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Obwohl sie schon seit vier Tagen darüber nachgrübelte, wusste sie nicht, wer der Schlimmste von allen war. Tremell und West waren für die Morde verantwortlich. Sie hatten sich beide von Geldgier leiten lassen und trugen die Schuld an den durch die Vermarktung und Einnahme von Formel D verursachten Todesfälle. Der einzige Unterschied zwischen ihnen war, dass West seine Mitmenschen wahllos verraten und verkauft hatte. Und dass Tremell jetzt im Gefängnis in einer Beobachtungszelle für selbstmordgefährdete Häftlinge saß, während West vermutlich ein Luxusleben in Freiheit führte.

Es war Heiligabend. Ein bitterkalter Nachmittag in den Hügeln von Hollywood.

Die seit einigen Tagen andauernde Fahndung nach West war bis jetzt ergebnislos geblieben. Die Maschine war ohne Zwischenstopp zu den Cayman Islands geflogen. Laut Aussage des Piloten, der am folgenden Morgen nach Burbank zurückgekehrt war, waren West und seine Begleiter dort in eine andere Maschine umgestiegen. Das Flugzeug war nie wieder aufgetaucht. Inzwischen ermittelte das FBI.

Lena klappte ihren CD-Spieler zu und regulierte die Lautstärke. Sie hatte gerade einige ihrer Lieblingsstücke eingelegt. Nat King Cole, weil Weihnachten war. Mike Bloomfield, Al Kooper und die Super Session von Stephen Stills, und zwar aus Gründen, die sie sich nicht erklären konnte. Dazu noch Gerry Mulligan und Astor Piazzolla, weil West ganz sicher nach Südamerika unterwegs war und die Musik ihr vielleicht hilfreiche Anregungen liefern würde. Und zu guter Letzt die CD, die Cava sich angehört hatte. Hope Radio von Ronnie Earl and the Broadcasters. Sie hatte die CD vor drei Tagen im Internet bestellt. Seitdem lief sie praktisch ständig.

Lena setzte sich aufs Sofa und betrachtete den Weihnachtsbaum auf der Terrasse jenseits der Schiebetür. Es war ein lebendiger Baum. Sie besaß zwar keinen Weihnachtsschmuck, hatte aber den Nachmittag damit verbracht, weiße Lichterketten um die Zweige zu schlingen. Der Baum stammte von einer Pflanzenvermietung in Hollywood, die ihn frei Haus lieferte und ihn im neuen Jahr wieder abholte. Die Mietgebühr deckte die Summe, die es kosten würde, den Baum in den von den Waldbränden im letzten Frühjahr verwüsteten Hügeln einzupflanzen.

Allerdings war Lena ganz und gar nicht in Weihnachtsstimmung. Dazu waren die Erinnerungen noch zu frisch. Es gab zu vieles, was sie verarbeiten musste oder lieber vergessen wollte.

Da Rhodes bei seiner Schwester in Oxnard war, hatte sie niemanden, mit dem sie reden konnte. Jennifer Bloom war aus dem Krankenhaus entlassen worden und inzwischen wieder bei ihrem Bruder in Las Vegas. Die Familie von Beth Gillman, dem Mädchen, das Cava vor dem Cock-a-doodle-do entführt und in der Garage in der Barton Avenue ermordet hatte, war über den Tod ihrer Tochter informiert worden. Und obwohl Vinny Bing, der Cadillac-King erhängt in seinem Autohaus aufgefunden worden war, lief seine Sendung im Kabelfernsehen weiter, weil die Betreiber sich eine hohe Einschaltquote erhofften.

Also war der Fall abgeschlossen, dachte Lena. Doch er hatte einen schweren seelischen Tribut gefordert.

Jemand klopfte an die Haustür. Lena ging aufmachen und musterte den Besucher eine lange Zeit.

Es war Polizeichef Logan. Er war lässig mit einem Pullover und einer Stoffhose bekleidet und hatte eine Flasche Pinot Noir in der Hand.

»Ein Freund von mir wohnt westlich von Pasadena«, erklärte er. »Er hat einen ausgezeichneten Weinkeller und sagte, er kenne Sie und dieser Wein könnte Ihnen schmecken. Offenbar haben Sie einmal zusammen im Patina gegessen. Er war zur Feier der Geburt seiner Enkelkinder dort. Ich dachte, wir könnten den Wein gemeinsam trinken.«

Lena betrachtete das Etikett, um Zeit zu gewinnen. Es war ein Williams Selyem – unerschwinglich für sie und schwer zu bekommen. Sie erinnerte sich noch gut an den alten Herrn, von dem der Polizeichef sprach. Lena hatte nicht gewusst, dass die beiden Männer befreundet waren. Als sie endlich das Wort ergriff, zitterte ihre Stimme.

