Westminster, Februar 1071
»Und warum sollten die Londoner nicht in der Lage sein, mir die gleiche Summe an Steuern zu bezahlen wie meinem Cousin Edward vor mir, könnt Ihr mir das erklären?« fragte der König und bedachte Warenne mit einem mißfälligen Stirnrunzeln, weil er schon wieder von den kandierten Maronen nahm. »Wenn Ihr so weitermacht, werdet Ihr fett, Monseigneur.«
Warenne verzichtete darauf zu entgegnen, daß der König selbst derjenige war, der immer mehr in die Breite ging – eine Tatsache, die allgemein Verwunderung und Kopfschütteln erregte, weil er doch so mäßig aß und trank –, und stellte die Schale mit den Maronen auf der Fensterbank ab.
»Sie behaupten, die Stadtbevölkerung sei so geschrumpft, daß sie die Summe einfach nicht aufbringen können«, erklärte er verächtlich und zog die Nase hoch. Dieser Mann scheint einfach immer erkältet zu sein, fuhr es Cædmon durch den Kopf.
»Cædmon, reitet in die Stadt, geht in die Zunfthäuser und richtet den Leuten aus, für jeden Schilling, den sie mir schuldig bleiben, verlange ich nächstes Jahr zwei«, brummte der König. »Und wenn es noch einmal vorkommt, daß ein normannischer Weinimporteur nachts auf den Straßen von London ausgeraubt und geschlagen wird, verlieren ein paar Engländer eine Hand. Bestellt dem Gildemeister der englischen Weinhändler, er darf dreimal raten, wer der erste wäre …«
Cædmon unterdrückte ein Seufzen und nickte. »Ja, Sire.«
William schlug mit der Faust auf die geschnitzte Armlehne seines Sessels. »Ich kenne wahrlich keinen anderen Mann, der ›Ja, Sire‹ sagen und damit solche Mißbilligung ausdrücken kann. Laßt uns teilhaben an Eurem Kummer. Was ist der Anlaß für diese Cædmonische Leidensmiene?«
»Sire, ich bin sicher, die normannische Konkurrenz wäre den Londoner Weinhändlern kein solcher Dorn im Auge, wenn Normannen und Engländer gleichermaßen besteuert würden. Aber Ihr nehmt die Normannen von der Steuerpflicht aus und …«
»Sie zahlen Steuern für ihre Niederlassungen in der Normandie! Wie sonst hätte ich sie wohl herlocken sollen, wenn nicht mit der Aussicht auf steuerfreie Einkünfte? Warum sollten sie kommen?«
Warum willst du sie denn hier haben? dachte Cædmon ärgerlich, sagte aber: »Trotzdem ist der Einwand der englischen Kaufleute nicht unberechtigt. Die Stadtbevölkerung ist merklich zurückgegangen. Allein für Errichtung des Towers …«
»Des was?«
»Eure Londoner Burg, Sire, die Leute nennen sie ›den Tower‹. Allein um dafür Platz zu schaffen sind über hundert Häuser abgerissen worden …«
William schoß aus seinem Sessel hoch. »Wie oft muß ich mir das noch anhören? Wären die Londoner nach der Eroberung nicht so halsstarrig gewesen, hätte ich vielleicht keine Veranlassung gesehen, ihnen eine Burg mitten in die Stadt zu setzen! So wie die Dinge lagen, war es notwendig, und der Platz mußte geschaffen werden!«
»Das ist richtig, Sire, trotzdem hat der Thane nicht ganz unrecht«, wandte Montgomery ein. »Der Abriß von hundert Häusern bedeutet hundert Familien, die entweder aus London fortgegangen sind oder als Bettler dort leben, jedenfalls keinen Anteil der Steuerlast übernehmen können, und trotzdem soll die Stadt die gleiche Summe zahlen wie früher. Das ist hart. Die Leute haben Mühe, das Geld aufzubringen, und sehen gleichzeitig, daß die zugewanderten Normannen von der Steuer ausgenommen werden. Kein Wunder, daß es böses Blut gibt.«
»Böses Blut muß fließen, Montgomery«, sagte William gefährlich leise. »Ich stehe vor wenigstens drei kostspieligen Feldzügen.« Er zählte sie an den Fingern ab: »Ich muß diesen verfluchten Halunken Hereward in Ely belagern, ich muß meine Macht im Maine wiederherstellen, weil mein Sohn offenbar unfähig ist, es zu tun, und in absehbarer Zeit muß ich eine Armee nach Schottland führen, damit dieser Eidbrecher Malcolm und sein angelsächsischer Schoßhund, Edgar Ætheling, endlich lernen, wem die Provinzen Cumbria und Lothian gehören. Und dafür brauche ich Geld.«
Montgomery nickte. »Ich weiß, Sire. Ich sage auch nicht, Ihr solltet den Londonern die Steuern erlassen. Ich rate nur, ihnen die Situation zu erklären, statt ihnen zu drohen. Es sind vernünftige Männer, und sie auf unserer Seite zu haben, kann nur von Nutzen sein.«
Der König grübelte einen Augenblick mit gerunzelter Stirn. Schließlich nickte er knapp. »Also schön. Cædmon, sagt ihnen, ich lasse ihnen Zeit bis Ende April, aber das Geld muß her. Und erklärt ihnen meinetwegen, warum die normannischen Kaufleute ausgenommen bleiben.«
»Ja, Sire.« Cædmon verneigte sich, wandte sich zur Tür und nickte Montgomery dankbar zu.
