16

Nathan G. Cava, in Anzug und Krawatte, schlenderte die lange Reihe von Autos entlang und befürchtete, »Vinny Bing – der Cadillac-King« könnte vielleicht doch nicht das richtige Autohaus für ihn sein. Der Schwachkopf von einem Autoverkäufer folgte ihm auf Schritt und Tritt und schnappte nach seinen Knöcheln wie ein streunender Hund. Außerdem tat sich etwas im Ausstellungsraum. Nathan hatte ihn zwar noch nicht betreten, erkannte aber durch die Glasscheibe hektisches Treiben und rechnete mit Schwierigkeiten.

Er warf einen Blick auf den Verkäufer – der elende Wicht plapperte pausenlos weiter wie aufgezogen – und bereute, dass er dem Trottel seinen Namen genannt hatte.

Er hatte sich das Autohaus von Vinny Bing ausgesucht, weil es im Süden der Stadt lag, wo arme Leute wohnten, sodass er vielleicht einen besseren Preis würde heraushandeln können. Für einen Autotyp hatte er sich bereits entschieden. Einen SRX Crossover. Nicht so groß zwar wie sein geliebter Hummer, aber trotzdem ein richtiges Auto, in dem man sich zu Hause fühlen konnte. Das gewaltige Schiebedach sagte ihm besonders zu, denn die einfahrbare Glasfläche erstreckte sich über die gesamte Länge des Daches, was sich bei einer Überwachung als nützlich erweisen konnte. Trotzdem trennte er sich nur sehr ungern von dem Hummer. Der Wagen war fast neu und fuhr sich wunderbar. Außerdem eignete er sich ausgezeichnet dafür, die Leute von der Straße zu scheuchen, sodass er immer freie Bahn hatte. Selbst die Angeber in ihren BMWs kniffen den Schwanz ein.

Ohne dem Verkäufer zuzuhören, setzte Cava seinen Weg durch die Reihen der Autos fort. Er war sich zwar, was das Modell anging, sicher, konnte sich aber nicht auf eine Farbe festlegen. Wäre die Welt ein Paradies gewesen, er hätte sicher Schwarz genommen. Doch in seiner Branche war eine weniger aussagekräftige Farbe, die sich besser ins Straßenbild eines Stadtviertels einfügte, vermutlich ratsamer. Inzwischen hatte er die Auswahl auf zwei Wagen eingegrenzt, die nebeneinander geparkt waren.

Er blieb stehen, musterte die Fahrzeuge gründlich, wandte sich dann an den Verkäufer und brachte ihn mit einer unwirschen Handbewegung zum Schweigen.

»Wie nennt man diese Farbe?«, fragte er.

»Ach, da haben Sie eine gute Wahl getroffen, Sir. Das ist ein SRX und im Preis sehr günstig. Er ist heute im Sonderangebot. Wenn Sie ihn innerhalb der nächsten Stunde kaufen, sparen Sie sogar noch mehr.«

»Wie heißt die Farbe?«

»Wir bezeichnen Sie als >Platin, hell< Der beste Wagen, den wir zu bieten haben.«

Cava wies auf das zweite Auto. »Und wie heißt diese Farbe?«

»Die nennt man >Bronze, strahlend< Eine bessere Entscheidung hätten Sie wirklich nicht treffen können, Mr. Cava.«

»Wie können zwei Autos gleichzeitig das Beste sein?«

»Bei uns gibt es nur das Beste. Etwas anderes kommt uns nicht auf den Hof. Sagen Sie mir, wie viel Sie anlegen wollen, und ich spreche mit Vinny. So einfach ist das. Möchten Sie den Schlüssel für eine Probefahrt?«

Cava drehte sich um und betrachtete den Verkäufer von Kopf bis Fuß. Der Mann trug einen fadenscheinigen Anzug, und sein zerknittertes Hemd schrie regelrecht nach einem Bügeleisen.

»Ich möchte keine Probefahrt machen, sondern den Wagen in >Bronze, strahlend< kaufen. Und jetzt holen Sie Vinny.«

»Dazu müssen wir reingehen, Mr. Cava. Wir haben einen Verhandlungsraum.«

Cava zögerte kurz. Er wusste nicht, was er sich unter einem Verhandlungsraum vorzustellen hatte.