»Kommen Sie herein«, sagte sie. »Bitte.«

Ein freundliches Lächeln malte sich auf dem Gesicht des Polizeichefs, als er eintrat. Lena wusste nicht, was sie davon halten sollte, und bewegte sich wie ein Roboter. Nachdem es ihr gelungen war, zwei Weingläser auf die Anrichte zu stellen, ohne die Stiele abzubrechen, sah sie zu, wie der Polizeichef die Flasche entkorkte und beim Einschenken die üppige Farbe des Getränks lobte. Sie stießen an und tranken den ersten Schluck. Vielleicht war es der beste Wein, den Lena je gekostet hatte.

»Hätten Sie etwas dagegen, nach draußen zu gehen?«, schlug er vor. »Ich würde gerne bei Ihrem Weihnachtsbaum sitzen und die Aussicht genießen.«

Lena schüttelte den Kopf. »Ganz und gar nicht«, stammelte sie.

Der Polizeichef öffnete die Schiebetür und stellte die Flasche auf den Tisch. Während er sich einen Stuhl holte, zog Lena den Grill näher heran, füllte ihn mit Holzkohle und zündete sie an, damit sie es wärmer hatten. Dann nahm sie noch einen Schluck von dem Wein und griff zum Zigarettenpäckchen. Es war nur noch eine Zigarette darin, und sie erinnerte sich an den Abend, an dem sie es gekauft hatte. Den Abend, an dem sie Dobbs und Ragetti auf dem Parkplatz begegnet war. An dem sie Denny Ramira zum letzten Mal lebend gesehen hatte. Sie wusste, dass es für lange Zeit ihre letzte Zigarette sein würde.

»Sehen Sie viel fern, Lena?«

Sie schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht.«

»Ich auch nicht«, meinte er. »Und gehen Sie manchmal ins Kino?«

»Mit Leidenschaft.«

»Wie oft haben Sie Der Pate gesehen?«

»Mehr als zehnmal.«

»Dann begreifen Sie vielleicht, warum es mein erster Schritt war, Ken Klinger zu meinem Assistenten zu machen.«

Er drehte sich zu ihr um und betrachtete sie aus dunklen Augen. Zum ersten Mal seit ihrem ersten Treffen verstand sie den Ausdruck darin, erkannte einen Funken und konnte darin lesen wie in einer Kristallkugel.

»Behalten Sie Ihre Freunde stets in Ihrer Nähe«, sagte sie. »Und holen Sie sich Ihre Feinde ins Haus.«

Die Polizeichef hob sein Glas, als wolle er ihr zuprosten.

»Ich habe von Anfang an geahnt, dass Klinger ein Dreckskerl war«, erwiderte er. »Und ich habe nur darauf gewartet, dass etwas vorfällt. Allerdings hätte ich nie mit einer solchen Tragödie gerechnet, die so viele Menschen das Leben gekostet hat. Aber es ist nun einmal geschehen. Als er mir vorschlug, Ihnen diesen Mordfall zu übertragen, habe ich sofort Lunte gerochen. Doch vor allem hat es mir Klingers Unfähigkeit vor Augen geführt. Er wollte, dass Sie den Fall kriegen, weil er, der Oberstaatsanwalt und seine heruntergekommenen Freunde in der internen Abteilung Sie für eine Versagerin hielten. Also habe ich mich einverstanden erklärt und mich mit Barrera abgestimmt, weil wir wussten, dass Sie eine gute Polizistin sind. Da Sie sich letztes Jahr wacker geschlagen hatten, war mir klar, dass ich Ihnen vertrauen und auf Sie zählen konnte. Wenn Sie erst einmal zu ermitteln anfingen, würden Sie nicht mehr locker lassen. Außerdem würden Sie den Unsinn, den ich Ihnen an den Kopf werfen musste, bestimmt nicht für bare Münze nehmen. Für einen neuen Polizeichef war es eine riskante Methode, auf diese Weise im eigenen Haus aufzuräumen. Deshalb habe ich Ihnen anfangs auch den Schreibtisch mit Fällen von Schusswaffeneinsatz unter Beteiligung von Polizeibeamten vollgestapelt. Das war keine Strafe. Ich musste einfach zuerst herausfinden, wer auf welcher Seite stand. Deshalb auch die Gardinenpredigt in meinem Büro. Klinger hat alles belauscht. Um ihn glauben zu machen, dass ich sein Fürsprecher bin, musste er mithören, wie ich Sie herunterputze. Dafür kann ich mich nur entschuldigen. Übrigens wird man Ihnen für Ihren Einsatz die Tapferkeitsmedaille verleihen, Lena. Kein Polizeichef ist je so stolz auf einen Mitarbeiter gewesen wie ich.«

Als sie hörte, dass seine Stimme zitterte, spürte sie, wie in ihr eine Saite riss. Sosehr sie auch versuchte, professionell zu bleiben und sich nichts anmerken zu lassen, wollte es heute Nachmittag einfach nicht klappen. Sie steckte die noch unangezündete Zigarette zurück ins Päckchen und wandte sich ab.

