Dover, Mai 1076

Bischof Odo saß mit gerunzelter Stirn über ein Stück Pergament gebeugt, welches das päpstliche Siegel trug. Er sorgte sich um die zunehmende Spannung zwischen Gregor und dem jungen Heinrich; er fragte sich, welche Konsequenzen es wohl für England und die Normandie hätte, wenn der deutsche König in diesem Machtkampf obsiegte und den Papst absetzte. Andererseits stellte sich die Frage, ob ihnen wirklich damit gedient wäre, wenn Gregor den längeren Atem bewies und gestärkt daraus hervorging. Der Papst war schon jetzt selbstbewußt genug…

Odo sah zerstreut auf, als es an der Tür klopfte. »Was gibt es denn?« fragte er unwirsch.

Ein Wachsoldat trat ein und verneigte sich. »Eine Dame, die Euch zu sprechen wünscht, Monseigneur.«

Odos Gesicht hellte sich auf. Er wartete seit Wochen auf ein ermutigendes Signal einer gewissen jungen Dame. Es war vielleicht ein wenig forsch, daß sie gleich herkam, aber bitte, der König war außer Landes, also wen sollte es aufregen?

»Wer ist es denn?« fragte er der Ordnung halber.

»Hyld of Helmsby. Engländerin«, fügte der Soldat unnötigerweise hinzu und schniefte vielsagend.

Das war das letzte, womit der Bischof gerechnet hatte, aber er überwand seine Verblüffung schnell, und mühelos verdrängte er seine amourösen Wünsche und ordnete seine Gedanken.

»Sie ist die Schwester des Thane of Helmsby, also erweis ihr gefälligst Respekt«, fuhr er den Soldaten barsch an und fügte gemäßigter hinzu: »Führ sie herein.«

Er verspeiste eine frühe Erdbeere und rümpfte die Nase über ihre Säure, ehe er sich von dem brokatgepolsterten Sessel erhob und der Besucherin entgegentrat.

Der Wachsoldat öffnete die Tür, aber ehe er seine formelle Ankündigung loswerden konnte, fegte eine junge Frau an ihm vorbei in den geräumigen Saal, sah sich flüchtig um und fixierte Odo mit ihren tiefblauen Augen.

»Mylord Bischof?«

Er lächelte und untersagte sich, in diesen blauen Augen zu versinken, die Cædmons so verblüffend ähnlich waren. »Madame. Das ist eine … unerwartete Freude.«

Sie wedelte seine normannische Galanterie ungeduldig beiseite, wartete, bis sie mit dem Bruder des Königs allein war, und kam dann ohne Umschweife zur Sache. »Mein Bruder sagte mir, Ihr wollt ein endloses Monstrum von einem Teppich?«

Odo verbarg ein amüsiertes Grinsen. »Hat er es so gesagt? Nun, im Prinzip ist es richtig, ja.«

Hyld nickte, verschränkte die Arme und sah sich mit offenkundiger Mißbilligung in dem prunkvoll eingerichteten Gemach um. »Ihr Normannen lebt nicht schlecht auf unsere Kosten.«

Odo räusperte sich pikiert. »Nun, Madame, ich bin nicht sicher, worauf Ihr …«

Sie schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab, welche ihn auf geradezu unheimliche Weise an ihre Mutter erinnerte, die eine so zentrale Figur seiner frühen Kindheit gewesen war.

»Ich werde ganz offen zu Euch sein, Monseigneur.«

Er lehnte sich an seinen byzantinischen Tisch und verschränkte die Arme. »Ja, Madame, darauf wette ich.«

»Mein Bruder Cædmon ist Euer Gefangener.«

»So ist es.«

»Und er ist krank.«

»Ich fürchte, auch das ist wahr.«

»Schämt Ihr Euch nicht, ihn trotzdem in irgendeinem lichtlosen Loch vor sich hinsiechen zu lassen?«

Odo deutete ein Kopfschütteln an. »Nein. Mein Bruder, der König, hat vor seiner Abreise sehr klare Anweisungen geäußert. Und vermutlich wißt Ihr so gut wie jeder in England, daß man gut beraten ist, zu tun, was der König wünscht.«

»O ja. Ich kenne den König genau, glaubt mir.«

»Und ich sehe, Ihr hegt wenig Sympathie für ihn.« Odo füllte zwei Becher aus einem Zinnkrug auf dem Tisch und reichte ihr einen davon. Hyld trat zwei Schritte näher, nahm ihn zögernd und trank. Es war englisches Bier. Damit hatte sie nicht gerechnet.