Der Earl antwortete mit einem verstohlenen Augenzwinkern.
»Ach ja, und Cædmon …«
»Sire?«
»Wenn Ihr in London seid, solltet Ihr nicht versäumen, Eurer Braut einen Besuch abzustatten.«
»Nein, Sire.«
»Es ist eine Schande, daß man Euch ständig daran erinnern muß! Ihr solltet wirklich …«
Ein Klopfen an der Tür unterbrach den König, und unaufgefordert trat ein Soldat der Wache ein. »Ich bitte um Verzeihung, Sire …«
William packte den Unglücksraben am Ellbogen und schleuderte ihn gegen die schwere Eichentür. »Wie oft muß ich sagen, daß ich nicht gestört werden will, bis du es dir merkst?«
Der Mann fiel benommen auf ein Knie, stand aber sofort wieder auf und wiederholte hastig: »Ich bitte um Verzeihung, Sire, aber Etienne fitz Osbern ist hier und ersucht dringend, Euch zu sprechen.«
Der König riß verblüfft die Augen auf. »Etienne? Wie in aller Welt kommt er hierher?«
»Das hat er nicht gesagt, Sire.«
»Herein mit ihm, los, los, worauf wartest du!«
Der Soldat öffnete erleichtert die Tür, winkte, und augenblicklich trat Etienne ein. Er sah schrecklich aus. Cædmon unterdrückte nur mit Mühe einen bestürzten Ausruf. Sein Freund wirkte so bleich und schmal, als habe er die letzten Monate in einem lichtlosen Verlies verbracht, nicht am flämischen Hof. Getrocknetes Blut, das offenbar von einer Wunde an der Schläfe rührte, verklebte Stirn und Wange. Zwei, drei Tage alte Stoppeln bedeckten sein Kinn, seine Kleidung war dreckbeschmiert und teilweise zerrissen, und seine Augen waren trüb vor Erschöpfung. Vor dem König sank er auf die Knie und senkte den Kopf. »Verzeiht mir, Sire.«
William sah unbewegt auf ihn hinab. »Ich nehme an, es sind keine guten Nachrichten, die Ihr bringt.«
Etienne schüttelte den Kopf.
»Sagt es mir. Und erhebt Euch.«
Etienne stand auf. Er schwankte leicht, Cædmon streckte die Hand aus und stützte ihn einen Moment, ließ ihn aber sofort wieder los.
»Robert le Frison stellte sich zur Schlacht, Sire. Er hat gesiegt. Flandern gehört ihm, Richildis ist gestürzt. Und … mein Vater ist gefallen.«
Der König zuckte fast unmerklich zusammen. Es war totenstill im Raum, selbst Warenne hatte sein unablässiges Schniefen eingestellt. Nur der eisige Wind, der um die alte Halle von Westminster fegte, war zu hören. In Williams rechter Wange zuckte ein Muskel. »Wann?«
»Vorgestern, Sire.«
Der König wandte sich ab, trat langsam ans Fenster und starrte auf den verwitterten Laden, der gegen Schnee und Kälte geschlossen worden war. »Oh, Guillaume, mein treuer alter Freund …«, hörten sie ihn murmeln.
»Sire …«, begann Warenne unsicher, aber der König hob abwehrend die Hand. Alle starrten beklommen auf seinen breiten Rücken, den gesenkten Kopf.
»Laßt mich allein, Monseigneurs, seid so gut«, bat er ungewohnt höflich.
Montgomery öffnete die Tür, wartete, bis alle draußen waren, und folgte als letzter. Im Vorraum blieben sie einen Moment stehen.
Robert, der Bruder des Königs, legte Etienne die Hand auf die Schulter. »Es tut mir sehr leid, fitz Osbern.«
»Danke.«
»Wissen Eure Brüder es schon?« fragte Montgomery.
