Winchester, Juli 1070
Die wenigen Adligen und Ritter, die derzeit in Winchester weilten, waren in den Hof hinausgeeilt, um den König zu begrüßen. Etienne wechselte ein paar Worte mit seinem Vater, ehe er zu Cædmon trat. Ein Blick in das Gesicht seines Freundes genügte, um Cædmon zu beruhigen. Noch war alles beim alten.
Sie begrüßten sich herzlich wie immer, und die dunklen Augen in Etiennes ebenmäßigem Gesicht, das so vielen Frauen jeden Standes so herzzerreißende Seufzer entlockte, strahlten vor Freude.
»Ich habe nicht viel Zeit, Cædmon, aber du kannst mich begleiten, wenn du willst.«
»Wenn es da, wo du hingehst, Bier gibt, gern. Ich bin vollkommen ausgetrocknet. Bei dieser Hitze ist das Reisen wirklich keine reine Freude.« »Das kann ich mir vorstellen.« Etienne wies eine Magd an, Erfrischungen zum Sandplatz zu bringen, und führte Cædmon um die Halle herum in den schattigen Hof. »Ich habe die Ehre, Lucien de Ponthieu für ein paar Tag zu vertreten, bis ein neuer Lehrer für die Jungen gefunden ist. Es ist eine schöne Aufgabe. Ich bedaure, daß ich keine Zeit habe, sie länger wahrzunehmen.«
»Wo ist Lucien?« fragte Cædmon.
»Auf seinen Gütern in East Anglia.«
Cædmon blieb stehen. »Seit wann hat Lucien Güter in East Anglia?« »Seit letzten Winter. Er hat sie verdient, glaub mir. Er ist ein hervorragender Offizier. Ohne ihn hätten wir in den Bergen noch viel mehr Männer verloren.«
»Das bezweifle ich nicht.« Cædmon seufzte. »Nun, vermutlich kann man sagen, ich bin selbst schuld, daß Lucien die Ländereien bekommen hat, die der König mir für die Verteidigung der Ostküste in Aussicht gestellt hatte. Aber ich muß gestehen, ich könnte mir angenehmere Nachbarn vorstellen.«
Etienne nickte grinsend. »Ich auch. Aber sein Land ist südlich des Yare, also trennt euch ein breiter Strom. Und der König hat sein Versprechen nicht vergessen, Cædmon. Du solltest ihn doch besser kennen. Du bekommst Ringley und Morton. Ich weiß es von meinem Vater. Wenn du so weitermachst, wirst du bald der größte Landeigner in Norfolk.« Ringley und Morton. Cædmon ließ sich die Namen auf der Zunge zergehen. Fruchtbares, schwarzes Weideland. Allein die Wolle würde ihm jedes Jahr ein kleines Vermögen einbringen. Doch was er sagte, war lediglich: »Du kannst dich auch nicht beklagen.«
»Das würde mir nie einfallen.« Etienne besaß Ländereien in Dorset, Herefordshire und bis hinauf nach Cheshire. Für ihn wie für so viele jüngere Söhne normannischer Adelsgeschlechter hatte die Eroberung Englands sich als großer Glücksfall erwiesen. Niemals hätten sie in der Normandie so viel Land erhoffen können, wie sie hier gewonnen hatten. Und gerade diese jüngeren Söhne waren es, die hier schon Wurzeln geschlagen hatten, ihr Land und alles, was darauf und darin war, ins Herz schlossen und sich damit identifizierten.
»Wie war Ely?« fragte Etienne beiläufig.
Cædmon schüttelte den Kopf. »Erschreckend in vielerlei Hinsicht. Aber das ist eine lange Geschichte, sie erfordert einen ruhigen Winkel, einen Krug Wein und Muße.«
»Dann heute abend?«
»Einverstanden.«
Die Prinzen und die Knappen waren über Cædmons Rückkehr sichtlich erfreut, allen voran natürlich Eadwig, aber sie beschränkten sich auf einen respektvollen Gruß, ehe sie in einer perfekten Riege vor Etienne Aufstellung nahmen und begierig lauschten, als er ihnen ihre nächste Aufgabe erklärte. Es war nicht zu übersehen, daß sie ihn vergötterten – sie hingen förmlich an seinen Lippen.
Die Magd brachte ein Tablett mit Bier und Honigkuchen. Cædmon nahm sich einen Krug, verzog sich in den herrlich kühlen Schatten der Buchen, die den Sandplatz umstanden, lehnte sich gemütlich an einen dicken Stamm und sah ihnen zu. Ohne jede Verwunderung stellte er fest, welch glückliche Hand Etienne mit den Jungen hatte. Er war kritisch und verlangte höchste Konzentration, aber er sparte nicht mit Lob, und seine Schüler holten das letzte aus sich heraus, um es sich zu verdienen. Es war ein beinah vergnügliches Schauspiel.
»Natürlich seid ihr überlegen, wenn ihr gegen einen unberittenen Gegner kämpft, aber es birgt auch Gefahren. Welche?«
»Wenn der Gegner mein Pferd fällt, bin ich in dem Moment, da ich mit ihm zu Boden gehe, nicht verteidigungsbereit«, antwortete Richard. »Ganz genau. Und das weiß auch dein Gegner, darum wird er auf jeden Fall versuchen, deinem Pferd das Schwert in Brust oder Kehle zu stoßen, ehe er dich auch nur eines Blickes würdigt.«
»Hat mein Vater deswegen vier Pferde bei Hastings verloren?« wollte Rufus wissen.
»Natürlich«, antwortete Etienne.
»Es waren nur drei«, merkte Cædmon an. »Das vierte hat ihn bis zum Schluß getragen.«
»Du hast recht«, stimmte Etienne zu. »So war’s … Was gibt es da zu tuscheln, Rufus? Laß uns teilhaben an deinen Gedanken.«
Rufus sah auf und schüttelte den Kopf. »Nein, lieber nicht.«
»Ich bestehe darauf.«
Der Prinz zögerte einen Moment, dann hob er trotzig das Kinn. »Ich sagte, Cædmon müsse es wissen, er hat schließlich nur zugeschaut und hatte Muße zu zählen, wie viele Pferde mein Vater verlor.«
Etienne war einen Moment verblüfft, dann wurde seine Miene finster. »Schon gut, Etienne«, kam Cædmon ihm zuvor. »Wo er recht hat, hat er recht.«
Etienne stemmte die Hände in die Seiten und sagte warnend: »Du tätest gut daran, einem Ritter deines Vaters etwas mehr Respekt zu erweisen, Rufus.«
Rufus’ ohnehin schon gerötete Wangen verdunkelten sich, und er schlug die Augen nieder. »Entschuldige, Cædmon.«
Cædmon nickte, aber er dachte, daß es höchste Zeit wurde herauszufinden, welcher Teufel Rufus ritt, was aus dem fröhlichen, oft übermütigen Knaben einen so zornigen Jüngling gemacht hatte.