Odo lachte leise. »Ihr mögt uns arrogant finden, und vermutlich habt Ihr recht, Hyld of Helmsby. Aber wir sind vor allem anpassungsfähig. Nur darum haben wir ein Reich erobern können, das – zugegebenermaßen mit ein paar Unterbrechungen – vom Südzipfel Siziliens bis zur schottischen Grenze reicht. Wenn wir ein Land erobern, betrachten wir, was wir vorfinden, und nehmen das an, was uns gut erscheint. Vor hundertfünfzig Jahren, als wir nach Frankreich kamen, war es der christliche Glaube. In England sind es der Wollhandel, das Recht, das Münzsystem und das Bier.«

Sie sah in seine lachenden, schwarzen Augen und war einen Moment von ihrem schnurgeraden Pfad abgelenkt. Sie hatte nicht damit gerechnet, daß er so sympathisch, vor allem so charmant sein könnte. Hastig trank sie einen tiefen Zug, um ihre Verwirrung zu verbergen, ehe sie sagte: »Ich bin gekommen, um Euch ein Geschäft vorzuschlagen.« »Ich bin gespannt.«

»Ihr wollt Euren Teppich. Ich will meinen Bruder. Ich gebe Euch, was Ihr wollt, Ihr gebt mir, was ich will.«

»Ich fürchte, das ist ausgeschlossen, Madame, so gern ich zustimmen würde. Aber der König würde mir den Kopf abreißen.«

Hyld verzog sarkastisch den Mund.

»Wollt Ihr Euch nicht setzen, Madame?«

»Ja«, stimmte sie zu ihrer eigenen Überraschung zu. »Vielen Dank.« Odo nahm in seinem Sessel am Kopfende des langen Tisches Platz, Hyld auf dem ersten Stuhl an der Längsseite. Sie verschränkte die Hände auf der blankpolierten Platte und sah ihn an. »Was genau hat der König angeordnet, was meinen Bruder betrifft?«

»Daß ich ihn sicher verwahre und auf keinen Fall entkommen lasse.« »Hm. Und was genau ist dieser Teppich, den Ihr wollt?«

»Die Geschichte der Eroberung. Von Harold Godwinsons Besuch in der Normandie bis zu Williams Krönung in Westminster.«

»Die wahre Geschichte?«

»Die wahre Geschichte, soweit sie meinem Bruder zur Ehre gereicht. Meine Kathedrale habe ich gebaut, um Gott zu preisen. Den Teppich will ich, um den König zu ehren. Er hat es verdient; er ist ein großer Mann.«

»Und Ihr liebt ihn sehr, ja?« fragte sie.

Odo hob überrascht den Kopf und dachte einen Moment nach. »Nun, das zu tun ist nicht leicht, Madame. Aber zumindest kann ich sagen, daß ich ihn sehr verehre. Und er wird so oft verfemt, nur aufgrund der Tatsache, daß seine Mutter nicht die Frau seines Vaters war. Das ist ein Makel, den Robert und ich nie zu tragen hatten. Und das will ich gutmachen.«

Hyld nickte langsam. »Na schön. Ihr liebt ihn also doch. Ich hingegen liebe ihn überhaupt nicht, Monseigneur. Er hat mich einen Sohn und auf die ein oder andere Weise alle meine Brüder gekostet, versteht ihr?« »Ja. Ich denke schon.«

»Trotzdem bin ich bereit, Eurem Wunsch zu entsprechen. Gebt mir zwanzig Stickerinnen, und ich werde Euch den Teppich entwerfen und sticken, den Ihr wollt. Ich verspreche Euch, er wird Euch nicht enttäuschen. Wer weiß, vielleicht wird er gar die Welt noch in Staunen versetzen, wenn Ihr und ich längst vergessen sind. Aber die Sache hat ihren Preis.«

Odo hatte die Ellbogen auf den Tisch aufgestützt und saß leicht vorgebeugt. Ohne sie aus den Augen zu lassen, schob er die vergoldete Schale in ihre Richtung. »Nehmt eine Erdbeere, Hyld.«

