44

Lena musterte Barrera, der am Fenster stand. Er rauchte eine Zigarre und beobachtete, wie die letzten orangefarbenen Sonnenstrahlen über die Gipfel der Hügel im Norden glitten. Im Westen breitete sich bereits vom Meer her Nebel über dem Tal aus.

»Haben Sie alles beisammen?«, fragte er.

»Ich bin bereit.«

Sie waren im Büro des Captains. Das Großraumbüro lag verlassen da. Die Luft knisterte. Cava wartete in einem Vernehmungszimmer auf der anderen Seite des Raums. Nun, sechs Stunden später, kam er allmählich von Wolke sieben herunter. Ein Arzt hatte ihn in seiner Wohnung untersucht und ihm einen Freifahrtschein ausgestellt. Seit einer Stunde saß Cava nun schon allein in dem kleinen Raum, mit Handschellen an einen Stuhl gefesselt und ohne Beschäftigungsmöglichkeit. Vermutlich fiel ihm langsam die Decke auf den Kopf. Genau die richtige Stimmung also.

Barrera drehte sich vom Fenster weg. »Wenn Sie etwas brauchen. Ich bin draußen vor der Tür.«

Lena nickte. Obwohl sie seine Besorgnis zu schätzen wusste, waren sie die Sache schon mindestens zehnmal durchgegangen. Außerdem hatten sie genug Zeit gehabt, Cavas wahre Identität abzuklären, sämtliche Beweismittel zusammenzutragen und sich auf die Vernehmung vorzubereiten.

Sie griff nach den Akten und einem nagelneuen Paar Sportschuhe zum Hineinschlüpfen. Da die Vernehmungszimmer vor knapp fünfzig Jahren gebaut worden waren, gab es hier weder Einwegspiegel noch Beobachtungsräume, weshalb die Befragungen von der Spurensicherung im dritten Stock aufgezeichnet werden mussten. Obwohl Klinger noch durch Abwesenheit glänzte und Polizeichef Logans unheimliches Schweigen andauerte, würde Rhodes den Mitschnitt überwachen und darauf achten, dass sie nicht aus der Chefetage belauscht wurden.

Das Telefon läutete. Barrera hob ab, hörte zu, legte wieder auf und wandte sich an Lena.

»Das war Rhodes«, verkündete er. »Sie sind fertig. Das Band läuft.«

Lena sah ihn an und machte sich dann auf den Weg zum Vernehmungszimmer. Als sie die Tür öffnete, schaute Cava, der auf einem Stuhl an der rückwärtigen Wand saß, auf.

»Möchten Sie einen Kaffee, Doktor?«

Er starrte sie überrascht an. »Zucker, aber keine Sahne«, erwiderte er mit ruhiger Stimme.

Lena legte ihre Utensilien auf den Tisch, schenkte an der Arbeitsfläche neben dem Faxgerät zwei Tassen ein, gab Zucker dazu und kehrte ins Vernehmungszimmer zurück. Nachdem sie die Tür geschlossen und sich gesetzt hatte, spürte sie Cavas Blick auf sich. Er wirkte auf sie so träge wie eine Katze. Lena zog ihr Mobiltelefon aus der Tasche und klappte es auf. Als der Bildschirm aufleuchtete, steckte sie es wieder ein. Cava betrachtete seinen Kaffeebecher auf dem Tisch. Lena beobachtete, wie er ihn anhob. Seine Hände zitterten, und ihm schien klar, dass ihr das aufgefallen war.

»Wo sind meine Medikamente?«, erkundigte er sich. »Und was ist aus meinen Schuhen geworden?«

Sie reichte ihm die Turnschuhe über den Tisch. »Die müssten passen. Größe vierundvierzig.«

Cava griff nach den Schuhen, nahm sie in Augenschein und stellte fest, dass die Schnürsenkel fehlten. »Haben Sie Angst, ich könnte mich aufhängen?«

Sie zuckte mit den Achseln, was ihn offenbar verärgerte.

»Die, die Sie mir weggenommen haben, waren von Bruno Magli und haben vierhundert Dollar gekostet.«

»Die hier nur dreiundzwanzig«, entgegnete sie.

Cava schüttelte den Kopf, ließ die Turnschuhe auf den Boden fallen und streifte sie über seine Socken. Lena nützte die Zeit, um die Akten aufzuklappen und sie auf dem Tisch auszubreiten. Während sie sie zurechtrückte, klapperte er mit den Handschellen.

»Offenbar denken Sie, dass ich nicht weiß, was Sie da treiben«, sagte er.

Lena musterte ihn nur schweigend.

»Sie meinen wohl, ich hätte noch nie auf Ihrem Stuhl gesessen und dieses Spielchen gespielt? Glauben Sie allen Ernstes, dass ich mit Ihnen reden werde? Halten Sie mich für so blöd?«

Er war nervös. Das merkte sie ihm deutlich an. Außerdem war er am Ende. Er hatte glasige Augen, durch die sie die Schäden in seinem Inneren sehen konnte wie durch die Fenster eines ausgeschlachteten Hauses.