»Meinetwegen«, sagte er schließlich. »Doch ich unterhalte mich nicht mit Mittelsmännern. Wenn Sie den Wagen verkaufen wollen, schaffen Sie Vinny herbei.«

»Schon gut, schon gut. Aber kommen Sie erst, wenn ich Ihnen ein Zeichen gebe.«

Der Mann zwinkerte ihm zu, lief los und verschwand im Ausstellungsraum. Cava verstand die Welt nicht mehr. Allerdings war er in den letzten zehn Minuten schon nicht mehr richtig mitgekommen.

Als er auf den Ausstellungsraum zusteuerte, wurde ihm wieder ein wenig unbehaglich, und er spielte mit dem Gedanken, in seinen Hummer zu springen und sich aus dem Staub zu machen. Vielleicht war es besser, das Risiko einzugehen und zu hoffen, dass niemand ihn aufhalten würde. Vermutlich konnte der Zeuge sein Gesicht beschreiben und wusste, dass er einen Hummer fuhr. Doch mehr würde er nicht zu sagen haben. Niemand kannte seine Autonummer, weil er vorsichtshalber früher am Abend Ersatznummernschilder auf dem Parkplatz C des Internationalen Flughafens von Los Angeles gestohlen und sie später wieder ausgetauscht hatte.

Also sprach nichts dagegen, sich sofort zu verdrücken. Aber war es nicht vielleicht doch zu gefährlich?

Cava streckte die Hände aus und stellte fest, dass sie zitterten. Nicht so stark, dass es jemandem auffiel, als ruhig konnte man sie allerdings auch nicht bezeichnen. Nicht ruhig genug zum Töten. Als der Verkäufer seinen Namen rief, blickte er auf.

Der kleine Mann hielt die Tür zum Ausstellungsraum auf und winkte ihn zu sich. Cava nahm an, dass es sich um das »Zeichen« handelte.

Er holte tief Luft, trat ein und hörte Ray Charles’ »Rudolph the Red Nosed Reindeer« singen. An der Decke hingen grelle Scheinwerfer, und ein Bursche lief mit einer Videokamera herum. Eine zweite Kamera war auf die andere Seite des Raums gerichtet, wo ein Mann, ein fratzenhaftes Lächeln auf dem Gesicht, majestätisch die Treppe hinunterschritt, die zu seinem Büro im ersten Stock führte.

Cava versuchte, die Ruhe zu bewahren und sich von der seltsamen Wendung der Ereignisse nicht aus dem Konzept bringen zu lassen. Der Mann, der da die Treppe hinabstolzierte, trug ein merkwürdiges Kostüm. Zunächst dachte Cava, dass er sich als Weihnachtsmann verkleidet hatte. Doch als er die Kameras und die Musik in Betracht zog, kam er zu dem Schluss, dass es sich bei dieser aufgetakelten Schießbudenfigur um »Vinny Bing, den Cadillac-King« handelte.

Cava drehte sich zu dem Kameramann um und hielt seine behandschuhte Hand vor die Linse. Als der Mann sich befreien wollte, wurde Cavas Griff um die Kamera fester. Im nächsten Moment kam ein junger Typ in Jeans und T-Shirt angelaufen und keuchte ihm etwas ins Ohr.

»Immer cool bleiben, Mann. Sie kommen in die Sendung.«

»Was für eine Sendung?«

»Vinnys Sendung. Wir drehen schon die zweite Saison. Wir sind im Kabelfernsehen, Mann.«

Cava starrte dem Schwachkopf in die Augen und war kurz davor, das Objektiv von der Kamera abzubrechen. »Etwa live

»Nein, die Folge wird erst nächstes Jahr gebracht. Die Saison beginnt im Januar. Nicht im nächsten Januar, sondern im übernächsten. Wenn Sie ins Bild wollen, müssen Sie also cool bleiben.«