 

Seit über zwei Monaten befand Cædmon sich in Einzel- und Dunkelhaft, und seiner Ansicht nach hatte er inzwischen wohl für mehr Sünden gebüßt, als ein Mann in einem Leben begehen konnte. Wenn Jehan de Bellême das tatsächlich länger als ein Jahr überstanden hatte, dann war er kein Mensch, sondern ein Satan, wie Cædmon insgeheim immer vermutet hatte. Er wußte, in der Welt draußen mußte längst Frühling sein, aber hier unten war es immer noch so eisig kalt, daß sein Atem weiße Dampfwolken bildete. Die sah er allerdings nur, wenn gelegentlich ein Wachsoldat mit einer Fackel kam, um ihm ein paar Abfälle zu bringen. Er hatte keine Decke. Auch keinen Mantel. Er hatte nichts. Und weil er schon geschwächt und in tiefer Melancholie hierhergekommen war, hatte er Kälte, Dunkelheit und Hunger auch überhaupt nichts entgegenzusetzen. Kampflos ergab er sich dem Fieber. Es war ihm sogar willkommen, denn es entrückte ihn von diesem Ort der Finsternis in eine lichte, zunehmend grelle Welt der Phantasie.

Wenn er bei klarem Verstand war, versuchte er zu essen und seine gefühllosen Glieder zu bewegen, aber bald war er zu schwach, sich zu regen oder das steinharte Brot zu kauen, und er spürte auch keinen Hunger mehr. Also bekamen die Ratten alles, was die Wachen ihm brachten. Er wußte, daß er starb. Manchmal erfüllte der Gedanke ihn mit Entsetzen, manchmal weinte er vor Einsamkeit, vor Verzweiflung, weil er niemanden mehr hatte, der kommen und ihm helfen würde, bis das Fieber wieder anstieg und ihn einhüllte wie eine warme, tröstliche Decke.

Er schreckte zusammen, als der Riegel rasselte. Seit ein oder zwei Stunden war er wach, so wach wie seit Tagen nicht mehr, schien es ihm. Wie schon einige Male zuvor war das Fieber heftigem Schüttelfrost gewichen, und er lag zitternd, mit klappernden Zähnen wie ein Kind im Mutterleib zusammengerollt am Boden, als die Wache mit der Fackel in der Faust über die Schwelle trat.

Cædmon starrte stumm und blinzelnd zu dem vierschrötigen Mann in Helm und Kettenhemd auf, der einmal kurz seine Fackel über ihn schwenkte, kehrtmachte und wieder nach draußen trat.

»Da ist nichts mehr zu machen, Monseigneur«, hörte Cædmon ihn sagen. »Der ist hinüber.«

»Ist er tot?« Bischof Odos Stimme, erkannte Cædmon verblüfft. Er versuchte, sein Zähneklappern zu unterdrücken, damit er besser hören konnte, was draußen gesagt wurde.

»So gut wie«, antwortete der Soldat.

Wieder wurde es hell, als Odo selbst mit der erhobenen Fackel auf der Schwelle erschien. Unbewegt sah er auf Cædmon hinab. Weder Mitgefühl noch Ekel oder Genugtuung waren seinem Gesicht anzusehen, obwohl Cædmon einigermaßen sicher war, daß es diese drei Empfindungen waren, die der Bischof so sorgsam verbarg.

Ihre Blicke trafen sich einen Moment. Dann schloß Cædmon einfach die Augen und wandte den Kopf ab, um dem grellen Schein der Flamme zu entkommen. »Geht doch weg.«

Die Dunkelheit kehrte zurück, und er biß die klirrenden Zähne noch fester zusammen, um Odo nicht zurückzurufen, ihn nicht anzuflehen. Doch der vertraute, dumpfe Laut, mit dem die Tür sich schloß, blieb aus. Statt dessen kamen zwei Wachen herein und sahen einen Moment unentschlossen auf ihn hinab.

»Ich schätze, dieses Knochengerüst schaff ’ ich so gerade noch allein«, bemerkte der eine verächtlich.