»Zurück zur Sache«, sagte Etienne. »Wenn ihr also wißt, daß der Gegner es auf euer Pferd abgesehen hat, was tut ihr? Eadwig?«
Eadwig dachte einen Moment nach. »Das beste wäre, ich erledige ihn, ehe mein Pferd in seine Reichweite kommt. Mit dem Wurfspieß oder der Schleuder.«
»Das wäre richtig, wenn wir alle eine so glückliche, sichere Wurfhand hätten wie dein Bruder, der sich ja aber leider weigert, uns gewöhnliche Sterbliche in das Geheimnis seiner Treffsicherheit einzuweihen. Ich persönlich hege seit Jahren den Verdacht, daß er dem Teufel seine Seele dafür verkauft hat, und das hängt keiner gern an die große Glocke.« Die Jungen lachten, und Cædmon bedachte seinen Freund mit einem trägen Grinsen.
»Nein, Eadwig, das ist keine Lösung für unser Problem, Wurfspieß und Schleuder sind zu unsicher. Was tust du, wenn du ihn verfehlst? Was, wenn mehr als einer dich angreift?«
»Ich weiß nicht. Was kann ich schon tun?«
»Versuchen, ihm möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Laß ihn nie frontal an dich heran, denn an Hals und Brust ist dein Pferd am verwundbarsten. Presch auf ihn zu, daß er es mit der Angst zu tun bekommt, aber wende nach links, ehe du ihn erreichst, so daß du ihn auf deiner Schwertseite hast, und dann bist du ihm nahe genug, um ihn von oben anzugreifen, über seinen Schild hinweg – der Vorteil ist auf deiner Seite.«
Sie nickten und murmelten zustimmend.
»Dann werden wir das jetzt üben. Es ist gefährlich, darum nehmen wir stumpfe Waffen. Roger, geh und hol sie«, wies er den jüngsten Warenne an. »Leif, du holst ein Pferd. Beeilt euch, los.«
Was in der Theorie so einfach und logisch geklungen hatte, erwies sich in der Praxis als ausgesprochen schwierig. Etienne ließ je einen seiner Schüler zu Fuß gegen einen berittenen antreten, und der Fußsoldat war nicht mit einem der stumpfen Übungsschwerter bewaffnet, sondern mit einem Stock, dessen Ende in zermahlene Kreide getaucht wurde. Damit hieß Etienne ihn versuchen, das Pferd an einer verwundbaren Stelle zu berühren, und bald war der Hals des kräftigen braunen Wallachs grau von Kreidestaub.
Etienne und Cædmon lachten über die Ungeschicklichkeit der Knappen, die ihre Anstrengungen daraufhin verdoppelten.
»Leif und Eadwig, versucht ihr es noch einmal«, sagte Etienne. »Eadwig, du nimmst das Pferd. Los, sitz auf, beweg dich.«
Eadwig schwang sich in den Sattel und trabte ans linke Ende der Bahn, während Leif den Kreidestock aufnahm und an die andere Stirnseite trat. Der Sandplatz war vielleicht sechzig Schritt lang und etwa halb so breit – nicht wirklich groß genug für einen Angriff im gestreckten Galopp –, aber der Wallach war ein schnelles Pferd und Eadwig ein guter Reiter. Aus dem Stand galoppierte er an und hielt geradewegs auf Leif zu, der ihm unbewegt entgegensah. Der Baum, an dem Cædmon lehnte, stand an der Längsseite auf Leifs Hälfte, und so konnte er fast den ganzen Weg seines Bruders von vorne verfolgen. Mit sorgsam verborgenem Stolz bewunderte er Eadwigs tadellosen Sitz und seine mühelose Herrschaft über das Pferd, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Dann geschahen mehrere Dinge fast gleichzeitig. Cædmon spürte, wie die Härchen in seinem Nacken sich warnend aufrichteten, hob den Kopf und stieß sich von seinem Baumstamm ab. Im selben Moment hörte er einen entsetzten Schrei, und er wußte, es war Aliesas Stimme. Etienne, der hinter Leif an der Stirnseite des Platzes stand, brüllte: »Eadwig, halt!« und rannte los.
Ein kleiner Junge torkelte auf dicken Beinchen wenige Schritte von Cædmon entfernt in die Bahn und lachte glucksend vor sich hin. Man konnte nur raten, was sich in seiner Phantasiewelt abspielte, das ihn so erheiterte, jedenfalls nahm es ihn vollkommen in Anspruch, und er hörte weder die warnenden Stimmen noch das Schnauben und den Hufschlag des gewaltigen Schlachtrosses, das genau auf ihn zuhielt. Cædmon sah auf einen Blick, daß Eadwig weder rechtzeitig anhalten noch ausweichen konnte und Etienne viel zu weit weg war. Er machte einen Satz, packte den kleinen Abenteurer von hinten, warf sich mit ihm zu Boden und schützte ihn mit seinem Körper. Dann legte er die Arme um den Kopf und wartete auf Huftritte.
Eadwig war zu entsetzt, um einen klaren Gedanken zu fassen. Instinktiv signalisierte er dem Pferd, seine Schritte zu verkürzen, und lehnte sich leicht vor, um ihm den Sprung zu erleichtern. Der langbeinige Braune machte einen kaum wahrnehmbaren Satz über das niedrige Hindernis hinweg, ohne Cædmon auch nur ein Haar zu krümmen.
Stimmengewirr, dumpfe Schritte im Sand, das mörderische Brennen auf der Brust. Cædmon eruierte seine Sinneswahrnehmungen, um die Orientierung wiederzufinden, richtete sich auf, und als der kleine Körper unter ihm nicht mehr auf seine Brust drückte, verebbte das Brennen ein wenig.
»Aliesa, alles in Ordnung?« fragte Etienne atemlos.