Er schüttelte den Kopf. »Ich bin vom Schlachtfeld aus hierhergekommen.«
»Ja, das sehe ich. Schlaft ein paar Stunden, Junge. Aber schickt Euren Brüdern Boten, ehe sie es aus zweiter Hand erfahren.«
»Ich kümmere mich darum, wenn du willst«, erbot sich Cædmon.
Etienne sah ihn blinzelnd an. Jetzt da er hier war und seine schlechte Nachricht überbracht hatte, konnte er sich wirklich kaum noch auf den Beinen halten. »Danke, Cædmon.«
»Und ich gehe und sage es der Königin«, murmelte Robert seufzend und fügte hinzu, was alle dachten, aber niemand außer ihm zu sagen gewagt hätte: »Wenn irgendwer dem König in dieser bitteren Stunde Trost spenden und uns alle vor seinem Zorn bewahren kann, dann sie.«
»Gott, Cædmon, was für ein furchtbares Gemetzel. Dabei hat mein Vater nicht einen einzigen taktischen Fehler gemacht. Aber sie waren in der Überzahl. Und vor allem wollten sie keine regierende Herzogin mit einem normannischen Ehemann. Die Flamen lieben diesen gottverfluchten Robert le Frison.«
Etienne seufzte tief und stützte das Kinn auf die Faust. Er hatte geschlafen, ein Bad genommen, sich rasieren lassen und trug saubere Kleidung, sah tatsächlich wieder so tadellos gepflegt und vital aus wie eh und je. Nur in den Augen konnte man die Spuren von Strapazen und Kummer noch erkennen.
Von ihrem Platz im oberen Drittel der linken Tafel ließ Cædmon den Blick über die Halle schweifen. Sie füllte sich langsam, und die Tische wurden gedeckt. Alle Geräusche schienen seltsam gedämpft. Man hörte weder Lachen noch Fluchen. Die königliche Halle von Westminster war heute ein Haus der Trauer.
»Es tut mir wirklich sehr leid, Etienne.«
Sein Freund hob den Becher an die Lippen und zuckte fast unmerklich mit den Schultern. »Nun ja. Ich erzähle dir nichts Neues, wenn ich dir sage, daß mein Vater und ich uns nicht nahestanden, nicht wahr. Es war grauenhaft, ihn sterben zu sehen. Und gewiß ist es ein großer Verlust für England und die Normandie. Aber wer behauptet, daß der Schmerz des Königs größer sei als meiner, sagt vermutlich die Wahrheit.«
»Mag sein. Aber so nach Hause zu kommen, und dann auch hier noch schlechte Neuigkeiten zu hören …«
Ein Schatten huschte über Etiennes ebenmäßiges Gesicht, und er senkte einen Moment den Kopf. »Ja, ich gestehe, ich hatte davon geträumt, einen Sohn zu haben, wenn ich heimkomme. Ich hätte so gern einen Sohn, Cædmon.«
»Ich weiß.« Und was für ein wunderbarer Vater du wärst, dachte er. Etienne hob kurz die Linke und lächelte. »Aber ich sollte Gott danken, statt mich zu beklagen. Ohne dich wäre ich heimgekommen, um festzustellen, daß ich Witwer bin. Ich habe gehört, was du für meine Frau getan hast. Das werde ich dir nie vergessen. Du bist ein wahrer Freund.« Selbstverachtung erfüllte Cædmon wie eine schneidende, innere Kälte, doch er winkte scheinbar gelassen ab und erwiderte: »Ich habe nur getan, was du selbst getan hättest, wärest du hier gewesen.«
Sein Freund betrachtete ihn einen Augenblick versonnen. »Hm, ich bin nicht sicher. Ich weiß nicht, ob ich auf den Gedanken gekommen wäre, zu diesen Fremdlingen zu gehen und einen von ihnen um Hilfe zu bitten. Es war eher typisch für dich: geistesgegenwärtig, wirksam und ein klein bißchen schockierend.«
»Aber in der Normandie weiß jedes Kind, daß sie die besten Ärzte sind«, widersprach Cædmon. »Da fällt mir ein, ich habe Malachias ben Levi gesagt, daß er und die seinen in dir einen Verbündeten in England haben werden.«
»Du hast nicht gelogen. Und weißt du … was genau er getan hat? Aliesa kann sich nicht erinnern.«