Cædmon wich instinktiv zurück, als der Mann sich über ihn beugte, aber das half nichts. Der Soldat packte die Kette seiner Handfesseln, zerrte ihn daran roh in die Höhe, und als Cædmon in sich zusammensackte, packte er ihn und warf ihn sich über die Schulter. Jeder Blutstropfen, den er noch in sich hatte, schien Cædmon in den Kopf zu schießen, der so grauenhaft zu hämmern anfing, daß er den Mund öffnete, um zu protestieren. Aber ehe er einen Ton herausgebracht hatte, wurde er ohnmächtig.

 

Als Hyld ihren Bruder sah, war ihr erster Gedanke, diesen gottverdammten normannischen Bischof bis in den hintersten Winkel der Hölle zu verfluchen und das unheilige Abkommen aufzukündigen. Sie nahm Cædmons glühend heiße Hand und legte sie auf ihre Wange. Die Ketten klirrten.

»Kannst du mich hören?« fragte sie leise.

Cædmon zeigte keinerlei Reaktion. Fassungslos starrte sie in das ausgemergelte Gesicht. Der lange, zottelige Bart, der es zur Hälfte bedeckte, war verfilzt und fast völlig grau. Das erschütterte sie auf seltsame Weise mehr als alles andere.

Als sie leise Schritte hinter sich hörte, fuhr sie herum. »Ihr …«

Odo hob abwehrend die rechte Hand. »Ja, ich weiß. Es tut mir leid, Hyld. Ich hatte ehrlich keine Ahnung, daß er so krank ist.«

»Ihr hättet nur nachsehen müssen, um es festzustellen!«

»Aber ich wollte nichts davon wissen. Es fiel mir so schon schwer genug, angemessen zornig auf ihn zu sein. Ich habe ihn zu gern.«

Seine Offenheit entwaffnete sie einen Moment, doch dann versetzte sie eisig: »Diese befremdliche Anwandlung habt Ihr in bewunderswerter Weise niedergerungen, Monseigneur.«

»Ja«, gestand der Bischof kleinlaut. »Ich bin sicher, das gleiche würde mein Bruder auch sagen. Ihr dürft nicht vergessen, Hyld, daß Cædmon ein sehr schweres Verbrechen begangen hat.«

Sie sah unglücklich auf ihren todkranken Bruder hinab und tupfte ihm behutsam mit dem Ärmel über die feuchte Stirn. »Ich weiß nicht, was ich machen soll. Meine Mutter könnte ihm vielleicht helfen, aber sie wird nicht kommen.«

»Wirklich nicht?« fragte Odo überrascht.

Sie schüttelte den Kopf. »Sie hat mir gesagt, sie will ihn nicht wiedersehen, ehe seine Ehre wiederhergestellt ist. Und sie meint, was sie sagt.«

»Ja, ich weiß. Ich bin trotzdem verwundert. Sie wußte seit Jahren von Cædmon und Aliesa.«

Hyld hob langsam die Schultern. »Meine Mutter ist Normannin, Monseigneur.«

»Und das bedeutet?«

»Nicht das Vergehen selbst zählt in ihren Augen. Nur die öffentliche Schande.«

Odo verzog schmerzlich das Gesicht. »Ihr haltet uns also für ein Volk von Heuchlern?«

»Ja.«

»Das ist bedauerlich, Madame. Aber Etikette und Aufrichtigkeit schließen einander nicht aus«, sagte er leise. Er blickte einen Moment auf Cædmon hinab, ehe er fortfuhr: »Ich habe einen Boten nach Winchester geschickt. Morgen wird er mit einem Arzt zurückkommen, der vielleicht etwas für ihn tun kann.«

»Ihr meint den Juden? Aber er und seine Familie sind Etienne fitz Osbern ganz und gar ergeben. Sie werden keinen Finger für Cædmon rühren.« Odo schüttelte langsam den Kopf. »Sie machen Geschäfte mit fitz Osbern und schätzen ihn, aber sie sind ihm nicht ergeben. Sie sind klug genug, sich nur auf sich selbst zu verlassen. Und ich hoffe, das bedeutet, daß sie in einer Fehde zwischen einem normannischen und einem englischen Edelmann Neutralität wahren.«

Cædmon hatte begonnen, keuchend und stoßweise zu atmen. Er warf sich auf die Seite, sein Körper krampfte sich zusammen, und mit erstaunlicher Kraft und unter leisem Klirren traten seine Füße die leichte Decke weg. »Richard«, jammerte er erstickt. »Hüte dich vor dem verfluchten Wald, Richard …«

Odo wandte sich abrupt ab, entdeckte den Wachsoldaten, der unentschlossen nahe der Tür wartete, und herrschte ihn an: »Nehmt ihm endlich die verdammten Ketten ab!«

»Ja, Monseigneur.«

Mit langen Schritten stürmte der Bischof hinaus.

