28
Sie wollte sich nicht zu früh freuen, sich nicht zu weit aus dem Fenster hängen oder verraten, dass die Dinge nach dem, was sie soeben erfahren hatte, allmählich einen Sinn ergaben.
Inzwischen war es halb zehn Uhr morgens. Lena saß im Parkhaus gegenüber der Arztpraxis im Auto und telefonierte. Laut Auskunft von Justin Tremells Assistentin kam er nie vor elf Uhr zur Arbeit. Von Lieutenant Barrera hatte sie gerade erfahren, dass Tremell nur zehn Minuten entfernt in Pacific Palisades wohnte, einem Lena gut vertrauten Viertel zwischen Sunset Boulevard und Brooktree Road. Sie notierte sich die Adresse, bedankte sich bei Barrera und klappte ihr Telefon zu. Dann steckte sie die Formulare mit Jane Does persönlichen Daten, die Dr. Ryan ihr gegeben hatte, in die Mordakte und verließ das Parkhaus.
Die Ärztin hatte ihr die Originale, keine Fotokopien, überlassen, also die Papiere, die Jennifer McBride tatsächlich mit der Hand ausgefüllt hatte. Lena wollte sie ins Labor bringen, denn ihr war etwas daran aufgefallen.
Dr. Sue Ryan hätte nicht so entgegenkommend sein müssen. Das Gleiche galt für Barrera, der wusste, dass Lena Befehl hatte, Justin Tremell von der Liste zu streichen. Dennoch hatte er das mit keinem Wort erwähnt, als er Tremells Privatadresse nachgeschlagen und sie ihr diktiert hatte.
Die erste Ampel war grün. Kurz musste Lena an ihre gestrige Unterredung mit dem Polizeichef denken. Doch schon im nächsten Moment schob sie die Erinnerung beiseite und gab Gas. Die Straße schlängelte sich wie eine verbogene Sprungfeder durch die Hügel. Während der Wagen durch die Serpentinen sauste, gab Lena sich redlich Mühe, unvoreingenommen zu bleiben und keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, sosehr sich diese auch aufzudrängen schienen. Zehn Minuten später hatte sie die Brooktree Street erreicht, bog links ab und fuhr den Hügel hinunter. Nachdem sie den Bach am Grunde der Schlucht überquert hatte, sah sie Tremells Haus und rollte die private Auffahrt hinunter.
Das Haus stand auf einer Wiese, inmitten eines etwa fünftausend Quadratmeter großen Grundstücks, und das in einer Stadt, in der es angeblich keine freien Flächen mehr gab. Lena bemerkte, dass der Bach durch das hohe Gras floss. Neben einem kleinen Teich stand ein Stall mit zwei Pferden darin. Dann teilte sich die Auffahrt. Auf einem Parkplatz waren ein Pickup und einige Autos abgestellt. Lena hielt sich links.
Das Anwesen hatte etwas Idyllisches, Weltfremdes und Unwirkliches an sich. Lena hätte sich das Haus größer vorgestellt, doch es passte ausgezeichnet in diese Umgebung. Es war aus einer scheinbar willkürlichen Mischung aus Stein, Holz und Glas erbaut und besaß ein geschwungenes Dach. Die moderne Architektur bot einen Panoramablick in alle Richtungen, ohne dabei die Landschaft zu erdrücken. Einige Handwerker saßen in der warmen Sonne neben Paletten mit Dachpfannen und machten anscheinend gerade Pause. Lena bemerkte, dass ihre Augen spöttisch funkelten. Einer flüsterte etwas auf Spanisch, worauf ein anderer mit gesenktem Kopf zu kichern begann. Lena hielt Ausschau nach dem Bauunternehmer, dem der Pickup gehörte, konnte ihn aber nirgendwo entdecken.
Sie überquerte den Kiesplatz und betrat die hintere Veranda. Die Tür stand offen. Lena hielt sich die gewölbten Hände seitlich an die Augen und spähte durch die Fliegengittertür in die Küche, wo ein älteres Paar am Frühstückstisch saß. Ein kleines Kind war auch dabei. Tremells neugeborener Sohn Dean junior. Die Frau wiegte das Baby im Arm und tätschelte ihm den Rücken. In der anderen Hand hielt sie ein leeres Babyfläschchen.
Auf den ersten Blick wirkte die Szene so friedlich wie die gesamte Umgebung des Hauses. Nach einer Weile jedoch fiel Lena auf, dass die alten Leute nicht die Absicht hatten, ihre Gegenwart zur Kenntnis zu nehmen. Obwohl sie gesehen haben mussten, wie sie sich der Tür näherte, zeigten sie nicht die geringste Reaktion, sondern saßen nur da und starrten sie an.
Lena hielt ihren Dienstausweis an das Fliegengitter. »Ich möchte gerne mit Justin Tremell sprechen.«
»Er ist nicht da«, erwiderte der Mann mit schwacher Stimme, nachdem eine Weile Schweigen geherrscht hatte.