Cava ließ den Blick durch den Ausstellungsraum schweifen und überlegte. Mitten im Raum bemerkte er ein Zelt, über dessen Eingang in blinkenden Neonbuchstaben das Wort Sonderangebote prangte. Der König der Cadillacs schritt noch immer die Treppe hinunter. Bei jeder Stufe wurde sein Grinsen breiter. In einem Jahr würde Cava unsichtbar sein und Tausende von Meilen weit weg leben. Niemand würde mehr nach ihm suchen. Dennoch fragte er sich, ob er sich das alles nicht nur einbildete. War es etwa eine Nebenwirkung der Schlaftablette von gestern Abend und des zu frühen Aufwachens? Jedenfalls entpuppte es sich als Alptraum, den Hummer loszuwerden.

»Alles in Ordnung«, sagte er.

»Dann lassen Sie die Kamera los und schütteln Sie Vinny die Hand.«

Cava gab die Kamera frei, ohne auf den zornigen Blick des Kameramanns zu achten. Nachdem er noch einmal tief Luft geholt hatte, durchquerte er den Ausstellungsraum. Inzwischen hatte der King das Erdgeschoss erreicht und kam auf ihn zu. Während Cava sich näherte, erkannte er, dass an der Halskette des King die Buchstaben VB baumelten. Sie waren etwa fünf Zentimeter groß und mit Diamanten verziert. Als der King ihm eine schlaffe Hand hinhielt, schüttelte Cava sie.

»Ich bin Vinny Bing, der Cadillac-King. Ich habe gehört, Sie wollen einen SRX Crossover in >Bronze, strahlend< kaufen.« Der King drehte sich mit einem telegenen Lächeln zur Kamera um. »Dann wollen wir ein Geschäft abschließen.«

Menschen applaudierten. Verkäufer erhoben sich hinter ihren Schreibtischen. Die Kameraleute verharrten ehrfürchtig. Cava schwieg. Die billigen Ringe an Bings Fingern waren ihm nicht entgangen, und er versuchte, sich ein Bild von dem Mann zu machen, während sie das Verhandlungszelt betraten. Der Ketchupfleck im Mundwinkel des Autohändlers bestätigte seinen Eindruck, der ihm mittlerweile so deutlich vor Augen stand wie ein Eintrag in der Encyclopedia Britannica. Vinny Bing war ein übergewichtiger, brutaler, aufgeblasener Großkotz von Anfang dreißig. Eindeutig ein Mitglied der Generation »Aus und Vorbei«. Der Generation »Hoffnungslos«. Er hatte wie achtzig Prozent seiner Artgenossen den Gebrauch von Besteck eingestellt und nahm alle drei Mahlzeiten mit den Händen ein. Anstatt zu lesen stierte er in die Glotze und konsumierte auf Teufel komm raus, bis sich sein Gehirn in eine Schüssel mit Avocadomatsch und versalzenen Maischips verwandelt hatte.

Beide Kameras folgten ihnen ins Zelt, ebenso wie ein kleiner Dickwanst, der ein riesiges Mikrofon hochhielt. Bing ließ sich hinter seinem Schreibtisch auf einem Möbel nieder, das aussah wie ein Spielzeugthron. Dann kam der nervtötende Verkäufer, der Cava die ganze Zeit bedrängt hatte, herbeigehastet, und reichte Bing die zu dem Wagen gehörigen Unterlagen.

»Was haben wir denn da?«, meinte Bing und schmatzte mit den Lippen. »Also, legen wir los.«

Cava sah zu, wie Bings Blick über seinen Namen auf dem Formblatt glitt. Nach einer Weile legte er es weg, griff nach Block und Stift und schaute bedeutungsvoll wie der Vorstandsvorsitzende eines Großkonzerns in die Kamera.

»Okay«, verkündete er. »Kunde Cava will den SRX Crossover, Farbe >Bronze, strahlend<, kaufen. Sprechen wir hier von dem V6 Sparmodell oder von dem vier Komma sechs Northstar V8? Der Achter hat dreihundertzwanzig Pferdchen unter der Haube. Sie werden sich fühlen wie in einer Rakete.«

»Dann nehme ich die Rakete«, erwiderte Cava.