»Cava ist ein Polizistenmörder«, begann sie. »Und West ein ehemaliger Senator. Wir fischen immer noch im Trüben, Chef. Außerdem sind beide auf der Flucht.«

»Wir werden sie kriegen. Jedenfalls haben wir mit dem eisernen Besen durchgekehrt. Es fordert irgendwann seinen Tribut, jede Nacht mit einem offenen Auge zu schlafen. Außerdem ist die Welt nicht mehr so groß wie früher, Lena. Irgendwann werden auch diese Leute das Ende der Straße erreichen.«

Lena trank einen Schluck Wein, lehnte sich zurück und zündete endlich ihre letzte Zigarette an. Als sie das markante Gesicht des Polizeichefs, sein graues Haar und seine klug dreinblickenden Augen betrachtete, wurde sie allmählich lockerer.

»Was ist mit dem Oberstaatsanwalt?«

Der Polizeichef stellte sein Glas weg. »Der ist mit Tremell befreundet. Die Presse wittert schon Blut. Ich glaube nicht, dass er heil aus der Sache rauskommt. Und selbst wenn, wird er sicher nicht wiedergewählt. Vorhin habe ich noch nach Tremell gesehen. Er ist nicht mehr in der Beobachtungszelle.«

»Das ging aber schnell.«

Der Polizeichef schmunzelte. »Er hat sich einen Prominentenberater genommen, der ihm beibringen soll, sich im Gefängnis zurechtzufinden. Sie wissen schon, wie man sich anpasst, keine Privilegien einfordert und sich nicht mit den Wachen anfreundet.«

Als seine Stimme plötzlich erstarb, folgte Lena seinem Blick von der Veranda zu der Stadt am Fuße der Hügel. Etwas fiel vom Himmel. Zunächst dachte Lena an Asche von einem erneuten Waldbrand. Doch als der Niederschlag immer stärker wurde, stellte sie fest, dass es Schnee war.

Sie beobachtete, wie die Flocken den Boden berührten und schmolzen. Während sie verwundert zusah, dachte sie an Jennifer Blooms Erinnerungsstück an ihren Mann, der im Krieg gestorben war.

Es schneite in Los Angeles. Hier war offenbar alles möglich.

»Ich liebe diese Stadt«, flüsterte der Polizeichef. »Vielleicht deshalb, weil ich nicht hier geboren bin. Darum nehme ich sie vermutlich nicht für selbstverständlich.«

Lenas Mobiltelefon vibrierte. Nach einem Blick auf die Anzeige hielt Lena das Gerät so, dass der Polizeichef den Namen lesen konnte.

Vinny Bing, Der Cadillac-King

Der Polizeichef musterte sie fragend. »Wenn ein Toter anruft, sollte man besser rangehen.«

Lena klappte das Telefon auf, schaltete auf Raumlautsprecher und hörte, wie Nathan G. Cava sich meldete.

»Wo sind Sie?«, fragte sie.

»Das spielt keine Rolle, weil ich nicht lange dort bleiben werde.«

»Und warum rufen Sie an?«

Cava lachte auf. »Um Ihnen zu sagen, dass ich dahintergekommen bin.«

»Was meinen Sie?«

»Jetzt weiß ich, wie Sie mich gefunden haben.«

»Sie hatten sich doch angeblich gar nicht versteckt.«

»Richtig. Aber es hat mich trotzdem interessiert, und nun bin ich im Bilde. Jemand hat Ihnen meinen Namen verraten, und inzwischen habe ich rausgekriegt, wer es war.«

Nach einem Blick auf den Polizeichef beugte sich Lena tiefer über das Telefon. »Und wo ist dieser Jemand?«

Wieder lachte Cava auf. »In einem kleinen Bungalow auf einem Hügel am Strand. Er glaubt, das Paradies entdeckt zu haben. Allerdings wird er in ein paar Minuten wahrscheinlich anderer Ansicht sein.«

»So geht das nicht, Cava. Sie müssen sich stellen.«

»Ein Typ wie ich muss eine ganze Menge«, entgegnete er. »Und Sie haben sich geirrt.«

»In welcher Sache?«

»Was das Töten betrifft«, erwiderte er. »Bei unserem Gespräch meinten Sie, ich hätte Spaß daran. Vielleicht reden wir ja ein andermal darüber.«

Die Verbindung wurde unterbrochen. Lena starrte auf die Schneeflocken, die auf Hollywood hinabrieselten. Der Polizeichef füllte gerade ihr Glas nach.

»Sie hatten Recht«, sagte sie zu ihm. »Die Welt ist nicht mehr so groß, wie sie einmal war.«

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