Hyld war ratlos. Sie wußte überhaupt nicht, was ihrem Bruder fehlte. Es war kein Lungenfieber, wie sie ursprünglich angenommen hatte, denn er hustete nicht und warf kein Blut aus. Sie tat, was sie auch mit ihren beiden Söhnen machte, wenn diese hohes Fieber hatten: Sie ordnete an, ein kühles Bad zu bereiten. Als es angerichtet war, hieß sie die Wachen, Cædmon in den hölzernen Zuber zu legen, und scheuchte sie dann hinaus. Sobald sie mit ihrem Bruder allein war, schnitt sie die Lumpen von seinem mageren, geschundenen Körper, hielt seine Brust mit einem Arm umklammert, damit er nicht unterging, schöpfte kaltes Wasser und ließ es ihm über den Kopf fließen.

Das verfehlte seine Wirkung nicht. Cædmons Atmung wurde ruhiger, und schließlich schlug er die Augen auf. Sie waren fiebrig, die Pupillen unnatürlich geweitet, aber klar.

»Hyld?«

»Ja, Bruder.«

»Was … was tust du hier?«

»Ich rasiere dich.« Wie zum Beweis hielt sie die scharfe Klinge hoch. »Warum weinst du?«

»Sieh dich doch mal an.«

»Nein … nein, lieber nicht.«

Er ließ den Kopf zurücksinken und fand ein himmlisch weiches Kissen. Ein Teil seines Verstandes wußte, daß es die Brust seiner Schwester war, aber er war zu krank und verwirrt, um sich zu genieren. Sein Kopf war bleischwer, ihm war schwindelig, und ständig wurde ihm schwarz vor Augen. Aber er war in einem Raum voller Sonnenlicht, lag in den Armen seiner Schwester statt in seinem eigenen Dreck in einem lichtlosen, eisigen Verlies. Er fühlte sich sauber und getröstet, als er wieder einschlief.

 

Nach und nach nahm die Welt Formen an, und er stellte fest, daß sein ganzes Blickfeld von einem bärtigen Gesicht mit langen Schläfenlocken ausgefüllt war. Dunkle Augen betrachteten ihn ernst und aufmerksam.

»Hat Euch irgend etwas gebissen, Thane? Eine Ratte vielleicht?«

Das ist wieder einer von diesen blöden Träumen, erkannte Cædmon, schloß die Augen und wollte sich davontreiben lassen.

Aber eine Hand rüttelte unbarmherzig an seiner Schulter. »Antworte, Cædmon, bitte«, flehte Hyld.

Er zwang die Augen wieder auf und ließ sie zwischen den beiden ungleichen Gesichtern hin und her wandern, die sich über ihn beugten. »Hyld.«

»Ja.«

»Malachias … ben Levi.«

»So ist es, Thane. Hat Euch eine Ratte gebissen?«

Ein irres Lachen zitterte in seinen Bauchmuskeln, aber er war zu schwach, um es herauszulassen. »Ihr solltet nicht hier sein. Etienne fitz Osbern ist …«

»Ich weiß, ich weiß.« Malachias hob abwehrend die Hand. »Macht Euch darüber keine Sorgen. Bekomme ich jetzt eine Antwort?«

»Ja. Ein paarmal. Wenn man … sich nicht mehr rührt, dann kommen sie und kosten …«

»Wann?«

»Ich weiß nicht mehr … Mir ist so kalt.«

»So geht es immerzu«, sagte Hyld leise. »Von einem Augenblick zum nächsten vergeht das Fieber, und er bekommt Schüttelfrost.«

Malachias sah sich suchend um, fand eine zusammengefaltete Decke und breitete sie über den Kranken. »Schickt nach mehr Decken. Wir müssen ihn warm halten, wenn der Schüttelfrost kommt, und kühlen, wenn das Fieber steigt, wie Ihr es schon getan habt.«