»Wo ist er?«
»Er ist Mitglied in einem Fitness-Studio. Dort fährt er vor der Arbeit immer hin. Er kommt erst spätabends zurück.«
Irgendetwas war da faul. Die Sitzposition der beiden, der gepresste, ja, ängstliche Tonfall des Mannes. Die Frau tätschelte weiter Tremells Sohn mit roboterhaften Bewegungen. Ihr lebloser Blick war auf eine Stelle am Boden kurz vor der Türschwelle gerichtet.
»Wer sind Sie?«, fragte Lena.
Der Mann zuckte mit den Achseln. »Eves Eltern.«
»Dann sind Sie also Justin Tremells Schwiegereltern?«
Offenbar musste er darüber nachdenken.
»Stimmt etwas nicht?«, hakte Lena nach.
Er antwortete nicht. Lenas Überzeugung wuchs, dass die zwei sich vor etwas fürchteten. Sie beschloss einzutreten. Doch sie war noch nicht ganz durch die Tür, als sie glaubte zu wissen, wo der Hund begraben lag.
Es war nicht zu überhören. Die Geräusche der Tochter der beiden alten Leute hallten aus dem Schlafzimmer in die Küche hinunter. Anscheinend ein kleiner Vormittagsfick, nicht sehr leidenschaftlich zwar, allerdings unverkennbar.
Lena dachte an den Bauunternehmer, den sie draußen nirgendwo hatte entdecken können, und musterte wieder das alte Paar. Es war keine Angst, die sich da in ihren Augen malte. Nein, nicht einmal Schmerz. Es sah eher wie Trauer aus. Das Gefühl, das einen nachts nicht schlafen ließ und langsam die Seele zerfraß.
Lena zog eine Visitenkarte aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. »Ich würde gern mit Ihrer Tochter sprechen.«
Der Mann betrachtete schweigend die Karte.
»Ich warte draußen«, fügte Lena hinzu.
Lena ging hinaus auf die Veranda, überlegte, ob sie sich eine Zigarette anzünden sollte, und entschied sich dagegen. Sie sah, dass die Dachdecker sie vom Rasen aus beobachteten und offenbar rätselten, wer sie wohl sein mochte. Vermutlich fragten sie sich, ob sie eingeweiht war und wirklich wusste, was hier gespielt wurde.
Sie wandte sich ab, verließ die Veranda und schlenderte zum Zaun hinüber. Während sie den Pferden zuschaute, erinnerte sie sich an die Kleidung des alten Paares. Allem Anschein nach waren sie nicht sehr vermögend und mussten sich deshalb damit abfinden, dass ihre Tochter ihnen das Leben zur Hölle machte. Kein leichtes Schicksal.
Sie drehte sich um und musterte das Haus. Hier, hinter der Hausecke, befand sie sich nicht mehr im Blickfeld der Dachdecker. Sie stellte fest, dass Justin Tremells junge Frau sie aus einem Fenster im ersten Stock anstarrte. Die Leibesübungen mit dem Handwerker waren offenbar vorbei. Die Frau war noch nackt und hatte die Arme unter den Brüsten verschränkt. Doch ihre Miene überraschte Lena. Sie wirkte melancholisch, ja, sogar verletzt, nicht etwa herablassend. Als sie vom Fenster zurückwich, blieb ihr verzweifelter Augenausdruck Lena im Gedächtnis haften, und sie fragte sich, ob es vielleicht ein Hilfeschrei gewesen war.
Es machte Lena verlegen, und sie versuchte, das Gefühl loszuwerden. Nach einem Blick auf den Pickup, der neben ihrem Wagen parkte, spazierte sie weiter die runde Auffahrt entlang zum Teich. Aber als sie die Hausecke erreicht hatte, sah sie eine Limousine vor dem Haus, erkannte den Fahrer, und es fiel ihr wie Schuppen von den Augen. Justin Tremells junge Frau trieb es nicht mit dem Dachdecker. Sie hatte einen anderen Bettgespielen.
Sie brauchte einen Moment, um diese Erkenntnis zu verdauen, und noch eine Weile, um ihre Beobachtungen in der Küche und durch das Fenster richtig einzuordnen. Das Ergebnis waren derbe und schmutzige Bilder, und sie war machtlos dagegen, dass sie schockiert war. Nachdem sie sich endlich von ihrem Schrecken erholt hatte, schlenderte sie zu dem Wagen hinüber und betrachtete den Fahrer.
»Warten Sie auf jemanden?«, erkundigte sie sich.
Er wich ihrem Blick aus und rutschte auf seinem Sitz herum. »Ja, Ma’am, muss wohl so sein.«
»Auf den Mann, der die Schecks ausschreibt?«
»Da könnten Sie Recht haben«, erwiderte er.
