Rouen, Januar 1066
»In jenen Tagen aber verbannten mich Vater und Mutter. Dem Tode nahe, nur in meinem Innern noch ein Funke Leben, fand ich Obdach bei einer mildtätigen Frau, die mich in ihren Kleidern wärmte, mich fremdes Geschöpf in ihr Haus aufnahm wie ihr eigenes Kind. Sie nährte mich, bis ich erwachsen war und in die Fremde ziehen konnte. All dies tat sie für mich, zum Schaden ihrer Söhne und Töchter. Wer bin ich?« Cædmon sah in die Runde grübelnder Gesichter und lehnte sich mit verschränkten Armen und einem zufriedenen Lächeln zurück.
Eine fahle Januarsonne schien durch die Fenster der großen, herzöglichen Halle von Rouen. Es war der letzte Tag der Weihnachtsfeierlichkeiten, das Fest der Heiligen Drei Könige. Die jungen Damen und Knappen des Hofes saßen am frühen Nachmittag nahe am Kamin zusammen und genossen die letzten Stunden des seligen Nichtstuns.
»Nur in meinem Innern noch ein Funke Leben?« fragte Etienne fitz Osbern versonnen.
Cædmon nickte.
»Ein Mönch?« tippte Etienne. »Und die Frau, die ihn aufnimmt, ist die heilige Mutter Kirche?«
»Aber wer wären dann die leiblichen Kinder der Frau?« wandte Aliesa ein.
Mit sorgsam verborgener Wonne betrachtete Cædmon ihre gerunzelte Stirn. Ihr ganzes Gesicht spiegelte höchste Konzentration wider, und ihre zierliche Nase war gekräuselt.
»Nein, es ist kein Mönch«, bestätigte Wulfnoth, dessen Schatz an Rätseln noch unerschöpflicher war als Cædmons.
»Gib uns einen Hinweis«, verlangte Etienne. »Ist es ein Ding oder ein Lebewesen?«
»Wie kann ein Ding Mutter und Vater haben, du Esel«, schalt Aliesa ungeduldig.
»Ein Kuckuck!« rief der elfjährige Richard triumphierend. »Es muß ein Kuckuck sein. Die Frau ist die Vogelmutter, ihre leiblichen Kinder die Küken, die der Kuckuck aus dem Nest wirft!«
Cædmon stand von der Bank auf und verneigte sich vor dem Sohn des Herzogs. »So ist es. Und damit führt Richard insgesamt. Seit Heiligabend hat er zwölf Rätsel erraten, gefolgt von Aliesa mit zehn, dann kommt lange Zeit niemand, dann Etienne mit fünfen und dann ihr restlichen Tölpel mit einem oder zweien. Ähm …« Er verneigte sich knapp vor den beiden anderen Söhnen des Herzogs, Robert und William. »Von den Tölpeln seid ihr selbstverständlich ausgenommen, Monseigneurs.«
Alle lachten, und ein Page brachte ein Tablett mit heißem Würzwein und kleinen Ingwerküchlein. Sie langten begierig zu, auch wenn Cædmon Wulfnoth zuraunte: »Gut, daß das Fressen morgen ein Ende hat, sonst wäre ich bald so feist wie Etiennes Vater.«
»Kennt ihr noch mehr Rätsel?« fragte William, der jüngste der Söhne des Herzogs, der von allen Rufus genannt wurde. »Rufus« sei lateinisch und bedeute »der Rote«, hatte Wulfnoth Cædmon erklärt. Der junge William trug den Beinamen wegen seiner auffallend geröteten Wangen. »Habt ihr nicht noch eins?«
»Doch«, antworteten die beiden Engländer wie aus einem Munde und sahen sich grinsend an.
Wulfnoth nickte Cædmon auffordernd zu. »Stell du ihnen noch eines. Mir fallen im Augenblick nur die einfachen ein.«
»Also schön.« Cædmon überlegte einen Moment, dann nahm er die Unterlippe zwischen die Zähne, warf einen abschätzenden Blick in die Runde und sagte schließlich: »Hört gut zu. Das ist eine wirklich harte Nuß: Prächtig hängt dies Ding beim Schenkel des Mannes, gleich unter seinem Gewande. Es ist steif und hart, und wenn der Mann sein Gewand anhebt, will er das Loch mit dem Haupt seines Gehänges grüßen, jene wundersam passende Öffnung, die es so oft zuvor schon füllte. Was ist dieses Ding?«
Alle starrten ihn sprachlos an, manche entsetzt, manche beschämt, Etienne wider Willen belustigt.
Lucien de Ponthieu erhob sich unvermittelt. »Was fällt dir ein! Es sind Damen in dieser Gesellschaft, und wir sind hier nicht in einem gottverdammten englischen Schweinestall!«
Cædmon machte große Unschuldsaugen. »Aber Lucien, was hast du denn nur? Was ist mit euch? Strengt eure Köpfe an, so schwierig ist es nun auch wieder nicht.«
Lucien krallte die Linke in Cædmons Gewand und ballte die Rechte. »Jetzt ist es genug …«
Cædmon sah ihm in die Augen. »Vielleicht solltest lieber du dich besinnen, wo du dich befindest. Nimm deine Hände von mir, sei so gut.«
»Es ist ein Schlüssel!« verkündete der neunjährige Rufus, der so angestrengt nachgedacht hatte, daß er weder das peinliche Schweigen noch den drohenden Streit wahrgenommen hatte.
Cædmon lächelte breit. »So ist es, Rufus. Ein Schlüssel.« Er sah mit gerunzelter Stirn in die Runde. »Oder hat jemand etwas anderes vermutet?«
Alle außer Lucien brachen in schallendes Gelächter aus, und der letzte Rest Anspannung verflog.
»Ich glaube, ich werde euch lieber ein Gedicht vorlesen, ehe sich hier irgendwer beim Rätselraten eine blutige Nase holt«, schlug Aliesa vor, die einzige der jungen Hofdamen, die Cædmons Blick tapfer erwidert hatte, als er sein tückisches Rätsel stellte. Mit einem liebevollen und gleichzeitig bittenden Lächeln besänftigte sie ihren Zwillingsbruder. »Würdest du mir das Buch herüberreichen, Lucien?«
Er brachte ihr den schweren, ledergebundenen Band. Aliesa legte ihn vor sich auf den Tisch, andächtig und voller Ehrfurcht schlug sie ihn auf und blätterte die gelben Pergamentseiten behutsam um. Das Buch gehörte Herzogin Matilda, die es ihr geliehen hatte, um sich und die anderen jungen Leute am Hof während der Festtage zu unterhalten. Es war eine Kostbarkeit, und Aliesa lebte in ständiger Angst, daß irgendwer Wein darüber verschütten oder es mit schmutzigen Händen anfassen könnte.
»Was wollt ihr hören? Vom Untergang Trojas? Oder von Roland?« »Roland! Roland!« riefen die jungen Normannen begeistert aus. Sie bekamen einfach nie genug von den Ruhmestaten des Paladins Karls des Großen. Sie nahmen ihn sich zum Vorbild, verehrten ihn als großen Helden ihres Volkes, was, so hatte Wulfnoth Cædmon gegenüber angemerkt, eigentlich doch ziemlich albern war, denn Karl der Große und sein treuer Roland waren Franken gewesen und hatten zu einer Zeit gelebt, da die Vorfahren aller Normannen noch wilde Nordmänner waren, die ihrem einäugigen Gott Odin Pferdeopfer darbrachten …
Aliesa fand die richtige Stelle und begann zu lesen. Anfangs lauschte Cædmon nur dem wunderbar melodischen Klang ihrer Stimme. Die Geschichte kannte er zur Genüge – auch wenn er sie noch nie in Versen gehört hatte –, und er hielt keine besonders großen Stücke auf Roland. Aus purem Trotz lehnte er ihn ab, nur aus dem einen Grund, weil Jehan de Bellême ihnen den fränkischen Helden wenigstens einmal am Tag als leuchtendes, für sie unerreichbares Beispiel hinstellte. Cædmon wünschte sich, Aliesa könne einmal die Geschichten und Verserzählungen hören, die in englischen Hallen vorgetragen wurden, von Oswald und Edmund, den Märtyrerkönigen, von Wiland dem Schmied, von Siegfried und dem Drachen und von Beowulf. Aber das würde wohl niemals geschehen …
Er seufzte vernehmlich, und als er Wulfnoths eindringlichen Blick spürte, riß er sich zusammen und konzentrierte sich auf die Geschichte dieses tragischen Helden, der, verraten von seinem eigenen Stiefvater, bei der Überquerung eines Gebirgspasses vom Heer abgeschnitten wurde. Zu stolz, das Horn zu blasen und seinen Kaiser so zu Hilfe zu holen, starb er völlig unnötig, irrtümlich erschlagen von der Hand seines treuen Freundes, des vom Feind geblendeten Olivier. Gerade als das Heer unter der Führung des mächtigen Karl kehrtmachte, um die gemeuchelte Elite seiner Ritterschaft zu rächen, brach Aliesa plötzlich ab.