Sie antwortete nicht. Vielleicht nickte sie oder schüttelte den Kopf. Im nächsten Moment kniete sie neben Cædmon, fuhr dem kleinen Jungen über den Kopf, nahm ihn behutsam bei den Armen und richtete ihn auf. »Oh, Henry. Du gottverfluchter kleiner Satansbraten …«
Ihre Stimme klang so sanft und liebevoll, daß niemand ihr lästerliches, gänzlich untypisches Fluchen so recht wahrzunehmen schien. Sie preßte den kleinen Ausreißer an sich, kniff die Augen zu und rang um Fassung, aber trotzdem rannen Tränen unter ihren dichten, langen Wimpern hervor. Als sie die Augen wieder aufschlug, trafen sich ihre Blicke. Cædmon lächelte. »Es ist nichts passiert, Madame. Seid beruhigt.«
Erst jetzt schien sie ihn wirklich zur Kenntnis zu nehmen. »Cædmon … Ich wußte nicht, daß du … Ihr zurück seid.«
Der Schreck hatte ihr zugesetzt. Sie war unnatürlich bleich; ihre Haut schien fast durchsichtig. Die grünen Augen waren immer noch geweitet, ihr Blick wirkte rastlos. Cædmon spürte einen so übermächtigen Drang, sie in die Arme zu schließen und zu trösten, zu beruhigen, zu beschützen, daß es fast körperlich weh tat, ihm zu widerstehen.
Ganz und gar nicht trostbedürftig war hingegen ihr Schützling. Der knapp zweijährige Prinz war von den erschrockenen Gesichtern der Erwachsenen wenig beeindruckt; er weinte nicht und zeigte keinerlei Anzeichen von Furcht.
Etienne hockte sich zu ihnen und legte seiner Frau einen Arm um die Schultern. »Alles heil, Cædmon?«
Cædmon winkte beruhigend ab. »Kein Kratzer. Dank Eadwig.«
Sein Bruder stand mit seinen Gefährten in einem ungleichmäßigen Kreis um die kleine Gruppe im Sand herum und lächelte scheu. Er hielt den Wallach am Zügel und fuhr ihm mit der Linken sanft über die Nüstern; es war eine verlegene Geste. Eadwig war schüchtern; es war ihm verhaßt, im Mittelpunkt zu stehen.
Cædmon fand, es sei Zeit, der Szene ein Ende zu machen. Er stand auf, klopfte sich den Sand von der Kleidung und hob den kleinen Prinzen zu sich hoch. »Was hast du dir nur gedacht, Henry fitz William? Selbst du solltest schon wissen, daß man einem galoppierenden Pferd nicht in die Quere kommt. Es ist gefährlich.«
Henry sah ihm in die Augen. Die seinen waren groß und dunkel, ernste, unwiderstehliche Kinderaugen. Er nickte, bedächtig, aber nicht zerknirscht.
»Einen Sack Flöhe zu hüten ist ein Kinderspiel, verglichen mit Henry«, grollte Aliesa und erhob sich ebenfalls.
»Wo ist seine Amme?« fragte Etienne.
»Krank«, erwiderte sie knapp. »Langsam verstehe ich, warum …«
»Nun, du solltest die Königin bitten, bis zur Genesung der Amme eine andere ihrer Damen mit Henrys Betreuung zu beauftragen. Es ist zu anstrengend für dich«, sagte Etienne, und Cædmon war sicher, er fügte in Gedanken hinzu: in deinem Zustand. Aber davon sprach man in Gesellschaft nicht – es war nicht schicklich.
Aliesa seufzte. »Leider ist Henry äußerst wählerisch, was Frauen angeht. Ist es nicht so, Engel? Außer deiner Mutter, deinen Schwestern und mir bist du keiner geneigt, oder?«
Henry strahlte sie vertrauensvoll an, so daß Cædmon und Etienne lachen mußten. Henry stimmte mit einem verschwörerischen Kichern ein.
Aliesa betrachtete ihn stirnrunzelnd. »Ja, lach nur, Bengel. Wenn die Königin hiervon erfährt, werden wir beide allerhand zu hören bekommen.«
Cædmon reichte ihr den Jungen. Henry legte sofort die Arme um ihren Hals und den Kopf an ihre Schulter. Cædmon beneidete ihn.
Nur ein kleiner Kreis fand sich an diesem Abend in der Halle ein – kaum mehr als dreißig Menschen saßen an den langen Tischen. Nachdem Cædmon die Königin begrüßt und ihr zum Tod des Bruders kondoliert hatte, zog er sich, wie versprochen, mit Etienne in einen stillen Winkel zurück, und sie sprachen über Ely, über das Maine und Flandern und den König von Frankreich. Dann schickte Cædmon Eadwig nach seiner Laute und spielte leise für sich ein paar Balladen. Er genoß den ruhigen Abend unter all diesen vertrauten Menschen, aber er war nicht unbeschwert. Er hatte beinah vergessen, wie es war, unbeschwert zu sein. Aliesa mied ihn, setzte sich nicht zu ihm, als er die Laute kommen ließ, wie sie es früher so oft getan hatte, und zog sich früh zurück. Sie wirkte bleich und erschöpft. Er fragte sich, ob der kleine Zwischenfall vom Nachmittag ihr immer noch zusetzte oder ob es andere Gründe gab.
»Ist deine Frau nicht wohl?« fragte er Etienne schließlich.
Der junge fitz Osbern hob kurz die Schultern. »Doch, ich denke schon.« Ein stolzes Grinsen stahl sich in sein Gesicht. »Sie erwartet ein Kind.«
Cædmon hatte seine Reaktion auf diese Eröffnung sorgsam einstudiert. Er lächelte breit. »Tatsächlich?«
Etienne nickte, beinah scheu. »Sie leidet viel an Schwindel und Übelkeit, aber der Arzt sagt, das sei zu erwarten gewesen, weil sie so zierlich ist.«
Cædmon legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. Es fühlte sich an, als sei es die Hand eines Fremden. »Ich wünsche euch Glück und Gottes Segen, Etienne.«
»Danke. Ich … bin erleichtert, weißt du. Ich dachte schon, irgend etwas stimmt nicht mit ihr. Dreieinhalb Jahre und immer noch nicht guter Hoffnung.«
Cædmon nickte wortlos.
