Helmsby, August 1069
»Cædmon! Cædmon, bist du wach?«
Er schreckte aus dem Schlaf, fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und sah sich verwirrt um. »Jetzt ja«, brummte er. Gytha regte sich schläfrig an seiner Seite. Er zog die Decke über ihre Schulter. »Komm rein, Alfred.«
Die Tür zu seinem Privatgemach flog auf. »Es tut mir leid, Cædmon. Ein Bote ist aus Metcombe gekommen.«
Cædmon schwang die Beine über den hohen Bettrand und griff nach den Hosen. Es ist also wahr, dachte er. Es ist genau das passiert, was der König vorausgesehen hat. Sie greifen die Ostküste an.
»Wie viele Schiffe?« Er fühlte sich eigentümlich ruhig.
»Drei.«
»Weck die Männer. Alle sollen sich bewaffnet im Hof versammeln.« »Schon passiert.« Alfred reichte ihm sein rehbraunes, knielanges Übergewand.
»Dann laß die Pferde satteln«, ordnete Cædmon undeutlich aus den Falten seines Gewandes an.
»Auch schon passiert.«
Cædmons Kopf kam wieder zum Vorschein, und er legte seinem Vetter für einen Augenblick die Hand auf den Arm. »Dann laß dich in Gold aufwiegen.« Er wandte sich an Gytha, die inzwischen wach war und mit großen Augen wortlos von einem zum anderen blickte.
Cædmon lächelte, beruhigend, wie er hoffte. »Ich schicke euch Nachricht, sobald ich kann.«
Sie nickte, und er eilte mit Alfred auf den Flur hinaus.
Sie ritten, was das Zeug hielt. Cædmon, Alfred, neun Housecarls und zwei Dutzend junger Burschen, die Cædmon in seinen Dienst genommen und über den Sommer ausgebildet hatte. Jetzt würde er feststellen, was sie gelernt hatten.
Die Nacht war mondhell, der Waldboden trocken nach der langen Sommerhitze, sie kamen gut voran. Kaum eine Stunde verging, bis sie den Dorfrand erreichten, und als sie aus dem Wald kamen, sahen sie Feuerschein.
»O Gott, nein«, murmelte Cædmon flehentlich und zog sein Schwert. Nicht Metcombe, Gott. Nicht schon wieder.
»Es ist nicht das Dorf«, rief Alfred hinter ihm. »Das Feuer ist am Fluß. Es muß eines der Schiffe sein …«
Die Schlacht um Metcombe war schon in vollem Gange. Die Bauern hatten Cædmons Ratschläge getreulich befolgt und sich bewaffnet, verbargen sich hinter den Hecken ihrer Häuser und schossen aus dem Hinterhalt auf die Angreifer.
Als Cædmon mit seinen Leuten auf die Dorfwiese kam, ging die Mühle in Flammen auf, zwei große, schattenhafte Gestalten hatten den Müller ins Freie gezerrt, vor seinem Haus auf die Knie gezwungen, und ein dritter stand mit hoch erhobenem Schwert vor dem erleuchteten Nachthimmel und machte Anstalten, dem Müller den Kopf abzuschlagen.
Noch im gestreckten Galopp nahm Cædmon die Rechte vom Zügel, ließ die vorbereitete Schleuder über dem Kopf kreisen und den Stein dann herausschnellen. Er konnte nicht sehen, wo genau er den Dänen getroffen hatte, jedenfalls fiel ihm das Schwert aus der Hand, und er sackte zusammen. Die beiden, die den Müller gehalten hatten, ließen von ihrem Opfer ab, wirbelten herum und zogen die Schwerter.
Im Feuerschein der brennenden Mühle sah Cædmon weitere langhaarige, dunkel gekleidete Gestalten auf die Wiese eilen.
Er wandte sich kurz an seinen Vetter. »Nimm zehn Mann und durchkämm das Dorf. Versuch, sie hierher zu treiben. Die Dorfbewohner sollen bei ihren Häusern bleiben und ihre Familien schützen. Beeil dich!«
Das Scharmützel währte nicht einmal eine Stunde. Cædmon konnte kaum fassen, wie leicht es war. So anders als die erbitterten Schlachten in irgendwelchen namenlosen Mooren und Flußmündungen, von denen sowohl die Dichtung als auch die Dorfältesten so gern erzählten, Schlachten, in denen Dänen und Engländer sich wütende Schwertkämpfe lieferten und sich gegenseitig bis auf den letzten Mann aufrieben. Auch in Metcombe wurde hart gekämpft, sowohl Alfred als auch einer der älteren Housecarls wurden verwundet, aber die Männer des Dorfes stifteten mit ihren tückischen Pfeilen solche Verwirrung unter den angreifenden Dänen, daß diese sich bald zum Ufer des Flusses zurückzogen. Auf so erbitterte Gegenwehr waren sie einfach nicht gefaßt gewesen.