»Nein, ich habe keine Ahnung.« Aber das stimmte nicht. Er hatte seiner Mutter keine Ruhe gelassen, bis sie es ihm schließlich erzählt hatte. Malachias ben Levi hielt wenig davon, den Leib einer Wöchnerin aufzuschneiden, schon gar nicht, wenn das Kind tot war, denn nur ein verschwindend kleiner Teil der Frauen überlebte diesen Eingriff. Statt dessen hatte er ihren Bauch mit geschlossenen Augen befühlt, bis er die Stelle ertastet hatte, die er suchte, hatte mit einem eigentümlichen Griff Druck ausgeübt, und schließlich war das leblose, winzige Kind, das nicht aus ihrem Leib wollte, wie durch ein Wunder beinah mühelos herausgeglitten. Aber es war undenkbar, Etienne diese Einzelheiten zu berichten – er hätte sie ja eigentlich gar nicht wissen dürfen. Etienne erkannte seine Verlegenheit und wechselte das Thema. »Und die Königin?«
Cædmon setzte den Becher ab und nickte. »Hat kurz vor Weihnachten eine gesunde Prinzessin zur Welt gebracht. Constance.«
»Gott segne sie.«
»Ja, sie hat seinen Segen bitter nötig. Noch vor dem Jahreswechsel haben sie die bedauernswerte kleine Constance mit Alan Fergant von der Bretagne verlobt.«
»Das arme Kind. Nun, wenn sie Glück hat, ist er tot, ehe sie heiratsfähig wird. Jedenfalls hattet ihr hier sicher ein frohes Weihnachtsfest, könnte ich mir vorstellen.«
»O ja. Ich vor allem, denn unmittelbar nach der Niederkunft der Königin ist meine Mutter endlich wieder nach Hause gereist …«
Sie tauschten ein unkompliziertes, flegelhaftes Grinsen, wohl wissend, daß das an einem Trauertag wie heute denkbar deplaciert war.
»Da fällt mir ein, Cædmon, ist es wirklich wahr, daß mein teurer Schwager dir zum Dank für das Leben seiner angebeteten Schwester die Nase blutig geschlagen hat?«
»Wie hast du das nur so schnell wieder gehört?«
»Unsere Prinzen haben es mir erzählt. In tiefster Entrüstung. Also?« »Ja, es stimmt.«
Etienne schnaubte verächtlich. »Es sollte ein Gesetz geben, das einem Krüppel verbietet, einen gesunden Mann zu schlagen – man kann sich ja nicht mal guten Gewissens wehren.«
Cædmon hatte nicht mit herabbaumelnden Armen dagestanden und den Schlag kommentarlos eingesteckt, weil Lucien ein Krüppel war. Aber die Erklärung war so gut wie jede andere.
»Warum?« fragte Etienne verständnislos. »Er hätte dir die Füße küssen sollen!«
»Nein, vielen Dank.« Cædmon hob unbehaglich die Schultern. »Er war einfach … erleichtert.«
»Eine eigentümliche Art, seiner Erleichterung Luft zu machen.«
»Ach, du weißt doch, wie er ist. Er verabscheut Juden beinah so leidenschaftlich wie Engländer. Der Gedanke, daß ein jüdischer Arzt seine Schwester … na ja. Außerdem hat er natürlich herausgefunden, daß ich ihn nur nach Dover geschickt hatte, um ihn loszuwerden. Das hat ihm nicht gefallen.«
Etienne schüttelte verständnislos den Kopf. »Immer findest du Ausflüchte und Entschuldigungen für ihn. Ich kann das einfach nicht begreifen. Du bist doch sonst kein so widerwärtiger Friedensengel.«
Cædmon lachte, über den Ausdruck ebenso wie aus Verlegenheit, doch eine Antwort blieb ihm erspart, denn Aliesa und Lucien betraten wie aufs Stichwort Arm in Arm die Halle.
»Wie sie sich gleichen«, raunte Etienne. »Dabei könnten sie unterschiedlicher kaum sein. Der Finsterling und das Lichtwesen.«
Die Zwillinge traten an den Tisch. Cædmon und Etienne erhoben sich, Etienne ergriff die Hand seiner Frau und legte sie einen Moment an seine Wange.
Cædmon beobachtete sie mit einem, wie er hoffte, höflich distanzierten Lächeln, aber jedesmal wenn er sah, wie gesund und strahlend sie wieder war, jubilierte sein Herz.
Aliesa streifte ihn nur mit einem von gesenkten Lidern verschleierten Blick, legte Etienne die Hände auf die Schultern und küßte ihn auf die Wange. »Wie fühlst du dich, mon ami?«
Etienne atmete tief durch. »Gut. Vielleicht besser als der Anstand zuläßt. Aber was soll ich tun? Ich bin ein glücklicher Mann.«