Etienne sah ihn an und lachte verlegen. »Mach kein so ernstes Gesicht. Jetzt ist ja alles in Ordnung.«
Das will ich hoffen, dachte Cædmon, doch ehe er antworten konnte, trat Leif zu ihnen und verneigte sich höflich. »Cædmon, der König bittet Euch zu sich.«
Cædmon erhob sich eilig, erleichtert, diesem vertraulichen Gespräch zu entkommen. »Entschuldige, Etienne.«
»Natürlich.«
Cædmon folgte dem jungen Dänen zur Stirnseite der Halle. Der König hatte sich von der Tafel erhoben und stand mit einer kleinen Gruppe zusammen nahe der Tür. Im diffusen, zuckenden Lichtschein einer Öllampe erkannte Cædmon Roland Baynard, und so war er vorgewarnt, als der König sagte: »Cædmon, ich nehme an, Ihr kennt Ralph Baynard, den Befehlshaber der Londoner Miliz?«
Cædmon verneigte sich vor dem großen, hageren Mann, der zu seiner Überraschung einen kurzen Bart trug, wie ein Angelsachse von Rang. »Es ist mir eine Ehre, Monseigneur.«
Baynard nickte und betrachtete ihn mit unverhohlenem Interesse. »Mein Sohn hat mir viel Gutes von Euch berichtet, Thane.«
Cædmon wechselte beinah wider Willen ein Grinsen mit Roland und bemerkte lächelnd: »Es ist eine von Rolands einnehmendsten Gaben, daß er über beinah jeden etwas Gutes zu sagen findet.«
Baynard lachte leise, wandte sich um und streckte die Hand aus. »Komm her, Beatrice.«
Ein zierliches, kleines Wesen trat an seine Seite, und als zwei schmale, schneeweiße Hände die weite Kapuze zurückstreiften, enthüllten sie einen dichten Schopf weißblonder Haare und ein ebenmäßiges Mädchengesicht mit einem Paar fesselnder, tiefblauer Augen. Der schmale Mund lächelte nicht, und sie senkte den Blick, als sie in den schwachen Lichtschein trat. Selbst ihre Wimpern waren hellblond, so daß man sie auf den ersten Blick kaum sehen konnte.
»Ich würde Euch gern meine Tochter vorstellen, Thane«, sagte Baynard. Zufriedener Besitzerstolz lag in seinem Ausdruck, so als zeige er ihnen ein ausnehmend kostbares Schlachtroß.
Cædmon verneigte sich. »Ich freue mich, Euch endlich kennenzulernen, Beatrice.« Er fühlte sich hölzern. Dieser blonde Engel wird also meine Frau, dachte er ungläubig. Beiläufig nahm er wahr, daß Roland neben ihm stand und grinste wie ein Schwachkopf.
Beatrice Baynard neigte huldvoll das Haupt. »Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Thane«, hauchte sie beinah unhörbar. Sie sah ihm immer noch nicht in die Augen. Vermutlich ist sie zu Tode verängstigt, dachte Cædmon mitfühlend.
»Baynard und ich wollen morgen zur Falkenjagd, Cædmon«, bemerkte der König. »Wollt Ihr uns begleiten?«
Cædmon wollte nichts weniger. Er wollte den morgigen Tag mit seinem Bruder und den Prinzen und Etienne verbringen und sehnsuchtsvoll auf eine Nachricht von Aliesa warten. Er mußte sie dringend sprechen. Er hatte gesehen und gespürt, daß sie in Not war, und er sehnte sich mit jeder Faser danach, bei ihr zu sein. Aber sein »Mit Vergnügen, Sire« war heraus, noch ehe er einen klaren Gedanken gefaßt hatte.
»Reiten Engländer zur Falkenjagd?« fragte Beatrice mit unverändert leiser Stimme. »Ich war der Auffassung, sie jagen mit Eschenspeeren oder bloßen Händen und bemalen sich zu dem Anlaß mit blauer Farbe.« Cædmon betrachtete seine Braut mit ganz neuem Interesse. »Wenn Ihr das glaubt, Madame, dann habt Ihr viel zu lernen.«
Sie lächelte, ob höhnisch oder spitzbübisch, konnte er nicht entscheiden. »Ich brenne darauf«, sagte sie.
Cædmon verneigte sich. »Also dann, auf morgen.«
Die Jagdgesellschaft war überschaubar: der König, die Königin, Richard und Rufus, fitz Osbern, Warenne und Montgomery und einige hochgestellte Angehörige des königlichen Haushalts wie der Chamberlain und der Constable, die Gäste aus London und eine Handvoll jüngerer Ritter. Ihnen folgte eine Schar Falkner mit den Vögeln. Aliesa war nicht mitgeritten.
»Sie wollte eigentlich«, vertraute Etienne Cædmon und Roland an. »Aber ich finde, es ist zu gefährlich. Was, wenn sie stürzt? Wirklich, manchmal ist sie uneinsichtig wie ein Kind. Ich habe es verboten, und jetzt zürnt sie mir.«
Roland lachte. »Solche Geschichten solltest du Cædmon nicht gerade heute erzählen. Er findet ja so schon keinen Mut, sich zu meiner Schwester zu gesellen.«
Cædmon rang derweil mit einem bestürzend heftigen Drang, seinem besten Freund die Zähne einzuschlagen. Vielleicht benimmt sie sich deshalb wie ein Kind, weil du sie so behandelst, dachte er verächtlich. Aber es war Roland, an den er sich wandte. »Ich werde schon zu ihr reiten, wart’s ab. Sobald ich meine Verblüffung überwunden habe.«
»Verblüffung worüber?« wollte Roland wissen.
»Ich hätte nie gedacht, daß ein so häßlicher Kerl wie du eine so schöne Schwester haben könnte.«
Roland grinste gutmütig. »Ja, ja. Schönes Kind, unsere Beatrice. Aber eine Zunge wie eine Distel.«
»Tatsächlich?«
»Dann ist sie nicht die Richtige für Cædmon«, meinte Etienne. »Die Engländer lassen sich von ihren Frauen viel zu viel bieten. Die Frau meines Wildhüters in Cheshire schlägt ihren Mann jeden Freitag grün und blau.«
Roland und Cædmon lachten.