»Wie haben Sie mich gefunden?«, fragte er.

Lena ging nicht darauf ein, sondern starrte ihn nur an. »Sie sind kein echter Arzt, richtig?«

»Was soll das?«

»Gut, Sie haben Medizin studiert, Cava. Aber Sie wären beinahe durch die Abschlussprüfung gerasselt. Sie haben nie in einem Krankenhaus gearbeitet oder überhaupt Patienten behandelt. Sie sind ein Verlierer, Cava. Außerdem kenne ich Ihre Akte von der Armee. Sie sind ja nicht einmal ein richtiger Spion, sondern nur eine Art Ersatznummer. Die Armee hat Sie bloß ins medizinische Korps aufgenommen, weil es sonst keine Bewerber gab und sie dringend Leute brauchten. Als ihnen die guten Mitarbeiter ausgegangen sind, haben sie auf Sie zurückgegriffen. Ein Blick genügte, um zu wissen, dass Sie ihnen die Drecksarbeit abnehmen würden.«

Cava lachte auf. »Guter Versuch, war aber trotzdem ein Schuss in den Ofen. Ganz gleich, wie fertig ich auch sein mag, mich werden Sie nicht brechen. Niemals, Fotze. Ich werde als freier Mann hier rausspazieren. Sie werden schon sehen.«

»Sie sind doch zu erledigt, um einen Fuß vor den anderen zu setzen, Cava. Sie werfen zu viele Drogen ein, die Ihnen das Hirn vernebeln, bis Sie nur noch sehen, was Sie sehen wollen.«

»Ich habe gute Beziehungen und werde in diesen bescheuerten Schuhen hier rausgehen. Wenn ich im Paradies angekommen bin, schreibe ich Ihnen vielleicht eine Postkarte.«

Lena schob ihren Kaffee beiseite. Sie brauchte ihn nicht.

»Nur dass Sie nicht im Paradies leben, Cava, sondern in einer Welt, in der es jeden Tag bewölkt ist. Ich habe mir Ihre Tablettensammlung angeschaut. Sie brauchen für alles, was sie tagtäglich so tun, ein eigenes Medikament. Sie schlucken eine Tablette zum Aufstehen und eine zum Einschlafen. Ohne Ihre Medikamente können Sie weder essen noch pinkeln, einen hochkriegen oder Ihren dämlichen iPod einschalten. Sie nehmen sogar etwas, weil Sie es nicht schaffen, mit den Augen zu blinzeln. Sie sind ein Parasit. Ein Mitläufer. Ein Aasgeier, der andere Menschen ausnutzt. Aus jeder Situation versuchen Sie, das Beste für sich herauszuholen. Sie manipulieren ihre Zeitgenossen und beuten sie aus. Anstatt Dinge zu reparieren, zerstören Sie sie. Das erkenne ich an Ihren Augen, Cava. An Ihren gottverdammten stumpfen Augen. Sie stehen darauf. Töten macht Sie scharf.«

Offenbar überwältigt von ihrem Wortschwall, lehnte Cava sich zurück. »Das ist nicht wahr. Und jetzt verraten Sie mir, wie Sie mich gefunden haben.«

Erneut ging Lena nicht auf die Frage ein. Nun war der Zeitpunkt gekommen, den Mörder auf die Straße der Erinnerungen zu begleiten. Sie blätterte die Fotos durch, die sie mit Barrera und Rhodes ausgewählt hatte, und legte sie nacheinander auf den Tisch. Als Erstes kamen die Aufnahmen, die den sichergestellten Taser und das Cock-a-doodle-do zeigten.

»Sie brauchen gar nichts zu sagen«, begann sie. »Machen Sie es sich einfach bequem.«

»Sie können mich mal kreuzweise.«

Danach folgten die Fotos von dem Tatort in der Garage in der Barton Avenue und Bilder des Fundorts in der Seitengasse hinter dem Lokal Tiny’s, einen halben Häuserblock vom Hollywood Boulevard entfernt. Und zu guter Letzt waren die Fotos von Jennifer Bloom an der Reihe, in einen Müllsack gestopft und mit toten Augen in die Kamera starrend. Alles war sorgfältig dokumentiert. Der improvisierte Operationstisch und die Eimer mit dem Blut des Opfers.

