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Rhodes griff nach dem Telefon und überprüfte das Tastenfeld.
»Digital«, verkündete er. »Offenbar sechs Nachrichten.« Lena rückte näher heran, um besser mithören zu können, als Rhodes den richtigen Knopf suchte und auf Play drückte. Abgesehen von den unterschiedlichen Stimmen glichen sich die fünf Nachrichten wie ein Ei dem anderen. Außer Jim Dolson aus Cincinnati hatten noch drei weitere Männer von auswärts angerufen, die in diversen Hotels in der Westside wohnten. Der Vierte gab an, er befände sich auf einer Urlaubsreise mit seiner Frau, und fragte an, ob McBride einem flotten Dreier nicht abgeneigt sei. Sogar eine Frau hatte sich gemeldet, die wissen wollte, ob McBride vielleicht bisexuell sei.
Alle sechs Anrufe bezogen sich auf die Anzeige des Opfers in der aktuellen Ausgabe der L.A. Weekly. Laut Zeitangabe waren sie eingegangen, nachdem McBrides Leiche in Hollywood aufgefunden worden war.
Lena holte die L.A. Weekly vom Flurtisch und kehrte rasch ins Schlafzimmer zurück. Sie setzte sich neben Rhodes, blätterte den letzten Teil der Zeitung durch und überflog die schätzungsweise Hunderte von Anzeigen, die Begleitservice, Telefonsex und Massagen anboten. McBrides Annonce befand sich in der Mitte der zweiten Seite.
Massagetherapie. Scharfe junge Blondine mit magischen Händen und tollem Körper sucht Männer, die sich von ihr verzaubern lassen wollen. Die pure Wollust findet ihr hei Jennifer unter der Nummer…
Lena las die Anzeige noch einmal, klappte ihr Mobiltelefon auf und wählte die in der Zeitung angegebene Nummer. Als McBrides Telefon auf dem Nachttisch läutete, beendete sie den Anruf nicht, obwohl sie nun ihre Bestätigung hatte. Stattdessen wartete sie, bis der Anrufbeantworter ansprang, um die Ansage abzuhören. Es handelte sich nicht um die Computerstimme, die mit dem Telefon mitgeliefert wurde, sondern um Jennifers eigene. Lena wollte sie hören und sie auf sich wirken lassen. Die Stimme des Opfers vor seiner Ermordung.
Lena spürte, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten. Ein eiskalter Schauder lief ihr den Rücken hinunter. Es war eine einfache Nachricht, die unverblümt direkt auf den Punkt kam. McBride begrüßte den Anrufer, indem sie ihre Telefonnummer, nicht jedoch ihren Namen nannte, und versprach, jeden zurückzurufen, der seine Kontaktdaten hinterließ. Die Ansage endete mit einem schlichten Vielen Dank.
Nach einer Weile klappte Lena ihr Mobiltelefon zu. Nun hatte sich McBrides Stimme in ihr Gedächtnis eingebrannt und war ein Teil von ihr geworden.
»Jones meinte doch, er habe sie nie in Begleitung gesehen«, sagte sie. »Und ich wette, dass er sich ständig an diesem Fenster herumdrückt.«
»Sie hat ihre Kunden nicht hierhergebracht, sondern sie besucht«, erwiderte Rhodes. »Also muss sie irgendwo ihre Ausrüstung haben.«
»Ich habe in der Wohnung nichts gefunden.«
»Weil wir nicht danach gesucht haben«, antwortete er. »Falls sie die Tasche mit den Sachen nicht dabeihatte, ist sie sicher noch hier.«
Sie sahen unter dem Bett und hinter dem Wäschekorb im Schlafzimmerschrank nach. Zehn Minuten später waren sie am Ziel. Im Flurschrank neben der Eingangstür stand eine kleine schwarze Reisetasche. Rhodes brachte sie zum Couchtisch im Wohnzimmer, zog den Reißverschluss auf und kippte den Inhalt aus.
Als Lena sich auf den Boden kniete und die Dessous durchschaute, fiel ihr das kleine eintätowierte Herz zwischen McBrides rasierter Vagina und dem Ende ihrer Bikinizone ein. Sie zählte drei durchsichtige Negliges im Baby-Doll-Stil mit passenden Tangas, eine Reihe Push-up-BHs, einen Morgenmantel aus durchscheinendem Material und ein schwarzes Höschen. Außerdem entdeckte sie noch etwas, und zwar einen weißen Rock mit passendem Oberteil. Lena hielt die Bluse hoch, um sie genauer in Augenschein zu nehmen, und musterte den tiefen Ausschnitt und das auf die linke Brusttasche aufgestickte rote Kreuz.
»Sie hat sich kostümiert«, stellte Rhodes fest. »Als Krankenschwester.«
»Sieht ganz so aus.«
Lena griff nach der Reisetasche und hob sie hoch, um ihr Gewicht abzuschätzen. Dann drehte sie die Tasche um, öffnete die erste Außentasche und förderte eine Reihe Duftöle, drei verschiedene Sorten Kondome, einen Vibrator und ein Ersatzpäckchen Batterien zutage.