»Vermutlich besteht er darauf«, mutmaßte Cædmon. »Weiter, Roland. Erzähl mir von Beatrice.«
Roland hob kurz die Schultern. »Wenn ich ehrlich sein soll, muß ich sagen, ich kenne sie kaum. Sie ist die jüngste von uns allen. Und sie war noch winzig, als mein Vater mich an den Hof in Rouen schickte. Ein entzückender, blonder Engel war sie. Damals schon. Im Jahr der Eroberung kam sie ins Kloster, und sie ist erst vor ein paar Monaten nach England gekommen. Sie verabscheut London. Ich fürchte, sie verabscheut England. Vielleicht wird es besser, wenn sie auf dem Land lebt.« Aber er klang nicht sehr überzeugt.
Cædmon nickte wortlos. Und ausgerechnet sie verheiratest du mit einem Engländer, William, dachte er verdrießlich. Gut gewählt. Das arme Kind …
Er ließ sich ein paar Längen zurückfallen, bis er neben Baynards normannischem Falkner auskam, sprach kurz mit ihm, streifte seinen eigenen Schutzhandschuh über und nahm dem Mann den Terzel ab, der stockstill auf seinem ledergeschützten Handgelenk hockte. Dann trabte er fast bis an die Spitze des Reiterzuges und fiel neben Beatrice in Schritt.
»Ich bringe Euch Euren Vogel, Madame. Vielleicht noch eine halbe Meile, dann kommen wir an einen Bach. Dahinter liegt eine große Lichtung, wo es nur so von Beute wimmelt. Hasen, Wachteln, Fasane und anderes mehr.«
Sie neigte leicht den Kopf. »Danke, Thane. Ihr kennt Euch gut aus. Stammt Ihr aus dieser Gegend?«
Offenbar hatte niemand sich die Mühe gemacht, ihr etwas über ihren Bräutigam zu erzählen. Er schüttelte den Kopf. »Meine Güter und meine Burg liegen in East Anglia, zwei Tagesritte nordöstlich von hier. Aber seit der Eroberung habe ich viel Zeit im Haushalt des Königs verbracht, war also oft hier in Winchester.«
Sie nickte ernst. Es schien, als lächele sie nicht häufig. Cædmon erzählte ihr ein wenig von East Anglia und von Helmsby, wobei er die vielen Sümpfe und die noch zahlreicheren Mücken vernachlässigte. Er wollte versuchen, ihre Furcht zu mildern. Und er fragte sie nach ihrer Heimat, ihrem Leben in der Normandie. Dabei hatte er in Wahrheit nicht das geringste Interesse an diesem Mädchen. Er betrachtete ihr hübsches, frisches Gesicht, während sie sprach, und nichts regte sich in ihm. Er wollte sie nicht. Und er erkannte an ihrer verkrampften Haltung und dem angedeuteten Stirnrunzeln, daß es ihr ebenso erging. Aber weder sie noch er wurden nach ihren Wünschen befragt. Ihr Vater und der König hatten entschieden, daß sie heiraten sollten, und Cædmon kannte William gut genug, um zu erkennen, wenn sein Entschluß unumstößlich war. Er konnte dieses nichtssagende, langweilige Geschöpf heiraten oder sich ein zweites Mal gegen den König auflehnen. In Wahrheit blieb ihm also überhaupt keine Wahl.
Die stockende Unterhaltung versiegte bald. Der Wald war erfüllt von Vogelstimmen, sie hallten betörend durch die klare Sommerluft. Glockenblumen und Wildrosen blühten zwischen üppigen Farnen, und am Bachufer wuchs dichtes, federndes Gras. Doch Beatrice hatte keinen Blick für die Schönheit der englischen Landschaft – nicht einmal an einem Tag mit einem so untypisch strahlenden Sommerhimmel.
Auf der Wiese jenseits des Flüßchens hielten sie an, und die Falkner übergaben die kostbaren Vögel ihren Eigentümern und streiften dann durch das hüfthohe Gras der Lichtung, um die Beute aufzuscheuchen. Etienne und Roland holten auf und gesellten sich zu Cædmon und seiner Braut.
Etienne zog seinem Falken die Haube vom Kopf, strich ihm liebevoll über die weiße Brust und sagte: »Diesen Vogel schlägst du nicht, Cædmon.«
»Wenn du es sagst …«
»Er stammt aus der Lombardei. Mein Bruder Guillaume hat ihn mitgebracht, als er letztes Jahr aus Apulien zurückkam, und ihn mir geschenkt.«
Cædmon betrachtete den Vogel zum ersten Mal eingehend. Er war eine Spur kleiner als hiesige Falken, aber er wirkte ungeheuer behende, auf eine ganz besondere Weise königlich. Was für ein Geschenk, dachte er bewundernd. Er wußte, Etienne und sein Bruder standen sich nahe, aber er mußte die Großzügigkeit des ältesten fitz Osbern-Sohnes bewundern. Und er spürte einen kleinen eifersüchtigen Stich. Wie sehr hätte er sich gewünscht, sein ältester Bruder hätte ihn je eines solchen Geschenks für würdig befunden. Aber Dunstans Geschenke waren von ganz anderer Art …
»Du bist zu beneiden, Etienne.«
Etienne lächelte breit. »Ich weiß. Also? Was sagst du zu zwei Pfund?« »Ich sage nein. Du weißt genau, daß der König über dieses alberne Spiel die Stirn runzelt.«
»Ach was!« Etienne lachte unbeschwert. »Komm schon. Zier dich nicht. Oder hast du Bedenken, daß du meinen lombardischen Helden schlagen kannst?«
Cædmon betrachtete den Vogel eingehend. Zwei Pfund waren sehr viel Geld. Etwa die Summe, die Helmsby mit dem Verkauf von Molkereiprodukten jährlich auf dem Markt in Norwich verdiente. Es war ein waghalsiger Wetteinsatz …
»Meinetwegen.«
»Zwei Pfund gegen dich, Etienne«, sagte Roland prompt, legte die Hand an seinen Geldbeutel am Gürtel und ließ ihn klimpern.
Etienne nickte ungerührt. »Bitte, wenn du dich mit Cædmon ins Verderben stürzen willst, halte ich auch deine Wette.«
Beatrice sah verständnislos von einem zum anderen. »Was hat das zu bedeuten?«
»Wart’s ab«, riet ihr Bruder.