Wieder lächelte Bing in die Kamera. »Reizend«, sagte er. »Ich mag diesen Burschen. Er ist zwar eher ein stiller Typ, aber ich mag ihn trotzdem.«

Hinter vorgehaltener linker Hand notierte Bing eine Summe auf den Block, und zwar so, dass nur er und die Kamera sie sehen konnten. Dann riss er das Blatt vom Block ab, faltete es zusammen und schob es über den Tisch.

»Fröhliche Weihnachten«, rief er aus. »Ein Schnäppchenpreis, weil Sie ein guter Freund von Vinny Bing sind. Und Sie kriegen sogar noch eine Dreingabe. Wenn Sie wollen, legt der King das Komfortpaket, das Fahrerpaket und sogar das Sitzepaket drauf. Ganz egal, immerhin haben wir Weihnachten. Sie bekommen das alles umsonst.«

Cava entfaltete den Zettel und las die geheimnisvolle Zahl, wohl wissend, dass die drei Zubehörpakete bei einem Wagen mit V-8-Maschine ohne Aufpreis mitgeliefert wurden. Schließlich hatte er den Wagen bereits in einem Autohaus in Glendale probegefahren, die Preise im Internet recherchiert und war deshalb genau darüber im Bilde, wie viel Vinny Bing für das Auto bezahlt hatte. Der King war offenbar nichts weiter als ein Abzocker.

»Was ist mit dem Schiebedach?«, fragte Cava. »Das gehört doch wohl auch dazu?«

Bing lachte auf. »Das Schiebedach ist Teil des Luxus-Premiumpakets. Es hat Rundumblick.«

»Ich dachte, wir wären Freunde.«

Bing zögerte einen Moment. »Sie heißen doch Nathan, richtig?«

Cava nickte und fixierte den zwielichtigen Autohändler mit Blicken. »Nathan G. Cava.«

»Wofür steht das G?«

»Gut.«

»Hat schon mal jemand ein Lied über Sie geschrieben?«

»Noch nicht.«

Wieder lachte Bing auf. »Nun, wir können auch weiterhin Freunde bleiben, Nathan. Allerdings kostet Sie das fünf Riesen extra.«

Cava rechnete nach. Das Zubehör kostete eigentlich viertausendzweihundert, keine fünftausend. Also wollte der King ihn um weitere achthundert Dollar erleichtern.

»Was halten Sie von Bargeld?«

»Dann sind wir wieder Freunde, Nathan. Sehr gute Freunde. Wir wollen ein Geschäft abschließen, während alle zuschauen. Zeigen wir ihnen die Kohle.«

Das lästige Gefeilsche hatte sich über eine Stunde hingezogen, so lange, dass man ihm das Händezittern inzwischen ansah. Selbst der King hatte eine Bemerkung darüber fallengelassen, nachdem die Kameras abgeschaltet worden waren.

Cava trat aus der Buchhaltung und folgte dem Verkäufer hinaus zu seinem Hummer, um seine Sachen zu holen. Er hatte die Preisdifferenz zwischen den beiden Wagen in Hundertdollarscheinen bezahlt. Obwohl er es bedauerte, schon so bald einen neuen Wagen kaufen zu müssen, konnte er es sich zum Glück leisten. Mit dem Geld, das er, vergraben in der irakischen Wüste, gefunden hatte, und dem Honorar für das Dreierpaket in Hollywood würde Cava für den Rest seiner Tage ausgesorgt haben.

Er würde ein bescheidenes Leben führen. Anders als die Generäle, die angeblich nach Saddams angeblich vorhandenen Massenvernichtungswaffen gesucht hatten, aber in Wirklichkeit nur auf das Geld des Diktators aus gewesen waren. Nicht so wie seine Vorgesetzten, die – Krokodilstränen in den Augen – Särge, vollgestopft mit Banknoten im Wert von vielen Millionen Dollar, hatten nach Hause schaffen lassen. Jedenfalls würde es reichen, um irgendwo an einem Strand in der Sonne zu liegen, sich mit ausreichend Medikamenten zu versorgen und zu versuchen, alte Erinnerungen zu vertreiben und neue zu schaffen.