»Wißt Ihr, was ihm fehlt?«

»Ich denke schon.« Er tastete Cædmons Hals, Achselhöhlen und Leistengegend ab und nickte, als habe ein Verdacht sich bestätigt. Dann suchte er systematisch den ganzen Körper des Kranken ab, bis er über dem linken Ellbogen eine geschwollene Verhärtung fand, wo die Haut rötlich verfärbt war. Als er behutsam darauf drückte, zuckte Cædmon zusammen und versuchte, seinen Arm loszureißen, aber Malachias gab ihn nicht her, sondern hielt ihn Hyld zur Begutachtung hin. »Da. Hier hat die infizierte Ratte ihn gebissen.«

»Ich verstehe nicht. Was bedeutet infiziert?«

»Daß sie die Krankheit in sich hatte und an ihn übertragen hat. Im Osten nennt man das Leiden daher Rattenfieber.«

»Müßt Ihr den Arm aufschneiden?« fragte sie angstvoll.

Malachias zog sarkastisch die buschigen Brauen in die Höhe. »Ich sehe, mein zweifelhafter Ruf ist mir vorausgeeilt …«

»Verzeiht mir, ich wollte nicht …«

»Ich weiß. Nein, das hätte höchstens ein, zwei Stunden nach dem Biß etwas genützt. Jetzt ist es dafür zu spät. Ich gebe Euch ein Pulver, das Ihr in Wasser auflösen und ihm einflößen müßt, es senkt das Fieber. Viel mehr können wir nicht tun. Er muß viel trinken. Die Krankheit ist langwierig, aber bei entsprechender Behandlung in der Regel nicht tödlich. Es sei denn, der Betroffene ist schon vorher geschwächt oder hat nur einen schwachen Lebenswillen.« Er sah Hyld in die Augen.

Sie schluckte. »Ich schätze, beides trifft zu.«

Der junge jüdische Arzt nickte ernst. »Ich werde ein oder zwei Tage bleiben und sehen, was ich tun kann. Geht nur, der Bischof wartet schon ungeduldig auf Euch.«

Sie warf einen unsicheren Blick auf Cædmon, der jetzt ruhiger zu schlafen schien. »Also gut. Ich lasse Euch etwas zu essen bringen.«

Malachias hob abwehrend die Hände, beinah ein bißchen entsetzt, so schien es. »Nein, vielen Dank. Ich habe Brot mitgebracht, das muß für den Augenblick genügen.«

Sie starrte ihn entgeistert an. »Fürchtet Ihr, irgendwer hier wolle Euch vergiften?«

Er verbiß sich ein Lächeln. »Na ja, wie man’s nimmt … Nein, nein. Aber ich kann nicht essen, was Ihr hier eßt, Madame. Kein Schweine- oder Pferdefleisch, keine Muscheln oder Austern, auf die Engländer und Normannen gleichermaßen versessen sind, und vor allem nichts, das Milch und Fleisch enthält. Meine Religion verbietet es.«

»Warum?«

»Weil der Gott Abrahams es so befohlen hat.«

»Oh. Und warum hat er das wohl getan?«

Dieses Mal lachte er und breitete kopfschüttelnd die Arme aus. »Es gibt viele Gründe. Praktische und religiöse, einfache und komplizierte, vielleicht sogar gute und schlechte. Aber es würde wenigstens zehn Jahre dauern, sie alle aufzuzählen und zu erklären.«

Sie war fasziniert von der Fremdartigkeit dieser Gebote, doch dann kam ihr ein Gedanke. »Nun, wir dürfen freitags kein Fleisch essen – außer Bernikelgans – und keinen Met trinken, und in der Fastenzeit und im Advent dürfen wir praktisch gar nichts essen.«

»Wieso Bernikelgans?« fragte er verblüfft.