Wie alle Dinge des gesellschaftlichen Lebens war natürlich auch die Jagdfolge bei den Normannen strikt geregelt. Die erste Beute gebührte dem König, der das Privileg galant an die Königin abtrat. Matildas Sperber erlegte mit schier atemberaubendem Geschick einen jungen, pfeilschnellen Hasen. So unberechenbar seine Haken auch waren, der Sperber war schneller. Er schlug seine Beute, stieg wieder auf, flatterte einen Augenblick triumphal in geringer Höhe und kehrte folgsam auf den Arm seiner Herrin zurück. Matilda gab ihm sein Zieget – ein Fleischbröckchen zur Belohnung –, während der Falkner den geschlagenen Hasen aufhob und hochhielt. Die Jagdgesellschaft applaudierte. Schließlich kam Etienne an die Reihe. Er wechselte einen Blick mit Cædmon, der ihm zunickte.
Wieder streiften die Falkner durchs hohe Gras. Nicht lange, und eine braungefleckte Fasanenhenne stieg unter verschrecktem Geflatter aus ihrem sicheren Versteck auf. Als Etienne ihren empörten Schrei hörte, riß er dem Falken die Haube vom Kopf und ließ sein behandschuhtes Gelenk in die Luft schnellen. Im selben Moment zog Cædmon die Schleuder aus dem Gürtel.
Der Flug der Henne war tölpelhaft und träge; sie hatte keine Chance gegen den pfeilschnellen Vogel. Er folgte ihr in einer Höhe von vielleicht zwanzig Ellen, schien einen Augenblick in der Luft stillzustehen und ihren Landewinkel vorauszuberechnen, dann stieß er mit einem schrillen, grausamen Triumphschrei herab.
Die Schleuder sang, der rundliche Stein von der Größe einer Kinderfaust schoß heraus, traf das fliehende Beutetier am Kopf und zerschmetterte den dünnen Vogelschädel. Der Falke sah den unerwarteten Konkurrenten von der Seite kommen, bremste in vollkommener Verwirrung seinen Sturzflug kurz vor dem anvisierten Ziel ab, geriet ins Trudeln und landete unter fliegenden Federn und ohne alle Grazie im Gras.
Die Jagdgesellschaft lachte ausgelassen – nur der König runzelte mißfällig die Stirn, genau wie Cædmon vorausgesagt hatte.
Mit hochrotem Kopf fing der Falkner der fitz Osberns den in Schande geratenen lombardischen Vogel ein, und Etienne schüttelte in fassungsloser Verärgerung den Kopf, während er seine bestickte Börse aufschnürte und seine Wettschulden beglich. »Also ehrlich, Cædmon«, grollte er leise. »Manchmal graut mir vor dir.«
Cædmon steckte zufrieden seinen Gewinn ein. »Du wolltest es ja unbedingt so haben.«
»Ja, ja. Nicht nötig, Salz in meine Wunden zu streuen …«
Roland, der ebenfalls um zwei Pfund reicher geworden war, grinste breit. »Das hätt’ ich dir vorher sagen können, Etienne.«
Beatrice betrachtete ihren Bräutigam mit verächtlichem Befremden.
Neben Sommergemüse, frischem Weizenbrot und fetten Schweinepasteten gab es in der Halle an diesem Abend reichlich Kleinwild. Etienne bemängelte allerdings, der Fasan habe einen durchdringenden, schwefelartigen Beigeschmack, der unzweifelhaft auf die dubiosen Methoden zurückzuführen sei, mit denen Cædmon ihn erlegt habe.
Cædmon aß, trank, lachte über Etiennes anhaltende Verstimmung und versuchte nach Kräften, eine Unterhaltung mit Beatrice an seiner linken Seite in Gang zu halten, aber er war nicht wirklich bei der Sache. Sein Blick, all seine Sinne waren vollkommen auf Aliesa konzentriert, und als sie aufstand und gute Nacht sagte, erhob er sich ebenfalls, scheinbar zufällig, ging zum unteren Ende des Tisches, wo sein Bruder saß, und als er an ihr vorbeikam, raunte er: »Ich warte in der Kanzlei auf dich. Komm, wenn du kannst.«
Sie kam.
So lautlos wie ihr Schatten schlüpfte sie über die Schwelle, zog die Tür hinter sich zu, und er löste sich aus der Dunkelheit hinter einem der Schreibpulte, schloß sie in die Arme und bedeckte ihr Gesicht mit kleinen Küssen.
Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. »Ich habe mir Sorgen gemacht. Du warst lange fort.«
»Es gab unerwartete Probleme.«
»Probleme?«
Er atmete tief durch, sog den Duft ihrer Haare ein. »Das ist jetzt nicht wichtig. Nur du bist wichtig. Was fehlt dir?«
»Nichts«, sagte sie leise. »Wir bekommen ein Kind, Cædmon.«
»Und du heiratest Beatrice Baynard.«
Er machte sich los und wandte sich beschämt ab. »Was soll ich tun, Aliesa? Der König will es so.«
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Du kannst nichts tun.«
Er drehte sich wieder zu ihr um. »Sie bedeutet mir nichts.«
»Dann ist sie zu bedauern.«
Er tat es mit einem Schulterzucken ab. »Sind wir das nicht alle?«
Sie lachte leise. »Du hast recht. Alle sind wir Wachs in Williams großen Händen. Er wollte eine Verbindung zwischen fitz Osbern, dem verläßlichsten all seiner Vertrauten, und Guy de Ponthieu, dem wankelmütigsten seiner Vasallen, also was lag näher als die Ehe zwischen Etienne und mir? Jetzt will er sichergehen, daß du ihm nicht noch einmal davonläufst, will deine Position stärken, damit du viel zu verlieren hättest, will dich bestechen. Also knüpft er eine vorteilhafte Verbindung für dich. Es ist normal – so werden Ehen geschlossen. Nur für sich selbst hat er das Privileg in Anspruch genommen, die Frau zu heiraten, die er wollte.« Sie sprach ohne Bitterkeit, stellte lediglich Tatsachen fest.