Cædmon hob verwundert den Kopf und folgte dann hastig dem Beispiel seiner Gefährten, sprang auf und verneigte sich tief.
Herzog William stand mit verschränkten Armen vor einer der Säulen. Das Feuer warf unruhige Schatten auf sein Gesicht, das völlig unbewegt war bis auf einen Muskel in seiner rechten Wange, der rhythmisch zuckte. Seine schwarzen Augen loderten. Cædmons Herz sank, und er hatte nicht übel Lust, es den jüngeren Söhnen des Herzogs gleichzutun, zurückzuweichen und sich so klein wie möglich zu machen. Was auch immer geschehen sein mochte, er hoffte inständig, daß es nichts mit ihm zu tun hatte.
Prompt fiel Williams Blick auf ihn. So muß die Maus sich fühlen, wenn sie sich der Katze gegenübersieht, dachte Cædmon flüchtig, schluckte und rang darum, nicht die Augen niederzuschlagen. Dann glitt der Blick des Herzogs weiter zu Wulfnoth.
»Ein Bote aus England ist eingetroffen«, sagte er, seine Stimme vollkommen ausdruckslos. »Ich bedaure, euch mitteilen zu müssen, daß mein Cousin, König Edward, gestern morgen kurz vor Tagesanbruch aus dieser Welt geschieden ist.«
Cædmon bekreuzigte sich und trat instinktiv einen Schritt näher zu Wulfnoth, der den Kopf gesenkt hatte, ebenfalls das Kreuzzeichen machte und murmelte: »Ruhe in Frieden, Schwager Edward.«
War die Nachricht auch lang erwartet, war sie dennoch ein Schock für die beiden Engländer. Der fromme Edward war so lange König gewesen, beinah ein Vierteljahrhundert, daß sie sich ein England ohne ihn kaum vorstellen konnten.
»Ich teile Euren Schmerz«, fuhr Herzog William in dem gleichen bedächtigen Tonfall fort. »England verliert einen guten König. Aber seid guten Mutes. Es hat schon einen neuen. Gerade jetzt, da wir hier stehen und plaudern, setzt der Erzbischof von York ihm in der neuen Klosterkirche von Westminster die Krone aufs Haupt.«
Cædmon hatte plötzlich das Gefühl, als habe er einen heißen Wackerstein im Bauch.
William lächelte schwach. »Ich denke, ich muß Euch gratulieren, Wulfnoth Godwinson.«
»Harold …«, brachte Wulfnoth tonlos hervor.
Der Herzog nickte. »Besteigt heute als der zweite dieses Namens den englischen Thron.« Er ließ die Arme sinken, und seine großen Hände ballten sich zu mächtigen Fäusten, als er einen Schritt näher auf sie zu trat. »Obwohl er geschworen hat, meinen Anspruch auf eben diesen Thron zu unterstützen. Obwohl er in meinen Dienst getreten ist.« Er unterbrach sich einen Augenblick, um sich wieder zu fassen. »Armes England. Ein Eidbrecher, Lügner und Verräter ist dein neuer König. Doch ich höre ihn schon sagen, daß er es nicht verhindern konnte, denn, so berichtet mein verläßlicher Bote, das Witenagemot, euer altehrwürdiger, angelsächsischer Kronrat, habe ihn zum König gewählt. Nachdem der sterbende König ihn zu seinem Nachfolger bestimmt habe. Was, denkt Ihr, Wulfnoth, wollen wir ihm als Krönungsgeschenk schicken? Euren Kopf vielleicht?«
Wulfnoth rührte sich nicht und sagte kein Wort. Cædmon hingegen konnte sich nicht so meisterlich beherrschen. Seine Furcht machte ihn kopflos. »Monseigneur, bitte, Wulfnoth kann doch nichts …«
»Euer Vater hat ebenfalls für Harold gestimmt, Cædmon of Helmsby!« donnerte William.
Cædmon fuhr leicht zusammen. »Aber mein Vater gehört nicht zum Witenagemot …«
»Ihr seid nicht auf dem laufenden über die politischen Veränderungen in England, mein junger Freund. Euer Vater ist ein einflußreicher Mann geworden.« Ehe Cædmon diese Neuigkeit noch richtig aufnehmen konnte, fuhr der Herzog zu der Wache am Eingang der Halle herum und befahl: »Sperrt sie ein! Bringt dieses Verräterpack in irgendein Kellerloch, wo ich sie nicht sehen muß! Sofort!«
Die Wachen eilten herbei, und Cædmon spürte einen eisernen Griff im Nacken, eine zweite Hand umklammerte seinen linken Oberarm. »Komm schon«, sagte der Soldat unwirsch. Er zerrte ihn herum, und für einen kurzen Moment sah Cædmon Aliesa, die ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte, ohne daß er hätte sagen können, ob es Abscheu oder Furcht um sein Leben war, die sie empfand. Ihre Blicke trafen sich, doch dann trat ihr Bruder zwischen sie. Seine Miene war unschwer zu deuten. Er genoß das Schauspiel, das sich ihm bot.
Der Wachsoldat versetzte Cædmon einen unsanften Tritt in die Wade und zerrte ihn zur Tür. »Beweg dich.«
Cædmon erkannte ihn erst jetzt. Es war Michel, der seit jener verrückten Nacht auf der Brustwehr einer seiner wenigen Freunde unter den Männern des Herzogs gewesen war. Damit schien es jetzt allerdings vorbei zu sein.
Aber Cædmon irrte sich. Kaum waren sie zur Tür hinaus, ließ Michel ihn los. »Ich werde für dich beten, Cædmon«, murmelte er.
»Ja, ich glaube, ich habe im Augenblick jede Art von Fürsprache nötig«, erwiderte Cædmon beklommen.
Michel und der zweite Wachsoldat brachten sie in ein wahrhaft schauriges Kellerverlies. Es war ein relativ großer Raum mit einer niedrigen Decke, die auf dicken, steinernen Pfeilern ruhte. Als Michel mit einer Fackel eintrat, huschten ein gutes Dutzend Ratten in alle Richtungen davon.
»Es ist das beste, was wir zu bieten haben«, entschuldigte er sich bei den beiden Gefangenen.
Cædmon und Wulfnoth nickten ergeben. Im Augenblick hatten sie wirklich andere Sorgen.
»Ich bringe euch Decken«, versprach Michel. »Sonst noch irgendwas, das ihr braucht?«
Sie schüttelten die Köpfe. Erst später kam ihnen der Gedanke, daß sie sich die eintönigen Stunden in dieser finsteren Gruft mit der Laute hätten verkürzen können.
Michel befestige die Fackel an einer Halterung in der Wand und ging hinaus. Der Riegel rasselte vernehmlich. Wulfnoth setzte sich mit dem Rücken an einen der Pfeiler gelehnt ins Stroh. Cædmon blieb nahe der Tür stehen, sah sich um, nahm die Schleuder vom Gürtel und fischte einen der Kiesel aus seinem Beutel, die er gewohnheitsgemäß immer bei sich trug.
»Gib acht, was du triffst, Cædmon. Wenn du mir ein Loch in den Schädel schießt, wird William schwer enttäuscht sein. Ein eingedelltes Krönungsgeschenk macht sicher einen schlechten Eindruck.«
Cædmon antwortete nicht. Er legte den Stein ein und ließ die Schleuder über dem Kopf kreisen, bis sie gleichmäßig sang. Dann schnellte der Stein heraus und traf eine große Ratte genau zwischen die Augen.