Coronaville.

Cava öffnete den Wagen mit der Fernbedienung an seinem Schlüsselring und ging vor dem Verkäufer her zum Fahrzeug. Während er den Inhalt des Handschuhfachs in seinem Aktenkoffer verstaute, gab er sich Mühe, nicht auf den Geruch der Ledersitze, das futuristisch ausgestattete Armaturenbrett und den Schaltknüppel aus Edelstahl zu achten. Dann griff er über den Beifahrersitz und leerte die Mittelkonsole. Dabei beeilte er sich, so gut er konnte, denn seine Hände zitterten inzwischen derart, dass er vermutlich wie ein Betrunkener wirkte. Als er fertig war, ließ er den Blick noch einmal durch den Innenraum schweifen und entdeckte seine Ray-Ban am Sonnenschutz. Er setzte die Sonnenbrille auf, trat zurück und reichte dem Verkäufer den Schlüsselring.

Es war wie eine Beerdigung, zusehen zu müssen, wie der kleine Mann in dem billigen Anzug sich ans Steuer seines Lieblings setzte und den Zündschlüssel umdrehte. Der Motor schnurrte. Cava musste sich der Tatsache stellen, dass seine Tage als Asphaltcowboy vorbei waren.

Lachend drehte der Verkäufer sich zu ihm um. »Hey, die Kiste hat ja noch keine viertausend Kilometer runter. Warum wollen Sie sie eigentlich loswerden?«

Er hatte seinen Wagen als Kiste bezeichnet. Cava biss sich auf die Lippe.

»Mein Arzt hat es mir empfohlen«, erwiderte er. »Bluthochdruck. Ich hatte es satt, dass die Leute mir ständig den Stinkefinger zeigen.«

Der Verkäufer lachte wieder und betrachtete ihn, als hätte er eine Schraube locker. Dann schlug Cava die Fahrertür zu und blickte dem Hummer nach, der ins helle Sonnenlicht hineinfuhr. Als der Wagen um die Hausecke verschwunden war, schulterte er seinen Aktenkoffer und kehrte zurück ins Gebäude. Inzwischen hatte der King seinen nächsten Auftritt und schritt wieder die Treppe hinunter. Sein neues Opfer war ein sechzehnjähriges Mädchen, das neben seinem Vater stand. Die beiden machten einen harmlosen Eindruck, leichte Opfer für einen Abzocker und fasziniert von den Scheinwerfern und Kameras. Cava hatte Mitleid mit ihnen.

Er sah auf die Uhr. Sein neuer fahrbarer Untersatz würde erst in einer Viertelstunde bereitstehen. Als er einen Blick ins Wartezimmer warf und es leer vorfand, schlenderte er zum Sofa vor dem Fernseher, klappte den Aktenkoffer auf und kramte seinen Terminplaner heraus. Er blätterte die Woche durch und überprüfte seine Medikamenteneinnahme, über die er sorgfältig Buch führte, weil er keine andere Wahl hatte. Seit seinem ersten Besuch in der Wüste war er auf diese irakische Version militärischer Verpflegung angewiesen.

Ein Xanax am Morgen und ein Ambien CR am Abend verhindert, dass der kleine Soldat die Wände hochgeht.

Es war eine Diät, an die sich in Kriegsgebieten jeder hielt, da man dort so richtig in der Scheiße steckte und allein auf sich gestellt war. Niemand kannte den Feind, und es gab kein Entrinnen. Nach seiner Versetzung nach Osteuropa war man mit den Tabletten weiter großzügig gewesen, ohne unangenehme Fragen zu stellen. Nur ein Zwinkern, ein Lächeln und ein Schluck Wasser, als Dankeschön für die Mühe, die er sich gab, um ein paar verdammte Wüsten zu retten.