Cædmon setzte sich auf den Boden, zog sie zu sich herab, und sie lehnte sich mit dem Rücken an seine Brust. Er schlang die Arme um sie und fuhr mit den Lippen über ihren Nacken. »So wie Wulfnoth die Geschichte erzählt, hat William Matilda geheiratet, weil er ein Bündnis mit Flandern wollte. Es war nur ein Zufall, daß sie sich verliebt haben.« Sie nickte. »Gut möglich. Ich habe mir schon oft gedacht, daß ein solcher Schritt wirklich überhaupt nicht zu ihm paßt. Und wer weiß. Vielleicht wird es dir und Beatrice genauso gehen.«
Er zog sie fester an sich. »Wieso sagst du das? Du weißt genau, daß das niemals passieren wird.«
Sie lächelte. »Ja. Ich weiß.«
Es wäre eine gute Gelegenheit gewesen zu sagen, daß es doch alles keinen Sinn hatte, daß ihre Schwangerschaft die Lage bedenklich komplizierte, daß sie keine Zukunft hatten und ein Ende machen sollten, ehe es einen Skandal mit unabsehbaren Folgen gab. Unabsehbare Folgen für sie beide, für Etienne, der ihnen beiden am Herzen lag, und jetzt auch für Beatrice Baynard. Aber sie sagten nichts von alledem. Das taten sie nie.
»Erzähl mir, was dir in Ely passiert ist, das dich so erschüttert hat«, verlangte sie statt dessen. Und das tat er. Er offenbarte ihr weit mehr, als er Etienne berichtet hatte. Von seiner Zerrissenheit, seiner widerwilligen Bewunderung für Hereward, und er erzählte ihr alles von Dunstan.
»Guthric hat immer gewußt, wie Dunstan wirklich ist«, schloß er. »Ich nicht. Oder zumindest war es mir nicht bewußt. Aber als ich ihn wiedergesehen habe … als mir klar wurde, daß er nicht tot ist, daß er leibhaftig vor mir stand …« Er brach ab.
»War deine Freude nicht so ungetrübt, wie du dir gewünscht hättest?« mutmaßte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Hundert Dinge schossen mir gleichzeitig durch den Sinn. Daß alles wieder so werden würde wie früher, ich ihm wieder ausgeliefert sein würde. Es ist seltsam, früher habe ich mich nie ausgeliefert gefühlt, aber auf einmal wurde es mir klar. Und daß er mir alles wegnehmen würde. Helmsby, die Burg, meine Stellung – so bescheiden sie auch sein mag –, alles, wofür ich so hart gearbeitet habe, wofür ich Opfer gebracht habe. Nein, ich war nicht erfreut. Ich war entsetzt.«
»Das ist kein Grund, beschämt zu sein, Cædmon, denn dein Entsetzen war durchaus gerechtfertigt. Dein Bruder Guthric hatte recht. Dunstan ist ein Ungeheuer. So wie Lucien«, schloß sie leise.
Cædmon hob verblüfft den Kopf. »Nein, Aliesa. Du tust deinem Bruder unrecht. Er ist hart, erbarmungslos manchmal. Vor allem dann, wenn er des Königs Werkzeug ist, denn William ist, wie wir alle wissen, an Erbarmungslosigkeit kaum zu übertreffen. Aber Lucien ist im Grunde kein übler Kerl. Das unterscheidet ihn von Dunstan.«
Sie befreite sich aus seinen Armen und wandte sich halb zu ihm um. »Glaubst du das wirklich?«
Er nickte nachdrücklich. Er hatte Lucien immer gemocht. Vielleicht weil er seiner Schwester so ähnlich sah, das war durchaus denkbar, aber es war nie so furchtbar schwierig gewesen, sympathische Züge an ihm zu entdecken. »Du sagst, es bräuchte mich nicht zu beschämen, daß Dunstan mir tot lieber wäre als lebendig. Ich bin keineswegs sicher, ob du recht hast. Aber du hast ganz gewiß keinen Grund, dich zu schämen, weil du deinen Bruder so innig liebst.«
Die so bestürzend graugrünen Augen schimmerten einen Moment voller Wärme, aber der gehetzte Ausdruck, der ihm gestern sofort aufgefallen war, kehrte schnell zurück. »Vielleicht, ich bin nicht sicher. Aber Lucien war einer der Todesreiter. Und Etienne verabscheut ihn aus tiefster Seele.«
»Ja, ich weiß. Aber Etienne hat es leicht mit seinem Urteil. Ich weiß, daß er niemals Kapital daraus schlägt, daß sein Vater dem König so nahesteht, doch seine Position hat Etienne erspart, sich je vor die Wahl gestellt zu finden, grauenvolle Dinge für William zu tun oder ihm den Rücken kehren zu müssen.«
»Nein, das ist wahr.« Sie zog seine Arme fester um sich und rückte näher, so als könne sie ihm gar nicht nah genug sein. »Da fällt mir ein, daß ich aller Voraussicht nach eine illustre Schwiegermutter bekomme.«
»Was?« fragte Cædmon verwirrt.
»Fitz Osbern wird Richildis heiraten, die Witwe des Herzogs von Flandern.«
»Was?«
Sie nickte nachdrücklich. »Ich hörte, wie der König und die Königin darüber sprachen. Richildis soll als Regentin über Flandern herrschen, bis ihre Söhne erwachsen sind, aber ein gewisser Robert Frison, ein Bruder des verstorbenen Herzogs, droht mit einer Revolte.«
»Der Bruder unserer Königin?«
Aliesa hob kurz die Schultern. »So ist es. Jedenfalls ersucht Richildis dringend Williams Beistand und hat durchblicken lassen, daß sie durchaus gewillt sei, schnell wieder zu heiraten, vor allem dann, wenn König William ihr seinen getreuen Vetter und Vasallen fitz Osbern schicken sollte …«
Cædmon schüttelte ungläubig den Kopf. »Meine Güte, Balduin ist ja kaum unter der Erde.«
»Tja. Die Situation erlaubt keine Rücksichten auf Pietät.«
»Und du meinst, Etiennes Vater liebäugelt damit, als Regent quasi Herzog von Flandern zu werden?«
»Er liebäugelt mit allem, was seine Macht erweitert, solange es in des Königs Interesse liegt.«
»Wer weiß, was daraus werden könnte«, murmelte er nachdenklich. »Wer weiß«, stimmte sie zu.