»Nummer eins.«
»Du hast nicht genug Steine, um sie alle zu erledigen.«
»Dann werde ich mir meine Steine eben wiederholen.« Er legte einen neuen ein und tötete die zweite Ratte.
»Herrgott, hör auf damit!« herrschte Wulfnoth ihn an.
Cædmon zog die Brauen hoch, zuckte dann die Schultern und ließ sich ihm gegenüber im Stroh nieder. Es war längere Zeit still.
Schließlich fragte er: »Wird er uns töten, Wulfnoth?«
»Ich weiß es nicht. Eben in der Halle dachte ich, er würde es auf der Stelle tun. Ich denke, je mehr Zeit vergeht, um so besser stehen unsere Chancen.«
Cædmon nickte. »Na ja. Die Sache hat auf jeden Fall ihre gute Seite. Solange wir hier eingesperrt sind, habe ich Ruhe vor Jehan de Bellême. Das ist ein nicht zu überschätzender Vorzug. So betrachtet, könnte ich mich an dieses Quartier durchaus gewöhnen. Vor allem, wenn du mir gestattest, die Ratten zu …«
»Cædmon, du darfst nicht denken, dein Vater hätte dich willig geopfert. Ich bin überzeugt, ihm blieb keine andere Wahl. Du hast keine Vorstellung, wie Harold einem Mann zusetzen kann, wie …«
»Hör doch auf«, fiel Cædmon ihm ärgerlich ins Wort. »Ich bin kein Bengel mehr.«
»Nein. Ich sage dir diese Dinge, weil es so ist. Weil ich meinen Bruder soviel besser kenne als du.«
Cædmon winkte ungeduldig ab. »Und wenn schon. Mag sein, daß mein Vater mich heute nicht geopfert hat, aber vor zwei Jahren hat er es ganz sicher getan. Und im Grunde ist es auch völlig gleich, wer uns den Strick umgelegt hat, an dem wir zur Schlachtbank geführt werden. Ob mein Vater oder dein Bruder, was macht das für einen Unterschied?«
Wulfnoth nickte zustimmend. »Nicht den geringsten, du hast recht.« Er streckte die Beine aus und lehnte den Kopf zurück gegen den dicken, gemauerten Pfeiler. »Gott, Harold, welch unanständige Hast. Der arme Edward kann noch nicht einmal kalt gewesen sein, als du seine Krone genommen hast.«
»Glaubst du wirklich, der König hat ihn vor seinem Tod zum Nachfolger bestimmt?«
Wulfnoth schnaubte. »Nie im Leben. Der König konnte meinen Bruder ebensowenig ausstehen wie meinen Vater. Er hat sie beide immer gefürchtet.«
»Vielleicht war sein Geist verwirrt«, gab Cædmon zu bedenken.
»Vielleicht. Vielleicht hat Harold diese rührselige Geschichte vom Sinneswandel in letzter Minute aber auch nur erfunden, um die Witan für sich zu gewinnen.«
Cædmon nickte nachdenklich, legte die Arme auf die angezogenen Knie und stützte das Kinn auf die Faust. »Und was wird Herzog William tun?«
»Gute Frage. Ich kann mir irgendwie nicht so recht vorstellen, daß er müßig die Hände in den Schoß legt und seine Träume von der englischen Krone stillschweigend begräbt.«
Tatsächlich rief der Herzog umgehend eine Versammlung seiner mächtigsten Adligen und Verbündeten ein. Während Cædmon und Wulfnoth in Furcht und Ungewißheit schmorten, traf sich der Rat in Lillebonne, etwa zwanzig Meilen westlich von Rouen, und dort erörterten sie, wie man auf diesen Affront reagieren solle.
Am Tag der Rückkehr des Herzogs schlich Etienne sich abends in den Keller hinab zum Verlies und brachte den beiden Engländern Neuigkeiten und Brathühnchen.
»Hier, mit den besten Grüßen aus der Küche. Jetzt macht es sich bezahlt, daß du dort so gute Kontakte unterhältst, Cædmon«, bemerkte er mit einem süffisanten Lächeln.
Cædmon brummte irgend etwas Unverständliches und begann zu essen. Etienne und die anderen jungen Männer am Hof waren regelmäßige Gäste in den Freudenhäusern der Stadt. Weil Cædmon sie nie begleitete, gingen sie davon aus, daß er anderweitig auf seine Kosten kam, und irgendwie war das Gerücht um Cædmon und eine der Küchenmägde in die Welt gekommen. Er tat nichts, um es zu zerstreuen, obwohl es jeglicher Grundlage entbehrte. Selbst wenn er ein Mädchen gefunden hätte, das bereit gewesen wäre, sich mit einer englischen Geisel einzulassen, er hätte es nie riskieren können. Wäre sie schwanger geworden, hätte das für ihn böse Schwierigkeiten zur Folge gehabt. Doch ebensowenig konnte er seine Freunde bei ihren Ausflügen begleiten, weil er so gut wie kein Geld besaß. Die beschämende Wahrheit war, daß er in dieser Disziplin nach wie vor unerprobt war. Aber er wollte wirklich nicht, daß irgendwer das auch nur ahnte.
Etienne hielt sein beharrliches Schweigen fälschlicherweise für galante Zurückhaltung und wechselte das Thema.
»Ich wäre schon eher gekommen, aber mein Vater hat es ausdrücklich verboten.«
»Und jetzt hat er es erlaubt?« fragte Wulfnoth ungläubig.
Etienne schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Aber er ist noch in Lillebonne und kommt erst morgen zurück.«
Cædmon lächelte seinem Freund dankbar zu. »Du riskierst mal wieder Kopf und Kragen. Wenn Jehan davon erfährt …«
»Tja, du wirst es nicht glauben, Cædmon, aber es war Jehan, der die Wachen überredet hat, mich zu euch zu lassen. Ich sag’s ja immer, er hat eine Schwäche für euch beide.«
»Ich glaube, mir wird schlecht«, brummte Cædmon, aß aber mit unvermindertem Appetit weiter. Michel sorgte dafür, daß sie ausreichend beköstigt wurden, aber die erlesenen Speisen, die in der Halle serviert wurden, verschwendete man nicht an die in Ungnade gefallenen Engländer.
»Jedenfalls habt ihr nach wie vor Freunde hier«, versicherte Etienne nachdrücklich.
Cædmon öffnete den Mund zu einer bissigen Bemerkung, aber Wulfnoth kam ihm zuvor. »Das wissen wir zu schätzen, Etienne«, sagte er eilig und warf Cædmon einen warnenden Blick zu. »Und jetzt erzählt, was immer Ihr uns sagen könnt.«
Der junge Normanne dachte einen Moment nach und beobachtete Cædmon, der aufgestanden war, um die Fackel zu erneuern, deren Zischen und Flackern verriet, daß sie bald verlöschen wollte.
»Cædmon, du hinkst!« rief Etienne erschrocken.
»Ich weiß.« Cædmon winkte beruhigend ab.
Das Bein hatte nie ganz aufgehört, ihm Schwierigkeiten zu bereiten. Im Winter machte es ihm mehr zu schaffen als im Sommer, aber ganz gleich zu welcher Jahreszeit kündigte es ihm einen jeden Wetterumschwung durch einen dumpfen, ziehenden Schmerz an, und die Leute auf der Burg in Rouen hatten sich angewöhnt, ihn zu fragen, ob es Regen geben werde. Er irrte sich so gut wie nie. Doch die Beschwerden beeinträchtigten ihn kaum noch, er dachte so gut wie nie an diese alte Geschichte, und seit jenem Abend im vorletzten Sommer, als er Wulfnoth gehindert hatte, sich von der Brustwehr zu stürzen, hatte ihn niemand mehr hinken sehen.