Cædmon verfolgte sie mit seinen Männern bis zum Fluß und tötete vier oder fünf der flüchtenden Wikinger mit der Schleuder. Nicht nur das verkohlte Wrack, sondern auch ein zweites der drei Angreiferschiffe blieb am Ufer des Ouse zurück. So viele Dänen waren gefallen oder lagen verwundet und stöhnend auf der Dorfwiese, daß sie das Schiff nicht mehr hatten bemannen können.
Langsam steckte Cædmon sein Schwert in die Scheide, schloß für einen Moment die Augen und ergab sich seinem Triumph. Er hatte bis heute nicht gewußt, wie berauschend ein Sieg sein konnte, wie er das Blut in Wallung brachte. Bislang hatte er immer nur die Schlachten seines Königs geschlagen – immer gegen Engländer –, hatte getan, was er sagte, war ihm gefolgt wie ein Schatten, um seinen Rücken zu decken, oder war gegangen, wohin er ihn schickte. Dies hier war sein erster eigener Sieg. Und er war süß.
Aber er gestattete sich nur einen Moment, das Gefühl auszukosten, ehe er sich besorgt umwandte. »Alfred?«
Sein Vetter ritt ein paar Längen vor und hielt neben ihm an. »Wir waren gar nicht mal so schlecht, oder?« Er keuchte leise.
»Wo hat es dich erwischt?«
»Am Bein. Blutet ziemlich, ist aber nicht schlimm.«
Cædmon war nicht gewillt, das so unbesehen zu glauben. Er wendete Widsith. »Reiten wir heim. Fünf Mann bleiben hier. Ich glaube nicht, daß die Dänen wiederkommen, aber sicher ist sicher. Los.«
»Thane«, murmelte eine gepreßte Stimme in der Nähe.
Cædmon hob den Kopf. »Ohthere? Bist du verletzt?«
»Nein.« Der altgediente Housecarl seines Vaters trat mit hängendem Kopf vor ihn und streckte ihm zögernd die Hand entgegen. »Wir haben das hier am Ufer gefunden.«
Cædmon erahnte eine Waffe in seiner Hand und nahm sie. Es war ein schmales, normannisches Jagdmesser mir einer matten Stahlklinge und einem geriffelten Elfenbeingriff. Cædmon erkannte es sofort. Schließlich hatte er selbst es seinem Bruder geschenkt.
Er schloß für einen Moment die Augen. »Eadwig … O mein Gott, Eadwig …«
»Er muß sich uns heimlich angeschlossen haben«, mutmaßte Ohthere erstickt. »Seit Wochen hat er davon gefaselt, er wolle dabeisein, wenn wir die Dänen zurückschlagen.«
Cædmon nickte. Eadwig hatte ihm unentwegt damit in den Ohren gelegen, und Cædmon hatte es ebenso hartnäckig abgelehnt, seine Bitte auch nur zu erwägen. Mit einemmal spürte er eine beinah übermächtige Übelkeit.
»Durchsucht das Dorf«, brachte er tonlos zustande. »Vielleicht liegt er irgendwo verwundet …«
Die Männer schwärmten ohne zu zögern aus und machten sich auf die Suche. Aber sie fanden keine Spur von Eadwig. Einer nach dem anderen kehrte unverrichteter Dinge zurück.
Cædmon saß reglos im Sattel, den Kopf tief gesenkt.
Alfred berührte ihn schließlich behutsam am Arm. »Wir können nichts tun, Cædmon«, sagte er leise. »Sie haben ihn mitgenommen.« Obwohl er selbst so gut wie jeder andere Mann wußte, daß es sinnlos war, befahl Cædmon, das Drachenschiff zu verfolgen. Er konnte einfach nicht tatenlos hinnehmen, daß sein Bruder verschleppt worden war, dem er doch hoch und heilig versprochen hatte, ihn zu beschützen. Und vor allem konnte er den Gedanken nicht ertragen, daß er Eadwig nie wiedersehen sollte. Denn die Dänen machten keine Gefangenen, um sie ihren Familien gegen Lösegeld zurückzugeben, wie es auf dem Kontinent üblich war. Sie nahmen sie mit zu einem ihrer großen Handelsplätze und verkauften sie in die Sklaverei.
Er trieb Widsith gnadenlos den Uferpfad entlang und hatte seine Männer bald abgehängt. Aber er holte die Dänen nicht mehr ein. Wenn sie alle Ruder besetzt hatten und mit der Strömung trieben, waren sie schneller als das beste Pferd. Als selbst das ausdauernde normannische Schlachtroß ausgepumpt zu keuchen begann, hielt Cædmon an. Er starrte auf das schwärzliche, glitzernde Band des Flusses hinaus, lauschte dem leisen Plätschern am Ufer und weinte um seinen Bruder.