Hyld dachte bei sich, daß er für einen Heiler wenig von der Welt kannte, und erklärte, was in England jedes Kind wußte: »Die Bernikelgans schlüpft im Meer. Aus der Entenmuschel, die ja daher ihren Namen hat. Darum ist die Bernikelgans ein Fisch, auch wenn sie wie ein Vogel aussieht, und Fisch dürfen wir freitags essen.«

Malachias dachte bei sich, daß, was einen Schnabel und Flügel hatte, ganz gewiß ein Vogel war. Vermutlich hatte man die Eier dieser Gans nur deshalb in England noch nie gesehen, weil sie sie in fernen Ländern legte und ausbrütete, ehe sie hierherzog, denn Gänse waren Wanderer, genau wie Juden. Dieses Volk hier war so unglaublich ungebildet, daß es ihn manchmal erschütterte, und die Normannen waren nur wenig besser. Aber er ließ sich seine Skepsis nicht anmerken, sondern sagte: »Nun, mir scheint, Eure Speisegesetze sind noch seltsamer und komplizierter als unsere, Madame.«

Sie erkannte am verräterischen Blitzen seiner schwarzen Augen, daß er sie auf den Arm nahm, und lächelte. »Wie wäre es mit ein bißchen Obst?«

Er deutete eine kleine Verbeugung an. »Sehr gern.«

Das zweite Königreich
00000000000_cover.html
b978-3-8387-0949-9_000017.xhtml
b978-3-8387-0949-9_000029.xhtml
b978-3-8387-0949-9_000110.xhtml
b978-3-8387-0949-9_000134.xhtml
b978-3-8387-0949-9_000145.xhtml
b978-3-8387-0949-9_001256.xhtml
b978-3-8387-0949-9_001819.xhtml
b978-3-8387-0949-9_003772.xhtml
b978-3-8387-0949-9_004448.xhtml
b978-3-8387-0949-9_004885.xhtml
b978-3-8387-0949-9_005664.xhtml
b978-3-8387-0949-9_005927.xhtml
b978-3-8387-0949-9_006813.xhtml
b978-3-8387-0949-9_007698.xhtml
b978-3-8387-0949-9_007913.xhtml
b978-3-8387-0949-9_008278.xhtml
b978-3-8387-0949-9_008666.xhtml
b978-3-8387-0949-9_009483.xhtml
b978-3-8387-0949-9_010055.xhtml
b978-3-8387-0949-9_010682.xhtml
b978-3-8387-0949-9_011173.xhtml
b978-3-8387-0949-9_011400.xhtml
b978-3-8387-0949-9_011949.xhtml
b978-3-8387-0949-9_012176.xhtml
b978-3-8387-0949-9_012333.xhtml
b978-3-8387-0949-9_012543.xhtml
b978-3-8387-0949-9_012640.xhtml
b978-3-8387-0949-9_013031.xhtml
b978-3-8387-0949-9_013722.xhtml
b978-3-8387-0949-9_014105.xhtml
b978-3-8387-0949-9_015254.xhtml
b978-3-8387-0949-9_015630.xhtml
b978-3-8387-0949-9_016272.xhtml
b978-3-8387-0949-9_016706.xhtml
b978-3-8387-0949-9_017090.xhtml
b978-3-8387-0949-9_017892.xhtml
b978-3-8387-0949-9_018177.xhtml
b978-3-8387-0949-9_019024.xhtml
b978-3-8387-0949-9_019911.xhtml
b978-3-8387-0949-9_020137.xhtml
b978-3-8387-0949-9_020969.xhtml
b978-3-8387-0949-9_021403.xhtml
b978-3-8387-0949-9_021714.xhtml
b978-3-8387-0949-9_022214.xhtml
b978-3-8387-0949-9_022924.xhtml
b978-3-8387-0949-9_023360.xhtml
b978-3-8387-0949-9_023874.xhtml
b978-3-8387-0949-9_024284.xhtml
b978-3-8387-0949-9_024713.xhtml
b978-3-8387-0949-9_025229.xhtml
b978-3-8387-0949-9_027194.xhtml
b978-3-8387-0949-9_027411.xhtml
b978-3-8387-0949-9_027765.xhtml
b978-3-8387-0949-9_027985.xhtml
b978-3-8387-0949-9_028369.xhtml
b978-3-8387-0949-9_028455.xhtml
b978-3-8387-0949-9_028701.xhtml
b978-3-8387-0949-9_029019.xhtml
b978-3-8387-0949-9_029141.xhtml
b978-3-8387-0949-9_031528.xhtml
b978-3-8387-0949-9_031570.xhtml
b978-3-8387-0949-9_031732.xhtml