»Ein bißchen kalt und feucht hier unten. Und ich habe vermutlich nicht genug Bewegung.«
»Ich glaube nicht, daß ihr es noch lange hier aushalten müßt«, sagte Etienne zuversichtlich. »Natürlich ist der Herzog immer noch zornig auf Euren Bruder, Wulfnoth. Aber er tobt nicht mehr.«
Wulfnoth nickte. »William hatte seit jeher einen kühlen Kopf in seinem Zorn, das macht ihn so gefährlich.«
»Die Unterstützung des Adels und seiner Vasallen hat ihn besänftigt«, fuhr Etienne fort. »Der Herzog hat es als bedauerliche Tatsache akzeptiert, daß der englische Adel nicht zum Versprechen seines toten Königs steht und …«
»Es klingt ziemlich häßlich, wie du das sagst«, unterbrach Cædmon aufgebracht.
»Es ist häßlich«, entgegnete Wulfnoth. »Bedauerlicherweise war König Edward der einzige Mann in England, der einen Normannen auf dem englischen Thron wollte. Vielleicht war es unklug und selbstsüchtig, daß er dieses Versprechen gab, aber wie dem auch sei, sein Versprechen hätte die Witan binden müssen. Jeder Angehörige des Rates, der für Harold gestimmt hat, hat sich ehrlos verhalten, wie gut seine Gründe auch immer gewesen sein mögen. Und mein Bruder ist von allen am tiefsten gesunken. Fahrt fort, Etienne.«
»Der Herzog und der Rat haben beschlossen, daß eben erkämpft werden muß, was man ihm widerrechtlich vorenthält. Eine Flotte soll gebaut werden. Und sobald sie fertig ist, wird sie nach England segeln.« Cædmon traute seinen Ohren kaum. »Er will England … erobern?« Wulfnoth pfiff leise durch die Zähne. »Ich habe irgendwie immer geahnt, daß er nicht die Absicht hat, als William ›der Bastard‹ in die Geschichte einzugehen.«
Cædmon hörte nicht hin. »Er muß wahnsinnig sein. Ich meine, das kann nicht einmal er wagen. Es ist aussichtslos, und die ganze Christenheit würde empört aufschreien.«
»Wieso glaubst du das?« fragte Etienne kühl. »Er will nichts weiter als sein Recht durchsetzen.«
»Herrgott noch mal, Etienne, ich bin gerne bereit zuzugeben, daß Harold Godwinson sein Wort gebrochen und sich ehrlos verhalten hat, aber jetzt ist er der vom Witenagemot gewählte König! Da ist nichts mehr zu machen.«
»Ich schätze, das werden wir sehen.«
»Aber ihr habt kein Recht …«
Etienne hob abwehrend die Hand. »Cædmon.«
»Was?«
»Ich glaube, wenn wir Freunde bleiben wollen, müssen wir uns darauf einigen, bestimmte Themen zu meiden. Und ich schätze, dazu gehört, was ich über deinen König denke und was du über meinen Herzog denkst. Was meinst du?«
Cædmon dachte einen Augenblick nach. Dann nickte er knapp. »Du hast recht.«
Etienne lächelte schwach. »Dann wollen wir es in Zukunft so halten. Politik ist schließlich keine Sache zwischen dir und mir.«
»Nein«, stimmte Cædmon mit mehr Überzeugung zu. »Du hast recht, Etienne. Entschuldige.«
Etienne winkte ab, sah sich kurz um und schauderte unwillkürlich. »Ich kann verstehen, daß du auf uns Normannen im Augenblick nicht gut zu sprechen bist, weißt du. Ich glaube, ich könnte es hier nicht mit so großer Gelassenheit aushalten wie ihr. Und darum werde ich euch jetzt verlassen, Monseigneurs«, schloß er grinsend.
Anfang Februar wurden Wulfnoth und Cædmon tatsächlich ohne ein Wort der Erklärung aus ihrem Verlies entlassen. Es war früher Morgen, noch fast dunkel, und die Wachen, die sie die Treppe hinauf in den eisig kalten Hof führten, hießen Wulfnoth, sie zu begleiten. Cædmon möge in die Halle gehen und frühstücken und sich dort bereithalten.
Die beiden Engländer tauschten unbehagliche Blicke.
In der Halle war Hochbetrieb. So unauffällig wie möglich ging Cædmon zu dem Platz an der linken Tafel, wo er zusammen mit Wulfnoth saß, wenn er sich gelegentlich hier aufhielt. Zwei normannische Ritter gleich neben ihm unterbrachen ihre Unterhaltung, als er Platz nahm, und standen mit solchem Nachdruck auf, daß die Leute in der Nähe neugierig aufschauten. Mit einem unendlich verächtlichen Blick in Cædmons Richtung gingen die beiden Männer davon. Cædmon biß die Zähne zusammen und tat, als mache ihm das überhaupt nichts aus. Er hatte kaum aufgegessen, als eine Wache zu ihm trat und ihm mitteilte, Herzog William wünsche ihn umgehend zu sehen. Schweren Herzens folgte Cædmon dem Mann aus der Halle. Er war alles andere als erpicht darauf, sich dem Zorn und Hohn des Herzogs auszusetzen, er fand, die Normannen stellten gar zu hohe Ansprüche an seine Duldsamkeit.
Die Wache führte ihn eine Treppe hinauf zu den herzöglichen Gemächern, klopfte an und bedeutete Cædmon mit einem Nicken einzutreten.
William saß zurückgelehnt in einem Sessel am Fenster. Ein Leinentuch bedeckte seine Brust, und hinter seiner Schulter stand sein Barbier, das frisch geschärfte Rasiermesser in der Hand.
Cædmon trat zögernd ein paar Schritte in den Raum, verneigte sich tief und sah sich verstohlen um. Er war zum erstenmal in diesem Gemach. Wunderbare, große Teppiche bedeckten die Wände, die Steinfliesen waren mit frischem Stroh und duftenden Kräutern ausgelegt. An einem der beiden schmalen, hohen Fenster stand ein dunkel gebeizter Eichentisch mit mehreren brokatgepolsterten Sesseln, unter dem anderen ein hohes Stehpult mit einer Kerze darauf, hinter dem ein kleiner, blasser Mönch wartete, die Feder einsatzbereit in der Hand. Sonst war niemand im Raum.
»Tretet näher, Cædmon«, sagte William nicht unfreundlich.
Cædmon wagte sich drei Schritte weiter vor.
»Ich wünsche, daß Ihr eine Protestnote übersetzt, die ich nach England zu schicken gedenke. Wiederholt langsam in Eurer Sprache, was ich sage. Deutlich, damit der Schreiber die fremden Worte auch versteht.« »Ja, Monseigneur.«
»Pierre, worauf wartest du, denkst du, ich habe den ganzen Tag Zeit, mich rasieren zu lassen«, fuhr er den Barbier zerstreut an, der sich schleunigst an die Arbeit machte. William legte den Kopf zurück und begann zu diktieren: »An Harold, Earl of Wessex. Mit großem Bedauern habe ich von Eurer Usurpation Kenntnis genommen, mit der Ihr die englische Krone widerrechtlich und entgegen Eurer beeideten Zusicherung an Euch gebracht habt. Ich ermahne Euch nachdrücklich, Euch zu besinnen, denn nicht nur habt Ihr gegen jedes geltende weltliche Recht verstoßen, sondern mit dem Bruch Eures feierlichen Eides Euer Seelenheil verwirkt …«
Es wurde ein langer, äußerst scharfer Brief, und das Diktat ging nur stockend vorwärts, denn der Schreiber mußte Cædmon allenthalben bitten, einzelne Worte zu wiederholen. Entsetzt stellte er fest, daß die Sprache der Engländer vornehmlich aus gelispelten Zischlauten zu bestehen schien und insgesamt ein mißtönendes Gekrächz ergab, das sich eher nach einer schlimmen Halsentzündung denn einer Sprache von Christenmenschen anhörte.
»Monseigneur, ich finde keine Buchstaben für diese … Geräusche«, jammerte er.
William, der von Buchstaben nicht mehr Ahnung hatte als Cædmon und dem die Tragweite des Problems daher nicht bewußt war, hob abwehrend die Hand. »Macht es so gut wie Ihr könnt. Und jetzt weiter.« Als schließlich sowohl Brief als auch Rasur abgeschlossen waren, schien die Laune des Herzogs sich merklich gebessert zu haben. Vermutlich hat es ihm gutgetan, sich seinen Groll von der Seele zu reden, dachte Cædmon.
