwarzen Augen, gelassen sogar und nicht ohne Genugtuung.
Der König verschränkte die Arme vor der massigen Brust. »Ist es wahr, daß du dem Thane of Helmsby und anderen meiner Vasallen ihre Ritter gestohlen hast, Männer, die in meiner Armee dienten, um eine eigene Streitmacht aufzustellen?«
Odo räusperte sich. »Ja.«
»Und ist es wahr, daß du diese Männer auf einen Eroberungszug nach Rom führen wolltest, ohne meine Zustimmung einzuholen?«
Odo straffte die Schultern. »Dies ist eine Angelegenheit der Kirche, für die ich Eure Zustimmung nicht brauchte, Sire.«
William trat noch einen Schritt näher. »Aber meine Soldaten schon, ja?«
Odo senkte für einen Moment den Blick, sah seinem Bruder aber sofort wieder in die Augen. »Ihr habt mich übergangen. Wieder und wieder. ›Hier, Odo, du bekommst Kent‹, habt Ihr gesagt, ›aber die Macht teile ich lieber mit anderen‹. Die wirkliche Macht. Es war … nicht genug. Ihr wart nicht der einzige, der sich zu Höherem berufen fühlte, Bruder.« Der König lächelte frostig. »Du willst deine frevlerische Revolte gegen den Heiligen Stuhl mit meinen Siegen vergleichen? Meinen heiligen Krieg mit deinem Verrat? Das ist infam!«
Odo war fast unmerklich zusammengezuckt. »Ich habe niemanden verraten. Euch am allerwenigsten. Ich wollte den Heiligen Stuhl, um mit Euch gemeinsam die christliche Welt zu beherrschen.«
William hob abwehrend die Hand. »Du hast den Earl of Chester und andere normannische und englische Adlige versuchen wollen, dir nach Rom zu folgen. Sich gegen den Papst und gegen ihren König aufzulehnen. Du bist ein Verräter.« Er sah über die Schulter und sagte zu niemand Bestimmtem: »Nehmt ihn fest und bindet ihn.«
Keiner rührte sich.
Odos Gesicht war mit einemmal aschfahl geworden. »Sire … ich bin ein Bischof der Heiligen Kirche. Ihr selbst habt tausendmal gesagt, daß keine weltliche Macht über einen Mann der Kirche richten darf. Ihr könnt mich nicht verhaften. Ihr habt kein Recht dazu.«
»Ich verhafte nicht den Bischof, sondern den Earl, meinen Vasallen«, entgegnete der König unbeeindruckt, umrundete die Tafel mit wenigen Schritten und packte Odo mit einer seiner Pranken am Ellbogen. »Und wenn niemand sonst es zu tun wagt, mache ich es eben selbst.« Mit diesen Worten riß er die kostbar bestickte Börse von Odos Gürtel, zog mit einem ungeduldigen Ruck die Schnur heraus und band seinem Bruder die Hände auf den Rücken. Den Inhalt der prallen Börse schleuderte er mit Macht ans untere Ende des rechten Seitentisches. »Fort mit euch!« befahl er den Männern, die dort saßen und gierig die herabregnenden Münzen zusammenklaubten. »Hier ist für euch nichts mehr zu tun. Das große Abenteuer ist vorbei, ehe es begonnen hat.«
Hastig erhoben sie sich von den Bänken und schlichen aus der Halle. Nur drei traten zögernd näher und scharten sich um den Thane of Helmsby. Cædmon begrüßte seine drei Housecarls leise, legte Elfhelm kurz die Hand auf den Arm und murmelte: »Odric ist wohlauf. Er ist zu Hause.«
Odo hob den Kopf, als er das leise Raunen hörte, und sah zu Cædmon hinüber. »Mein einziger Fehler«, sagte er tonlos, es klang beinah verwundert. »Nur dieser eine, einzige Fehler. Aber ich konnte Euch nicht töten, Cædmon.«
Cædmon erwiderte seinen Blick stumm, aber er dachte: Das ist es, was dich von William unterscheidet.
Der König beobachtete diesen wortlosen Austausch mit einem bitteren Hohnlächeln. »Cædmon …«
Der Thane blickte ihn einen Moment an und atmete tief durch. »Nein, Sire. Ich will nach Hause.«
Wie üblich ignorierte der König seinen Protest einfach. »Ihr bringt den Earl of Kent nach Rouen und übergebt ihn dem Offizier der Wache. Er soll ihn einsperren und den Schlüssel meinethalben in die Seine werfen.«
»William«, protestierte Robert flehentlich. »Er ist unser Bruder!«
Der König sah ihn an. »Ja. Das ist das wirklich Bittere. Erst mein Sohn. Dann mein Bruder. Wer wird der nächste sein?«