»Wir wissen, dass Sie fünfmal mit dem Taser auf sie geschossen haben. Zweimal auf dem Parkplatz und dann noch dreimal in der gemieteten Garage. Außerdem wissen wir, dass Sie sie ausbluten ließen, sie zerstückelt und ihre Leiche dann in Hollywood weggeworfen haben.«

»Das hätte doch jeder tun können.«

»Wie ich schon sagte, Cava, sind Sie ein Verlierer. Sie waren schlampig. Sie stecken bis über beide Ohren drin in der Sache.«

Lena legte noch zwei Schnappschüsse auf den Tisch. Der erste war in Cavas Wohnung bei seiner Verhaftung entstanden. Es handelte sich um eine Nahaufnahme der Schuhe mit der in den rechten Absatz eingegrabenen Schraube, die er während der Tat getragen hatte. Das zweite Foto stellte den von der Spurensicherung entdeckten Fußabdruck in der Garage dar. Die Übereinstimmung war unverkennbar. Doch Lena hatte noch weitere Fotos zu bieten: Joseph Fontaine, zusammengesackt in seinem Schreibtischstuhl und mit einer Kugel im Kopf. Greta Dietrich, zerstückelt und dann ordentlich im Keller eingefroren. Und zu guter Letzt Denny Ramira, preisgekrönter Journalist, neben einer Tüte mit Einkäufen ausgestreckt auf dem Küchenboden und mit einem Bratenthermometer in der Brust. Als ihr Ramiras Hund Freddie einfiel, der tot am Treppengeländer gebaumelt hatte, warf sie das Foto auch noch dazu.

Lange herrschte Schweigen.

Vier Menschen. Vier Morde. Vier Leichen und ein kleiner toter Hund.

Das Ausmaß des Verbrechens ging ihr beim Anblick der schonungslosen Fotos bis ins Mark.

Lena kehrte zu ihrem Stuhl zurück, setzte sich und sah zu, wie Cava die Bilder betrachtete. »Glauben Sie wirklich, dass Sie ungeschoren davonkommen, Cava? Sind Sie so größenwahnsinnig, dass Sie meinen, noch einen Ausweg zu haben? Dass Ihren Freunden eine plausible Erklärung dazu einfällt, damit Sie aus dem Schneider sind? Sie sind als Einziger ersetzbar. Der Einzige, der weder Einfluss noch eine gesellschaftliche Position besitzt. Sicher wissen Sie besser als ich, was passieren wird. Immerhin sind Sie Soldat. Die werden Sie vorschicken und selbst in Deckung bleiben. Schauen Sie sich diese Bilder an. Denken Sie an die Geschichte, die sie erzählen. Was werden die Geschworenen wohl dazu sagen?«

Seine stumpfen blauen Augen glitten über die Fotos. Dann hob er den Kopf und starrte Lena an.

»Die Frage ist nicht, wie lange Sie im Knast landen«, fuhr sie fort. »Es sind eher die Umstände, um die Sie sich Sorgen machen sollten. Für Sie wird man sich nämlich etwas ganz Besonderes einfallen lassen.«

Cava starrte noch immer mit blutunterlaufenen Augen auf die Fotos. Er war erbleicht, und der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Als er antwortete, war seine Stimme so heiser, dass Lena ihn kaum hören konnte.

»Sie verstehen etwas von Ihrem Geschäft«, sagte er. »Und jetzt verraten Sie mir, was Sie wollen.«

»Den Mann, der die Schecks ausschreibt. Dean Tremell und alle anderen, die an der Sache beteiligt sind.«

»Und was bekomme ich dafür?«

»War ich bis jetzt ehrlich zu Ihnen?«

»Ja«, erwiderte er. »Ich halte Sie für einen ehrlichen Menschen. Sind Sie befugt, eine Abmachung mit mir zu treffen?«

»Alles wurde genehmigt.«

»Was bekomme ich?«

»Lebenslängliche Haft ohne die Möglichkeit einer Begnadigung. In einer Bundesstrafanstalt Ihrer Wahl innerhalb der Vereinigten Staaten. Eine Garantie vom Gouverneur des Staates Kalifornien, dass Sie ärztlich versorgt werden und alle Medikamente erhalten, die Sie verlangen.«

»Klingt paradiesisch«, erwiderte er.

»Jedenfalls besser, als sich ein Bettlaken um den Hals zu wickeln und in einem Grab zu landen.«

Er hielt kurz inne, betrachtete noch einmal die Fotos und dachte über ihr Angebot nach. Sein Blick blieb an dem Bild von Ramira hängen. Dann nahm er das Foto des Hundes von dem Haufen und musterte es lange Zeit. Die meisten Geschworenen waren Hundefreunde.

»Ich muss mir das durch den Kopf gehen lassen«, erwiderte er schließlich.

Lena nickte. »Heute Nacht verbringen Sie in einer Einzelzelle im Zentralgefängnis für Männer. Dort können Sie in Ruhe überlegen, und morgen Früh reden wir weiter. Bis dahin gilt das Angebot.«

Lena sammelte die Fotos ein und verstaute sie wieder in der Akte. Als sie sich zum Gehen anschickte, versuchte Cava es ein drittes Mal.

»Ich habe mich zwar nicht versteckt«, begann er, »aber irgendwo mussten Sie doch mit der Suche anfangen. Wie haben Sie mich gefunden?«

Sie wandte sich von der Tür ab, sah ihn an und dachte an Denny Ramira und die Ermittlungen, die ihn das Leben gekostet hatten.

»Wir reden morgen weiter«, wiederholte sie.

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