»Und was sagt Ihr, Cædmon? Habe ich recht oder nicht?«
Der junge Engländer hob verwundert den Kopf; das war eine seltsame Frage für den sonst so unnahbaren Herzog. »Ihr habt mit jedem Wort recht«, räumte er ein.
»Aber trotzdem ist Euch König Harold auf dem englischen Thron lieber als König William?«
Cædmon geriet in arge Bedrängnis. Beinah wünschte er, der Herzog würde ihn zurück in das Rattenloch im Keller schicken, statt ihn dieser Befragung zu unterziehen.
»Hättet Ihr wohl die Güte, mir zu antworten, Cædmon of Helmsby?« Cædmon sah ihn an. »Nein, Monseigneur. Mir ist er nicht lieber. Harold Godwinson hat seinen König hintergangen, seinen Bruder verraten, meinen Vater erpreßt, mich im Stich gelassen und Euch betrogen. Ich halte ihn für keinen guten Mann und daher für keinen guten König. Aber ich bin sicher, die Witan und die meisten Menschen in England sind anderer Ansicht. Sie sehen in ihm den mutigen Heerführer, als der er sich ungezählte Male bewährt hat, den starken Mann, der England vor unwillkommenen Invasionen schützen wird, sei es aus Süden oder Norden. England will keinen fremden König und wird sich auch keinem fremden König unterwerfen.«
William hatte mit leicht geneigtem Kopf zugehört und schien jetzt tief in Gedanken versunken. Dann wandte er sich an den Schreiber: »Nun, Bruder Rollo, was sagt Ihr? Haben beide das gleiche diktiert?«
Der kleine Mönch sah stirnrunzelnd von seinen Pergamentrollen auf und nickte zögernd. »Ja, Monseigneur. Soweit ich feststellen kann, decken sich Wulfnoths und Cædmons Übersetzungen.«
William nickte zufrieden und zeigte sein seltenes Lächeln. »Verzeiht mein Mißtrauen, Cædmon.«
»Ich kann verstehen, daß Euer Vertrauen in die Aufrichtigkeit der Engländer erschüttert ist.«
William riß sich mit der für ihn so typischen Ungeduld das Handtuch von der Brust, stand auf und trat auf ihn zu. »Aber Ihr wart aufrichtig und offen, also werde ich es auch sein. Ich gestehe, als ich von Harold Godwinsons Verrat erfuhr, wollte ich seinen Bruder und Euch töten. Aber Ihr habt nicht nur einflußreiche, sondern auch sehr weise Fürsprecher an meinem Hof. Und einer sagte etwas, das mir immer klüger und bedeutsamer erscheint, je länger ich darüber nachdenke. Ihr erklärt, England wird sich keinem fremden König unterwerfen. Nun, dann muß es eben unterworfen werden. Die Krone steht mir zu, und ich werde sie bekommen. Und wenn es soweit ist, werde ich Männer wie Euch brauchen. Männer, die eine Brücke schlagen können zwischen Engländern und Normannen, weil sie sie beide kennen. Männer, denen ich trauen kann, und ich habe eine eigentümliche Neigung, Euch zu trauen, Cædmon, hatte sie immer schon. Gerade eben habt Ihr wiederum bestätigt, daß ich mich nicht in Euch täusche. Was sagt Ihr?«
Cædmon sagte erst einmal gar nichts. Er hatte den Verdacht, daß er im Begriff war, in eine Falle zu tappen, aus der er sich vielleicht nie wieder würde befreien können. »Ich … ich muß darüber nachdenken, Monseigneur. Ich glaube, es ist eine schwerwiegende Entscheidung, vor die Ihr mich stellt.«
»Das ist es sicher. Also denkt. Laßt mich England erst einmal erobern. Wenn das bewerkstelligt ist, werde ich Eure Antwort erfragen.«
Cædmon verneigte sich wortlos.
Als er auf den Korridor hinaustrat, fing der junge Richard ihn ab. »Cædmon! Ich bin ja so froh, daß du wieder da bist.«
»Ja, ich auch, Richard.«
»Komm mit. Meine Mutter wünscht dich zu sehen.«
Gott, was wollen sie auf einmal alle von mir, dachte er ungläubig.
Herzogin Matilda verbrachte den Vormittag in Gesellschaft ihrer jüngeren Kinder: Richard, Rufus und einer Schar Töchter, von denen Cædmon nur die zwölfjährige Agatha erkannte. Die anderen, Adeliza, Cecile und Adela waren noch so klein und er sah sie so selten, daß er nie sicher sein konnte, welche welche war. Es waren hübsche, lebhafte Kinder. Die meisten hatten die dunklen Haare und Augen ihres Vaters geerbt, nur Rufus und eines der kleinen Mädchen hatten die goldblonden Locken und hellblauen Augen ihrer flämischen Mutter.
Cædmon verneigte sich wiederum ehrerbietig, und wiederum sah er sich verstohlen um. Es war ein ebenso kostbar eingerichtetes Gemach wie Williams, doch lagen hier überall Holzspielzeuge im Stroh am Boden verstreut. Eine von Matildas Hofdamen – leider nicht Aliesa – brachte mit zweien der kleinen Mädchen eine Stoffpuppe zu Bett, und auf einer gepolsterten Bank unter dem Fenster entdeckte Cædmon zu seiner Verwunderung Wulfnoth, der die Beine übereinandergeschlagen hatte und auf das friedvolle Bild hinabblickte.
»Ihr wolltet mich sprechen, Madame?«
Matilda nickte lächelnd und reichte ihre jüngste Tochter, die sie auf dem Schoß gehalten hatte, an die Amme, die in respektvollem Abstand von Mutter und Tochter gewartet hatte, eine frische Windel kampfbereit in der Hand.
Dann wandte die Herzogin sich wieder an Cædmon. »Ich bin überzeugt, Eure Unterredung mit dem Herzog verlief einvernehmlich?« Und was mag diese Frage zu bedeuten haben, überlegte Cædmon unbehaglich.
»Ähm …, ich bin nicht ganz sicher, Madame. Wenn Ihr meint, ob ich seinen Brief übersetzt habe, ohne zu versuchen, ihn zu betrügen, dann ja, wenn Ihr meint, ob ich auf sein Ansinnen eingegangen bin, dann nein. Es ist eine schwierige Entscheidung für mich, und ich habe mir Bedenkzeit ausgebeten. Da ich hier mit meinem Kopf auf den Schultern vor Euch stehe, denke ich, man kann sagen, die Unterredung verlief alles in allem einvernehmlich.«
Matilda biß sich auf die Unterlippe, um ein Lächeln zu unterdrücken. »Beinah ein kleines Wunder, bedenkt man, daß Eure Zunge ebenso scharf ist wie die seine.«
Cædmon rieb sich verlegen das Kinn an der Schulter und antwortete nicht.
Matilda nickte ihm zu; sie hatte eine bemerkenswert huldvolle Art zu nicken, die Cædmon schon oft aus der Ferne bewundert hatte. »Ich will Euch nicht unnötig von Eurem Unterricht fernhalten. Mir war nur daran gelegen, Euch wissen zu lassen, wie froh meine Söhne und ich sind, daß der Zorn des Herzogs nicht länger zwei unschuldige Männer trifft.«
Cædmon fiel ein, was William über seine einflußreichen, weisen Ratgeber gesagt hatte, und ihm ging ein Licht auf. »Ihr habt für uns gesprochen, Madame? Wie großmütig von Euch.«
Sie hob kurz die schmalen Schultern. »Es war nur recht. Und ich bin sicher, es wird sich für uns alle noch von Vorteil erweisen.« Sie hob lächelnd die Hand, um ihn zu entlassen.
Wulfnoth schloß sich ihm an, und gemeinsam stiegen sie die Treppe hinunter.