Sie genoß es, mit Cædmon über Politik zu reden. Sie hatte nicht häufig Gelegenheit dazu, denn die anderen jungen Damen am Hof interessierten sich nicht dafür, die Königin hielt es für unschicklich, mit ihren Damen darüber zu debattieren, und Etienne, der ihr so viel über die Mechanismen des Regierens und die Hintergründe der Entscheidungen des Königs hätte verraten können, lehnte es ebenfalls ab, mit seiner Frau über solcherlei Dinge zu reden. Er fand, sie solle ihren hübschen Kopf nicht damit belasten. Was er meinte, war, daß sie nicht in der Lage sei, die Zusammenhänge zu begreifen. Weder Cædmon noch irgend jemand sonst hätte sie je gestanden, wie sehr sie das kränkte. Sie beklagte sich niemals über Etienne, bei Cædmon schon gar nicht. Und sie hatte ja eigentlich auch keinen Grund dazu. Etienne war ein zuvorkommender, meist sogar rücksichtsvoller Mann – sie hatte es weit besser angetroffen als die meisten anderen. Er war liebenswürdig, aufmerksam, fand nie etwas daran zu beanstanden, wie sie seinen Haushalt führte, hatte keine Einwände, daß sie gelegentlich Geld für ein Buch ausgab, und war bei seinen Affären äußerst diskret. Aber er wäre im Traum nicht darauf gekommen, sie in irgendeiner Weise ernst zu nehmen. Frauen waren in seinen Augen wie Kinder – unverständig, führungsbedürftig und nicht selten komisch. Das war einer der grundlegenden Unterschiede zwischen Etienne und Cædmon. Sie war nicht sicher, aber sie hielt es für möglich, daß es daran lag, daß Cædmon Engländer war. Die meisten Engländer behandelten ihre Frauen natürlich nicht besser als die Normannen, maßen ihnen nicht mehr Bedeutung zu. Doch es gab Unterschiede. So war es in England nicht ungewöhnlich, hatte sie zu ihrer Verblüffung herausgefunden, daß eine Frau als Älteste eines Dorfes in allen wichtigen Fragen das letzte Wort hatte oder eine Witwe die Ländereien ihres verstorbenen Mannes erbte und alleinverantwortlich verwaltete. Nach englischem Recht konnte eine Frau von Stand selbst dann, wenn sie verheiratet war, über ein eigenes Vermögen verfügen. So besaß Cædmons Schwester Hyld beispielsweise ein Gut in Norfolk, das Cædmon ihr übertragen hatte, denn auch wenn das Testament seines Vaters keine Gültigkeit mehr hatte, war Cædmon Ælfrics letzten Verfügungen dennoch gefolgt und hatte seine Schwester ebenso wie seine Brüder nach den jetzt geltenden Gesetzen belehnt, damit sie versorgt waren. Nach englischem Recht konnte Hyld allein über die Einkünfte aus diesem Land verfügen und brauchte sie nicht ihrem Mann zu überlassen. Und mochte der König auch angekündigt haben, diese »heidnischen und widernatürlichen« Gesetze abschaffen zu wollen, war es in England doch kein ganz und gar abwegiger Gedanke, daß eine Frau ein vernunftbegabtes Wesen sein konnte. Manchmal schämte Aliesa sich ihrer Geltungssucht, ihres Mangels an Bescheidenheit, die, so betonte der König so gern und häufig, die schönste Zierde einer Frau sei. Sie wußte, daß es ihr daran gebrach. Aber ihr Wissensdurst, ihre Sehnsucht nach Herausforderungen und nach neuen Gedanken war soviel mächtiger, ihrer wahren Natur soviel näher als ihre Betrübnis über diesen Charaktermangel. Die Aussicht, ihr Leben als Etienne fitz Osberns Frau tatenlos verstreichen zu lassen, auf ewig in seinem Schatten, in höfischem, geistlosem Müßiggang und – wie sie schließlich hatte erkennen müssen – obendrein auch noch kinderlos, hatte sie oft in Düsternis gestürzt. Cædmon of Helmsby war ihr von Anfang an wie eine Verheißung auf einen Ausweg erschienen. Er fing an, ihr Kleid aufzuschnüren, aber sie legte ihre Hand auf seine und schüttelte den Kopf. »Es geht nicht, Cædmon.«
»Warum nicht?« fragte er verdutzt. »Schwangerer kannst du nicht werden, oder?« Und sofort verwünschte er sich und biß sich schuldbewußt auf die Unterlippe. »Entschuldige.«
Ihre exquisite Nase kräuselte sich, halb belustigt, halb mißbilligend. Dann küßte sie ihn auf den Mundwinkel. »Der Arzt hat es verboten«, erklärte sie.
Was für ein normannischer Unsinn ist das nun wieder, dachte er ungeduldig, aber gleich darauf war er von Besorgnis erfüllt. »Aliesa, bist du sicher, daß alles in Ordnung ist?«
Sie lachte leise. »Natürlich. Ich bekomme ein Kind, das ist alles. Es ängstigt mich ein wenig, das gebe ich zu, aber dann sage ich mir, andere haben es auch schon überstanden. Gelegentlich.«
»Was ängstigt dich? Daß das Kind blond sein könnte?«
Sie winkte ab. »Oh, das wäre nicht weiter schlimm. Etienne hat mir erzählt, daß er als kleiner Junge blond war. Und seine Mutter war hell, und meine ist es auch. Nein, in der Hinsicht brauchen wir uns nicht zu sorgen, wenn es dir nicht gerade wie aus dem Gesicht geschnitten ist.« »Das wäre in jeder Hinsicht ein Schicksalsschlag. Laß uns lieber hoffen, daß es deine noblen Züge erbt – damit kommt es sicher leichter durchs Leben … Also, was ist es dann, das dich ängstigt?«
Sie wandte ein bißchen verlegen den Kopf ab. »Ach, gar nichts. Du … du kannst dir vermutlich nicht vorstellen, welche Schauergeschichten unter Frauen kursieren. Natürlich erzählen sie sie keiner Schwangeren, aber seit ich weiß, daß ich ein Kind bekomme, sind sie mir alle wieder eingefallen.«
Er legte die Arme um sie und zog sie auf seinen Schoß. Sie schien nicht mehr als eine Feder zu wiegen. »Hab keine Angst«, sagte er leise. »Du bist jung und gesund. Alles wird gutgehen.«
Sie lehnte die Stirn an seine Schulter. »Natürlich wird es das. Ich bin nur ein verzärteltes Pflänzchen und eine alberne Gans, weiter nichts.«
Aber er wußte, das war sie nicht. Er blickte auf ihren feingeschwungenen, langen Hals hinab und sah den Puls darin pochen, rasend schnell. Und plötzlich war er felsenfest überzeugt, daß es irgend etwas gab, das sie ihm nicht sagte, und er spürte förmlich, wie die Furcht sich auch in sein Herz stahl.