Im ersten grauen Licht des anbrechenden Tages ging er zu seiner Mutter, gleich nach seiner Rückkehr. Marie war schon auf und angezogen, das fast schwarze Kleid und passende Tuch, das auch ihren Hals bis zum Kinn umschloß, perfekt und makellos wie immer.
Sie sah sogleich an seinem Gesicht, daß es etwas Entsetzliches war, das ihn zu ihr führte, und sie legte eine ihrer mageren, schneeweißen Hände um den Bettpfosten.
»Eadwig?«
Cædmon nickte. »Er ist heimlich mit uns geritten. Gott helfe mir, ich habe es nicht gewußt, Mutter. Ich hätte nie geglaubt, daß er so etwas tun würde …«
Sie schloß die Augen. »Ist er tot?«
»Nein.«
Sie riß die Augen wieder auf. »Wo ist er …«
»Sie haben ihn mitgenommen.«
Sie starrte ihn fassungslos an, ließ den Bettpfosten los und ballte beide Hände zu Fäusten. Dann machte sie einen unsicheren Schritt auf ihn zu, hob die Rechte, als wolle sie ihn ohrfeigen, ließ die Hand aber kraftlos wieder sinken.
»Eadwig … Oh, mein kleiner Sohn …« Ihr ganzes Gesicht verzerrte sich vor Schmerz, und sie weinte.
Er trat zögernd zu ihr. Ihm graute davor, daß sie ihn wegstoßen, ihm die Schuld geben würde. Aber sie schlang unerwartet die Arme um seinen Hals und preßte das Gesicht an seine Brust.
Er hielt sie, verlegen, unsicher und selber am Boden zerstört.
»Ich weiß, es ist nur ein schwacher Hoffnungsschimmer, aber ich werde Erik um Hilfe bitten.« Sie versteifte sich spürbar in seinen Armen, aber er hielt sie weiterhin und fuhr fort: »Ich bin sicher, sie bringen Eadwig nach Haithabu, da ist der größte Sklavenmarkt im ganzen Norden. Erik ist dort zu Hause. Er kann hinfahren, und vielleicht gelingt es ihm ja, Eadwig ausfindig zu machen und zurückzubringen.«
Sie hob den Kopf, machte sich von ihm los und tupfte mit dem Ärmel über ihr Gesicht. »Ich kann diesem Wikinger einfach nicht trauen, Cædmon. Vermutlich würde er Eadwig eher selbst verkaufen, als ihn uns zurückzubringen.«
»Das glaube ich nicht. Schon wegen Hyld würde er das nicht tun. Und Guthric ist überzeugt, Erik sei ein anständiger Kerl.«
Ihr Mund verzog sich, und Cædmon war beinah erleichtert, daß sie zu ihrer kühlen Verächtlichkeit zurückgefunden hatte. Das war ihm vertraut, er war es gewohnt, damit umzugehen.
»Guthric ist nicht gerade das, was ich einen Menschenkenner nennen würde«, versetzte sie, sank dann auf die Bettkante nieder und starrte in ihren Schoß hinab. »Aber du hast recht. Es ist die einzige Chance, Eadwig zurückzubekommen. Wir dürfen nichts unversucht lassen. Gott, wenn ich daran denke, was er durchmacht, was sie ihm antun könnten …«
Cædmon spürte, wie sein Magen sich verkrampfte. »Sie werden ihn schon anständig behandeln«, sagte er hastig. »Schließlich soll er ihnen ja etwas einbringen.«
Marie nickte und wechselte das Thema: »Wann willst du nach York aufbrechen?«
Er sah aus dem Fenster. Es war hell und versprach ein strahlend schöner Sommertag zu werden. »In einer Stunde.«
Marie betrachtete ihn kritisch. »Aber kannst du so einfach fort? Hat der König dich nicht ausdrücklich angewiesen, bis auf weiteres in East Anglia zu bleiben und die Küste zu sichern?«
»Ich glaube kaum, daß die Dänen sich nach letzter Nacht noch einmal herwagen. Aber selbst wenn. Alfred kann ebensogut mit ihnen fertig werden, das wichtigste ist, daß wir genügend geschulte Männer haben. Ich reite nach York. Ich bin sicher, der König wird es billigen, wenn ich ihm die Situation erkläre.«
»Das wird er nicht, und das weißt du. Du wirst in Teufels Küche kommen.«
Cædmon öffnete die Tür und blieb noch einmal kurz stehen.
»Ich glaube, da bin ich längst.«