»Was hatte das zu bedeuten?« fragte Cædmon verständnislos. »Was wollte sie von mir?«
»Sie wollte vor allem einen Blick auf dich werfen. Sie wünscht, daß du in Zukunft mehr Zeit mit Richard und Rufus verbringst. Sollte der Herzog in England tatsächlich erfolgreich sein, will sie, daß du ihre beiden jüngeren Söhne unsere Sprache lehrst. Du solltest ihm Glück wünschen, weißt du. Es würde bedeuten, daß du Jehan de Bellême entkommst.« Cædmon schnitt eine Grimasse. »Was für ein Dilemma … Und was wollte sie von dir?«
»Oh, nichts weiter. Hören, was ich von dir denke. Sie schickt gelegentlich nach mir, weißt du. Schließlich ist sie so etwas wie meine Nichte.« »Wie bitte?«
Wulfnoth zuckte mit den Schultern. »Ihre junge Tante Judith, die Halbschwester ihres Vaters, ist die Frau des fürchterlichsten all meiner Brüder, Tostig, neuerdings nicht mehr Earl of Northumbria, wie man hört.«
Cædmon schüttelte verwirrt den Kopf. »Was redest du da?«
»Meine Schwägerin ist ihre Tante. Also ist Matilda meine angeheiratete Nichte. Was ist daran so schwer zu verstehen?«
Cædmon schwieg betroffen. Er vergaß einfach immer wieder, aus welch mächtigem Adelsgeschlecht Wulfnoth stammte, welch ein Leben, wieviel Macht ihm von Geburt her eigentlich zugestanden hätten.
»Und sie schickt nach dir, um mit dir zu plaudern, ja?«
»So ist es. Ein hohes Privileg, das ich wirklich zu schätzen weiß. Sie ist eine der wunderbarsten Frauen, die ich kenne. Und du kannst getrost davon ausgehen, daß wir ihr unser Leben verdanken.«
»Ist ihr Einfluß auf William so groß?«
Wulfnoth nickte. »Er vergöttert sie und hört auf sie, ja.«
»Erstaunlich«, murmelte Cædmon. »So ein zierliches Persönchen. Und noch so jung.«
»Ja, sie ist noch keine dreißig, muß ungefähr vierzehn gewesen sein, als Robert zur Welt kam. Sieben Kinder bisher, eins gesünder als das andere, und man sieht ihr kein einziges davon an.«
»Das ist wahr. Herzog William ist ein glücklicher Mann.« Wulfnoth verzog ironisch den Mund. »Er hat hart genug gekämpft, um seine Matilda zu erringen. Sie haben gegen das ausdrückliche Verbot des Papstes geheiratet, weißt du.«
»Ist das wahr? Warum hat er die Heirat verboten?«
»Angeblich, weil William und Matilda zu nah miteinander verwandt waren. In Wirklichkeit, weil dem Papst eine Verbindung zwischen Flandern und der Normandie politisch nicht zusagte. Jedenfalls heirateten sie einfach, warteten, bis der Papst starb, holten sich die Erlaubnis von seinem Nachfolger und stifteten zur Buße jeder ein Kloster. Und damit war die Angelegenheit vergessen.«
Cædmon sann über diese ungewöhnliche Eheschließung nach und dachte, daß seine Hoffnung auf Aliesa de Ponthieu vielleicht gar nicht so vergeblich war, wenn auch Herzog William Matilda unter so widrigen Umständen und sogar gegen den Widerstand der Kirche geheiratet hatte. Immer vorausgesetzt, daß Aliesa ihn überhaupt wollte.
Jehan de Bellême begrüßte Cædmon mit einem zufriedenen Grinsen. »Du hast die weihnachtliche Faulenzerei vier Wochen länger als jeder andere genossen, wie?« knurrte er.
Cædmon nickte. »Ich hab gedacht, ich bin im Paradies.«
»Das kann ich mir vorstellen. Vermutlich bist du wieder so schlaff und kraftlos wie am Tag deiner Ankunft hier.«
»Mindestens.«
Ohne jede Vorwarnung trat Jehan ihm die Beine weg, und Cædmon ging zu Boden. »Nicht in diesem Ton, Söhnchen. Du kannst gleich unten bleiben. Zeig mir ein paar Liegestütze …«
Cædmon hätte nicht gedacht, daß er einmal so weit kommen würde, einen Tag in Jehans Klauen einen schönen Tag zu nennen, aber er kam nicht umhin. Er fühlte verharschten Schnee und den steinhart gefrorenen Boden unter seinen Händen, die wunderbare, sanfte Februarsonne auf Nacken und Rücken, während er sich ein ums andere Mal in die Höhe stemmte, zwanzigmal, dreißigmal, ohne auch nur kurzatmig zu werden, bis Jehan griesgrämig befahl, er solle endlich mit dem Unfug aufhören. Cædmon blieb einen Moment mit dem Gesicht im Schnee liegen, drehte sich dann auf den Rücken und blinzelte lächelnd in den blaßblauen Himmel.
Jehan sah auf ihn hinab. »Öffnet einem die Augen für die Schönheit der Welt, was?«
Cædmon setzte sich abrupt auf und bemühte sich um eine ausdruckslose Miene. Er wußte, Jehan war vor beinah zwanzig Jahren bei der Schlacht von Val-ès-Dunes Williams Feinden in die Hände gefallen, die ihn über ein Jahr lang gefangengehalten hatten. Nicht in einem Verlies, sondern in der Oubliette – dem Ort des Vergessens –, einem modrigen, feuchten Loch unter den Verliesen. Cædmon war überzeugt, kein anderer Mann hätte das überlebt, aber er verspürte nicht die geringste Neigung, Gefangenenanekdoten mit Jehan de Bellême auszutauschen. Vielmehr wünschte er leidenschaftlich, Jehan wäre in der Oubliette verreckt.
Der alte Veteran grinste wissend und machte eine auffordernde Geste. »Jeder holt sich ein Pferd. Und wer als letzter zurückkommt, wird heute abend fasten …«
Cædmon brauchte nicht zu befürchten, daß er hungrig zu Bett gehen müsse. Er war schon lange nicht mehr der letzte gewesen. Er gehörte jetzt mit Etienne fitz Osbern und Lucien de Ponthieu zu den Älteren; Roland Baynard, Roger und Philip waren im vergangenen Sommer auf die Güter ihrer Familien zurückgekehrt, jüngere Söhne aus den normannischen Adelsgeschlechtern waren nachgerückt, und auch Robert, der älteste Sohn des Herzogs, nahm seit einigen Monaten an Jehans Unterricht teil. Die herzögliche Würde bewahrte Robert nicht vor Schikane und Schlägen, im Gegenteil, Cædmon kam mehr und mehr zu dem Schluß, daß der bedauernswerte Junge seine Nachfolge als Jehans bevorzugtes Opfer angetreten hatte. Und als Jehan den Sohn des Herzogs endlich da hatte, wo er ihn wollte, Robert blutend und heulend vor ihm im Sand lag, beugte er seinen kugelrunden Glatzkopf über ihn und raunte heiser: »Denkst du, ich tue das aus Freude, Robert? Glaubst du wie all die anderen Schwachköpfe hier, es bereitet mir ein besonderes Vergnügen, ungestraft junge Burschen zu quälen, die ausnahmslos von höherer Geburt sind als ich selbst?«
Robert richtete sich auf, fuhr sich mit dem Unterarm über die blutende Nase und nickte. »Ja. Das glaube ich.«
Jehan grinste zufrieden. »Nun, du hast zweifellos recht«, sagte er leise. »Aber es gibt noch einen zweiten Grund, weißt du.« Er stemmte die Hände in die Seiten und brüllte: »Herrgott, nimm dich zusammen, Robert fitz William, wir ziehen in den Krieg! Das gilt für jeden von euch Jammerlappen. Ihr meint, ich bin die Hölle, ja? Nun, ich schwöre euch, ihr alle werdet euch nach mir zurücksehnen! Und wenn ihr auch nur einen Funken Hoffnung haben wollt zu überleben, dann werdet endlich wach und gebraucht eure Köpfe und hört auf das, was ich euch beizubringen versuche!«
Im März wurde mit dem Bau der Flotte begonnen, und nach allem, was man hörte, ging es gut voran. Jeder von Williams Vasallen war verpflichtet, je nach Größe seiner Ländereien eine bestimmte Anzahl von Schiffen zur Verfügung zu stellen. Es wurde ein hartes Frühjahr für die normannische Landbevölkerung, die Leute mußten nicht nur wie üblich ihre Felder und die ihrer Gutsherren bestellen, sondern zusätzlich Unmengen von Holz schlagen und zu den Sammelstellen schaffen. Dort übernahmen dann Schiffsbauer die Arbeit. Auch nahe Rouen gab es einen Bauplatz, und an windstillen Tagen konnte man das Singen der Hämmer selbst oben auf der Burg hören, oft bis tief in die Nacht.