Es war Samstag, der 15. Dezember. Laut Aufzeichnungen in seinem Terminplaner hatte er um sechs Uhr morgens zwei Milligramm Xanax genommen, an die er sich nicht mehr erinnerte. Dazu eine Boniva, eine Dosis pro Monat, um die Knochen zu stärken, wie er es so oft in der Fernsehwerbung gesehen hatte. Wenn er sich an den Plan hielt, würde er mit der nächsten Xanax noch sieben bis acht Stunden warten müssen. Eine Weile betrachtete er seine zitternden Hände. Dann öffnete er eine Seitentasche seines Aktenkoffers und kramte in seinem Medikamentenvorrat. Als er die Dose mit dem Xanax gefunden hatte, schüttete er eine Tablette auf seine Handfläche, steckte sie in den Mund und schluckte sie ohne Wasser.

Manchmal fühlte er sich sofort besser, einfach nur weil er die Tablette genommen hatte. Gelegentlich dauerte es jedoch eine halbe Stunde, bis die Wirkung einsetzte. Er sah sich im Raum um. Im Fernsehen lief CNN. Als er langsam lockerer wurde, fiel ihm Fontaine wieder ein. Nachdem der King ihm den Schlüssel zu seinem SRX gegeben hatte, würde Cava eine Jungfernfahrt nach Beverly Hills unternehmen. Er musste sich mit dem Tagesablauf des Arztes am Wochenende vertraut machen und sich etwas Gutes einfallen lassen, da die Freundin und die beiden Leibwächter der Zielperson offenbar nicht von der Seite wichen. Etwas Leises, das lange unbemerkt bleiben würde. Und was war mit dem Zeugen? Sollte er diese Frage erst einmal auf Eis legen oder sich auf die Suche nach dem Mann machen? Schließlich hatte er jetzt ja ein anderes Auto.

Er warf einen Blick auf den Fernseher. Als er das Foto des Mädchens sah, das er ermordet hatte, schrak er zusammen. CNN berichtete über den Fall, allerdings mit Schwerpunkt auf der ermittelnden Polizistin. Detective Lena Gamble von der Abteilung für Raub und Tötungsdelikte, die im letzten Jahr einen anderen Mord aufgeklärt hatte. Offenbar versuchte sie, den Zeugen aufzuspüren. Jemanden, der der Polizei zwar geholfen, sich jedoch noch nicht gemeldet hatte.

Rasch notierte sich Cava Gambles Namen. Ihr Äußeres faszinierte ihn. Er betrachtete ihr zerzaustes Haar, ihr markantes Gesicht und ihre schlanke Figur. Die Hüften, verborgen unter der Kleidung. Die Aufnahme war nachts mit einem Teleobjektiv gemacht worden, und zwar vor acht Monaten zur Zeit der Waldbrände. Gamble verließ gerade, ein Gewehr in der Hand, einen Tatort. Frische Blutspritzer glänzten an ihren Wangen. Doch es waren ihr entschlossener Gesichtsausdruck und die unergründlichen blaugrauen Augen, die ihn so begeisterten. Als sich der Nachrichtensprecher wieder den aktuellen Ereignissen zuwandte und Fotos von Opfer und Mörder nebeneinander eingeblendet wurden, musterte Cava das verschwommene Bild, das ihn zeigte, und bemerkte, dass er nicht mehr zitterte.

»Der Kerl sieht ja aus wie ein Gespenst!«, rief da eine Frau aus.

Als Cava sich umdrehte, stellte er fest, dass die Frau in einem Sessel neben der Kaffeemaschine und einem Tablett mit Doughnuts saß. Sie war schon älter und gehörte zu dem Typ von Frauen, wie sie, eine Zigarette im Mundwinkel, die einarmigen Banditen in Las Vegas mit Kleingeld fütterten. Er hatte sie gar nicht hereinkommen hören. Sie wandte sich wieder dem Fernseher zu und spähte durch ihre Brille.

»Man kann ihn überhaupt nicht erkennen«, verkündete sie. »Aber ich wette, dass er so hässlich ist wie die Nacht schwarz.«

Cava betrachtete sie prüfend und fing dann zu lachen an. Er fühlte sich wieder prima. Wie neugeboren. Gedankt sei den Wundern der modernen Medizin.

»Da haben Sie ganz Recht, gute Frau. Der Typ sieht bestimmt zum Kotzen aus.«

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