»Dean Tremell?«
Er tippte sich an die Mütze, konnte Lena jedoch noch immer nicht ansehen. »Richtig. Mr. Dean wird jeden Moment hier sein.«
»Wie heißen Sie?«
»Louis.«
»Wie oft kommen Sie hierher, Louis?«
»Ich bin nur der Chauffeur, Ma’am. Das ist Louis’ Beruf. Er fährt und schaut dabei auf die Straße. Am Wochenende nimmt er seinen Gehaltsscheck und geht nach Hause.«
»Schon verstanden, Louis. Aber wie oft kommen Sie hierher?«
Plötzlich hörte sie, dass sich Dean Tremell hinter ihr räusperte. »So oft ich ihm die Anweisung dazu gebe.«
Lena drehte sich um und beobachtete, wie Dean Tremell sich näherte und dabei in sein Sakko schlüpfte. Er bewegte sich schnell und schien heranzustürmen wie ein feuriger Stier. Offenbar hatte das Schäferstündchen mit seiner Schwiegertochter seine Stimmung positiv beeinflusst. Die Situation schien ihm seltsamerweise nicht einmal peinlich zu sein. Ein leichtes Grinsen malte sich auf seinem wettergegerbten Gesicht. Es war ein ironisches Grinsen, das gleichzeitig neugierig wirkte.
»Was haben Sie hier zu suchen?«, fragte er.
»Ich möchte Ihren Sohn sprechen. Und Sie?«
Er hielt inne, dachte nach und fuhr sich mit den Fingern durch den weißen Haarschopf. Nachdem er zu einem Ergebnis gelangt war, blickte er Lena mit zur Seite geneigtem Kopf an und senkte die Stimme.
»Ich war schon immer der Ansicht, dass ein Mann sich seine Bedürfnisse nicht aussucht. Es ist genau umgekehrt. Deshalb habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, mich nie für das zu entschuldigen, was ich bin. Sie bekommen das, was Sie sehen. Das vereinfacht das Leben sehr, finden Sie nicht?«
»Und was hält Ihr Sohn davon?«
»Er wäre sicher bestürzt, wenn er es wüsste. Wer wäre das nicht?«
»Und seine Frau?«
Als Tremell nicht antwortete, wich Lena instinktiv einen Schritt zurück. Sie erinnerte sich an das, was sie letzte Nacht im Internet über Justin Tremells Abenteuer gelesen hatte. Der Junge hatte offenbar einen guten Hauslehrer gehabt: Justin Tremell hatte viel von seinem Vater gelernt.
Tremell räusperte sich erneut. »Ich habe am Samstagabend, nachdem Sie fort waren, ein langes Gespräch mit dem Oberstaatsanwalt geführt. Er hat mir zugesichert, sich der Sache anzunehmen.«
»Vielleicht haben Sie nicht genug bezahlt.«
Tremell lachte auf. »Es ist nicht so, wie Sie glauben, Detective.«
»Ach, wirklich?«
»Nein, Sie liegen völlig falsch.«
Lena betrachtete noch einmal das Haus, drehte sich dann um und beschloss, alles auf eine Karte zu setzen.
»Ich weiß von der Abtreibung«, sagte sie.
»Welche Abtreibung meinen Sie?«
»Jennifer McBride war schwanger.«
»Die tote Nutte?«
Eine Weile verging. Lena war so angewidert, dass sie hätte kotzen können.
»Ja«, entgegnete sie. »Die tote Nutte.«
Tremell lehnte sich an den Wagen. Sein Blick passte nicht zu seinem Auftreten, was ihr gar nicht gefiel.
»Verzeihung, Detective, ich hätte mich respektvoller ausdrücken sollen. Anscheinend lebte diese Frau gefährlich, und wenn das Schicksal zurückschlägt, hat das häufig hässliche Folgen. Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen.«
»Und in welcher Form?«
»Ich kenne da ein Lokal in der Innenstadt. Genau genommen gehört es mir. Ich würde Sie gern zu einem frühen Mittagessen einladen.«
Lena schüttelte den Kopf. »Lieber nicht.«
Tremell grinste. »Kommen Sie, Detective. Tun Sie einem alten Mann den Gefallen. Sie haben Ihre Meinung, und ich habe meine. Möglicherweise sind sie gar nicht so unterschiedlich, wie Sie denken. Wäre das nicht ein Gespräch wert? Lassen Sie uns zusammen zu Mittag essen. Der Koch ist der beste in L.A.«
Lena betrachtete ihn und nickte zögernd. Lächelnd nannte Tremell ihr den Namen des Restaurants. Sie hatte zwar noch nie davon gehört, kannte aber die Straße und die Nummer des Häuserblocks und erklärte sich einverstanden, sich in einer Stunde dort mit ihm zu treffen. Während er in seine Limousine stieg, schlenderte sie die Auffahrt entlang zu ihrem Auto. Inzwischen arbeiteten die Handwerker wieder oben auf dem Dach. Offenbar war ihnen das Lachen vergangen.