Am Sonntag nach Ostern stahl Cædmon sich nach dem Abendessen in den Hof hinaus und schlich in Matildas kleinen Garten hinter der Kapelle. Er liebte diesen Ort. Still und friedvoll war es hier; das junge, frühlingsgrüne Gras duftete betörend, und kleine, gelbe Büschel von Narzissen blühten darin. Er warf sich auf den Boden, ließ die Halme sein Gesicht kitzeln, streckte die Arme über dem Kopf aus und sog alles gierig in sich auf.
Dann hörte er ihr helles Lachen: »Aber Cædmon, was tut Ihr denn da?«
Das war der zweite Grund, warum er hierherkam. Es bestand immer die Chance, sie zu treffen. In zwei Jahren war es erst viermal geschehen, doch jedesmal hatte er es vorher genau gewußt.
Er drehte sich auf den Rücken und sah zu ihr auf. Im dämmrigen Zwielicht schimmerten ihre schwarzen Haare wie ein stiller, nächtlicher See.
»Vermutlich das gleiche wie Ihr, Aliesa. Ich komme an den Ort, der mir hier der liebste ist, um ein paar belanglose Gedanken zu denken.« Er besann sich mit einiger Verspätung der Gebote der Höflichkeit, kam auf die Füße und verneigte sich.
Sie senkte kurz den Kopf, um den schon makellosen Rock ihres moosgrünen Kleides zu glätten. Jedenfalls wirkte es moosgrün im schwindenden Licht. Cædmon war sicher, daß er es noch nie an ihr gesehen hatte. Ihre langen, dichten Wimpern bildeten zwei perfekte Halbmonde, ihr schneeweißer Schwanenhals schien ein schwaches Leuchten auszustrahlen, und er sah ihren Puls darin pochen. Gott, wie rettungslos ich ihr verfallen bin, dachte er ohne alle Bestürzung. Er hatte sich längst an das Gefühl gewöhnt.
»Darf ich mich zu Euch setzen?« erkundigte sie sich.
Er schüttelte den Kopf. »Lieber nicht. Der Rasen ist feucht. Ich hatte irgendwie vergessen, daß wir erst April haben.«
An einer niedrigen Hecke aus Spalierobst stand eine Bank. Er nahm ihre Hand und führte sie dorthin. »Bitte.«
Sie entzog sich eilig seinem Griff. »Wenn uns jemand sieht …«
»Das sagt Ihr jedesmal.«
Sie nickte. »Ich weiß. Einfallslos. Warum kommt Ihr wirklich hierher, Cædmon?«
Er verschränkte die Arme und legte den Kopf in den Nacken. Die ersten Sterne flimmerten am Himmel. »Um Euch zu sehen, Aliesa«, gestand er offen.
Sie lachte. »Sehr charmant.«
Er sah sie wieder an. »Heute vor zwei Jahren bin ich von zu Hause aufgebrochen. Habe meine Eltern, meine Brüder und meine Schwester zum letztenmal gesehen. Ich komme her, um mich zu fragen, wie es ihnen allen gehen mag. Das kann ich nur, wenn ich allein bin. Und man ist auf dieser Burg nie irgendwo allein, nur hier.«
Sie erhob sich. »Dann werde ich gehen und Euch zufriedenlassen.« Er nahm wieder ihre Hand. »Nein. Bitte nicht.«
Dieses Mal zog sie ihre Hand nicht gleich weg. Cædmon befühlte sie verstohlen. Glatt und kühl und zerbrechlich, genau, wie er sie in Erinnerung hatte. Er führte sie an die Lippen. Er konnte einfach nicht anders.
Aliesa schrie entsetzt auf.
Cædmon ließ sie los, als habe er sich plötzlich verbrannt. »Verzeiht mir …«
»Seht doch, Cædmon!« fiel sie ihm ins Wort. »O mein Gott, was ist das?« Ihr ausgestreckter Arm wies auf einen Punkt über seiner linken Schulter.
Cædmon wirbelte herum. Dann riß er ebenso entsetzt die Augen auf wie sie. »Heiliger Edmund, steh uns bei …«
Aliesa drängte sich instinktiv an ihn, und Cædmon legte die Arme um sie und vergaß den unheimlichen Schicksalsboten am Firmament. Er sperrte ihn einfach aus, schloß die Augen und fuhr mit den Lippen über ihren Scheitel. »Hab keine Angst«, murmelte er. »Keine Angst.«
»Aber was ist das nur?«
Unwillig schlug er die Augen wieder auf und sah zum Himmel. Ein neuer Stern war plötzlich dort erschienen, stand hoch im Südwesten und ließ alle anderen Himmelslichter vor seiner strahlenden Helligkeit verblassen, selbst den Abendstern. Er zog einen eigentümlichen, milchigen Lichtstreif hinter sich her wie die fliegende Mähne eines galoppierenden Pferdes.
»Wie der Stern von Bethlehem«, murmelte Cædmon.
Aliesa hob die Hand und bekreuzigte sich, rückte aber nicht von ihm ab. »Cædmon … im Kloster sagten sie, vor hundert Jahren hätten die Menschen geglaubt, wenn eintausend Jahre nach Christi Geburt vergangen seien, käme das Ende der Welt. Als es ausblieb, versicherten die Gelehrten, dann müsse es eben ein Jahrtausend nach seinem Tod am Kreuz kommen, aber kommen werde es bestimmt, so stehe es in der Offenbarung. Glaubt Ihr … sie haben sich verrechnet?«
Er spürte eine Gänsehaut auf Armen und Beinen. Es war ein grauenvoller Gedanke. Aber er konnte nicht ernsthaft daran glauben. Er erlag der Versuchung und legte die Linke in ihren Nacken, berührte mit den Lippen ihre Wange. »Bestimmt nicht, Aliesa. Es ist ein himmlisches Zeichen, ganz gewiß. Aber nicht das Ende der Welt. Das Ende der Welt kann nicht an einem so lächerlich belanglosen Sonntag wie heute kommen. Die Erde müßte beben, der Himmel sich verdunkeln, all diese Dinge. Das Schlimmste, was heute geschehen ist, war der Aprilschauer nach der Messe.«
Sie lachte atemlos, hob den Kopf und sah wieder hinauf. »Dann denkt Ihr, es ist eine himmlische Warnung gegen Williams unseligen Krieg?« »Ja, das würde ich wirklich furchtbar gerne denken. Aber was ist, wenn dieser langhaarige Stern auch in England zu sehen ist? Ich meine, den großen Wagen und den Mond sehen wir dort schließlich auch. Also was, wenn er in England auch erscheint? Ein himmlisches Zeichen gegen Harold Godwinsons unrechtmäßige Thronbesteigung? Oder will Gott den Engländern das eine sagen, den Normannen das andere?« Er hob kurz die Schultern. »Ich weiß es nicht.«
»Es macht mir angst«, gestand sie leise.
»Mir auch.«
»Werdet Ihr mit Herzog William in den Krieg ziehen, Cædmon?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich werde mit ihm nach England gehen, wenn er sich entschließen sollte, mich mitzunehmen. Aber ich werde keine Waffen für ihn führen. Ich liefe Gefahr, einen meiner Brüder in der Schlacht zu erschlagen. Oder von einem von ihnen erschlagen zu werden. Und ich möchte weder Kain noch Abel sein. – Und was werdet Ihr tun, wenn die Flotte lossegelt und alle normannischen Ritter in den Krieg ziehen, den Ihr, wie ich mich entsinne, prinzipiell verurteilt?« »Das habt Ihr Euch gemerkt?« fragte sie verblüfft. »Wie eigenartig.« »Wieso? Es war ein bemerkenswerter Gedanke.«
»Die wenigsten Männer merken sich, was eine Frau zu ihnen sagt, wußtet Ihr das nicht? Was soll ich schon tun? Ich werde hierbleiben und kein Auge zutun, bis ihr alle wohlbehalten wieder zu Hause seid, und vor meiner Zeit alt und gramgebeugt werden.«
Cædmon war selig, daß sie um seine Sicherheit besorgt war. Er lachte leise. »Vielleicht solltet Ihr das Herzog William sagen. Wenn er eine so fürchterliche Drohung hört, läßt er bestimmt von seinem Vorhaben ab.« Sie machte sich ungeduldig von ihm los. »Ach, Ihr macht Euch immer über alles lustig.«
Er legte leicht die Hände auf ihre Unterarme, damit sie keine allzu große Distanz zwischen sie bringen konnte. »Ihr irrt Euch. Mir graut vor diesem Krieg. Lieber würde ich den Rest meines Lebens hier im Exil verbringen, als unter diesen Umständen heimzukehren.«
Kaum hatte er es ausgesprochen, bereute er seine Offenheit schon. Würde sie ihn jetzt nicht für schwächlich und verzagt halten, für den selbstmitleidigen Jämmerling, der er gewesen war, als er hierher kam? Doch zu seiner Verwunderung rückte sie nicht peinlich berührt von ihm ab, sondern legte für einen winzigen Moment ihre kühle Hand auf seine Wange.
»Ja, ich kann mir vorstellen, wie bitter es für Euch sein muß.«
Als sie die Hand sinken ließ, nahm er sie in seine und legte sie an seine Brust. »Aliesa, Ihr …«
»Aliesa!« ertönte eine Stimme aus Richtung der Kapelle. »Aliesa, bist du hier?«
Cædmon erkannte die Stimme mühelos. Er ließ sie los und verschwand mit einem tollkühnen Hechtsprung hinter dem Spalierobst.
Lucien de Ponthieu kam hinter dem kleinen Gotteshaus hervor und stieß erleichtert die Luft aus, als er seine Zwillingsschwester entdeckte. »Gott sei Dank! Komm mit hinein. Hast du den Stern nicht gesehen? Gewiß ist es gefährlich, jetzt draußen zu sein.«
Aliesa hatte die Linke an die Wange gelegt und fragte sich, ob es wirklich stimmte, daß eben noch zwei warme Lippen darauf gelegen hatten. Sie antwortete nicht.
»Aliesa?« fragte ihr Bruder beunruhigt.
Sie warf einen kurzen, unsicheren Blick auf die Obsthecke. Dann nahm sie sich zusammen. »Ja. Ich komme, Lucien.«
Das seltsame Himmelszeichen hatte alle Leute erschreckt. Eine ganze Woche lang leuchtete es jede Nacht, und hier und da hörte man die Zweifler raunen, es sei eine göttliche Warnung gegen Herzog Williams ehrgeizigen Plan. Doch der Herzog selbst und seine engsten Ratgeber kamen bald zu dem Schluß, es müsse sich um ein Zeichen göttlichen Wohlwollens gehandelt haben, denn die Vorbereitungen des größten militärischen Wagnisses, von dem die Welt je gehört hatte, hätten kaum besser verlaufen können. Der Bau der Flotte ging zügig voran, und im Mai kehrte eine Gesandtschaft aus Rom zurück und brachte wunderbare Neuigkeiten. William hatte diese Abordnung hoher Adliger und kirchlicher Würdenträger zum Papst geschickt, um dort offiziell eine Beschwerde gegen Harold Godwinsons Eidbruch und seine widerrechtliche Thronbesteigung vorzubringen. Ohne jeden Vorbehalt hatte Papst Alexander sich dem Standpunkt der Normannen angeschlossen. Er war ohnehin verstimmt über den neuen König von England, der in Mißachtung päpstlicher Dekrete am exkommunizierten Erzbischof von Canterbury festhielt. Also stattete Alexander Williams Gesandtschaft mit offiziellen Dokumenten aus, die besagten, daß die englische Krone allein William von der Normandie zustehe und Harold Godwinson gegen die Gesetze der Welt und der Kirche verstoßen habe. Der Papst ging gar so weit, William zu bescheinigen, daß sein Feldzug gegen England ein heiliger Krieg sei, und gab den Gesandten kostbare Reliquien und ein päpstliches Banner mit auf den Heimweg. Nachdem diese eindeutige Parteinahme der obersten Gewissensinstanz der Christenheit bekannt geworden war, ergriffen auch der König von Frankreich und der junge deutsche König und designierte Kaiser für William Partei. So kam es, daß aus allen Teilen Frankreichs und gar aus Deutschland Soldaten in die Normandie strömten, um sich unter dem päpstlichen Banner zu versammeln, bis die normannischen Heerführer schließlich kaum noch wußten, wie sie die ganzen Freiwilligen unterbringen und ernähren sollten. Doch Herzog William verbot strikt jede Form von Plünderung, und die Landbevölkerung blieb unbehelligt von den vielen Soldaten.
Unterdessen wurden die Schiffe an der Mündung des Flusses Dives zusammengezogen, und Ende Juli brach das Heer endlich zur Küste auf, um den Kanal zu überqueren.
»Leb wohl, Wulfnoth.«
»Leb wohl, Cædmon. Und mach kein solches Gesicht. Es ist ja nicht deine Schuld.«
Natürlich hatte der Herzog wiederum verfügt, daß Wulfnoth in Rouen bleiben müsse, damit die Normannen, falls die Eroberung nicht so erfolgreich verlief wie erhofft, weiterhin ein Druckmittel gegen Harold Godwinson in der Hand hielten.
Cædmon nickte bedrückt. »Ich wünschte trotzdem, du kämest mit. Ich … fürchte mich so jämmerlich. Was für eine schreckliche Art, nach Hause zu kommen. In einer feindlichen Armee.«
»Aber du hast William doch gesagt, daß du keine Waffen für ihn führen wirst, oder?«
»Ja, sicher. Trotzdem.«
Wulfnoth legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. »Ich verstehe dich sehr gut. Wenn Männer ein Tauziehen veranstalten, zünden sie zwischen den beiden Lagern ein Feuer an. Wenn William und Harold ihr Tauziehen um England beginnen, wirst du genau in diesem Feuer stehen. Aber sei guten Mutes. Du hast Freunde auf beiden Seiten. Etienne und Roland und Philip gehen mit, nicht wahr?«
Cædmon nickte. »Natürlich. Lucien de Ponthieu auch. Kein Normanne will jetzt zu Hause bleiben, sogar fitz Osbern zieht dieses Mal mit in den Krieg.«
»Ja, das habe ich gehört. Herzogin Matilda und der junge Robert haben alle Vollmacht, in Abwesenheit des Herzogs und des Seneschalls das Herzogtum zu verwalten.«
Im Hof erscholl ein helles Horn.
Wulfnoth warf einen kurzen Blick aus dem Fenster. »Es wird Zeit. Aber warte noch einen Augenblick.«
Er trat an sein Bett, hockte sich hin und zog etwas darunter hervor, eine helle, neue Lederhülle, in der sich ein birnenförmiger Gegenstand mit langem Hals verbarg. Er streckte sie Cædmon entgegen. »Hier. Denk an mich, wenn du spielst.«
Cædmon riß die Augen auf und warf einen verwirrten Blick zum Tisch, wo Wulfnoths Laute an ihrem angestammten Platz lehnte. »Aber …« Wulfnoth lächelte. »Roger Guiscards Cousin hat sie aus Sizilien mitgebracht, als er über Weihnachten hier war. Ich habe sie ihm abgeschwatzt. Ich wollte sie dir schon eher geben, aber als abzusehen war, daß unsere Wege sich für eine Weile trennen, habe ich mir gedacht, ich schenke sie dir zum Abschied.«
»Oh, Wulfnoth …«
Zögernd und voller Ehrfurcht nahm Cædmon das Instrument entgegen, löste die Kordel und warf einen Blick in die Hülle. Behutsam fuhr er mit einem Finger über die Saiten, und sie seufzten leise. Er schluckte energisch und hob den Kopf. »Ich danke dir.«
Wulfnoth lächelte. »Jetzt beeil dich lieber. Sonst segeln sie ohne dich. Mögest du auf deinem Weg Freunde finden, die Führung der Engel und das Geleit der Heiligen.«
Cædmon umarmte ihn kurz. »Danke. Gott schütze dich, Wulfnoth.« Sein Freund schob ihn energisch zur Tür. »Ich denke, du hast seinen Schutz nötiger. Du und England und mein armer Bruder Harold.«