Dann warf sie einen Blick auf Rhodes, der auf dem Sofa saß und gerade die Hand nach einem auf den Boden gefallenen Kosmetiketui ausstreckte. Als er es öffnete und den Inhalt sah, weiteten sich seine Augen vor Erstaunen.
Es handelte sich um einen Tablettenvorrat.
Rhodes räumte eine Stelle auf dem Tisch frei, schüttelte die Plastikdöschen und las die Aufschrift auf den Etiketten vor, ehe er das jeweilige Döschen wegstellte. Es war eine beeindruckende Liste, die sämtliche Bedürfnisse der Kundschaft abdeckte. Viagra und Cialis waren ebenso dabei wie große Mengen von Xanax, Valium, Vicodin und Oxycodon.
»Sie muss gute Beziehungen gehabt haben«, merkte Rhodes an.
Lena betrachtete die Aufkleber, auf denen weder Jennifer McBrides Name noch der der Apotheke stand, und ließ den Anzeigentext des Opfers noch einmal Revue passieren.
Scharfe junge Blondine mit magischen Händen und tollem Körper sucht Männer, die sich von ihr verzaubern lassen wollen. Die pure Wollust findet ihr bei Jennifer unter der Nummer …
Das Wort »verzaubern« schien eine neue Bedeutung zu gewinnen, und zwar eine bedrohlichere. Sie musterte die Dessous, das Kostüm und die Kondome, die verstreut auf dem Tisch lagen, und erinnerte sich an das Nabelpiercing, das Madina bei der Autopsie entfernt hatte. Jennifer McBride war nicht nur Masseurin gewesen. Als Lena länger darüber nachdachte, wurde ihr klar, dass die scheinbare Unschuld der jungen Frau in ihrem Geschäft von Vorteil gewesen war, den sie vermutlich auch einzusetzen gewusst hatte.
Lena blickte zu Rhodes hinüber, der offenbar in Gedanken versunken war. Seine Miene wirkte besorgt. Sie fragte sich, ob er wieder über seine Schwester nachgrübelte.
»Was ist?«, fragte sie.
»Ich habe mir nur gerade die Reaktion des Polizeichefs vorgestellt.«
»Du meinst, wegen McBrides Beruf?«
»Ja. Du kennst doch den Chef und Klinger. Wer nach außen hin eine so weiße Weste zur Schau trägt, muss Dreck am Stecken haben. Wer interessiert sich schon für eine drogenabhängige Nutte?«
»Du und ich«, erwiderte sie leise.
»Du und ich«, wiederholte er, noch immer nachdenklich. Er stand auf, ging zum Fenster, spähte hinaus und kratzte sich dabei am Hals. »Der Kerl hockt immer noch am Fenster«, stellte er fest, »und wartet darauf, dass McBride nach Hause kommt.«
»Jetzt wissen wir ja, warum. Vermutlich hat sie mitgekriegt, dass er zu ihr rüberglotzt, und sich einen Spaß daraus gemacht, ihm einzuheizen.«
Rhodes drehte sich zu Lena um und lehnte sich ans Fensterbrett. »Es gab da vor einigen Jahren einen Fall in Atlantic City«, begann er. »Vier Prostituierte wurden vergewaltigt und erdrosselt. Man fand sie in einem Straßengraben. Ich erinnere mich noch wegen der merkwürdigen Umstände daran. Die Leichen waren voll bekleidet in Reih und Glied abgelegt worden. Doch ihre Köpfe zeigten nach Osten, und man hatte ihnen die Schuhe ausgezogen. Das fällt mir deshalb ein, weil damals noch ein weiterer Mordfall Schlagzeilen machte, allerdings nicht hier in den Staaten, sondern in einer Kleinstadt in der Nähe von London. Dort waren es fünf Prostituierte, deren Leichen in einem Zeitraum von zehn Tagen gefunden wurden.«
Lena ahnte, worauf Rhodes hinauswollte. Sie hatte die Berichte über beide Fälle gelesen, da der Artikel während einer Suche per Google auf ihrem Bildschirm gelandet war. Die Meldung war in der New York Times erschienen, die ihre Archive seit kurzer Zeit kostenlos der Öffentlichkeit zugänglich machte. Nach dem gewaltsamen Abschluss ihres letzten Falls hatte Lena angefangen, alte Verbrechen zu recherchieren, um den Mann, den sie gejagt und getötet hatte, besser zu verstehen. Es war Teil ihres Heilungsprozesses gewesen, eine Auseinandersetzung mit dem, was man empfand, wenn man einem anderen Menschen das Leben genommen hatte. Der Artikel in der New York Times hatte die beiden von Rhodes erwähnten Morde miteinander verglichen.
»In Großbritannien«, sagte sie, »hat die Polizei die Bevölkerung um Mithilfe gebeten.«
»Stimmt. Sie haben Plakate in allen Fußballstadien aufgehängt und die Straßen mit Flugblättern zugepflastert. Selbst der Premierminister hat den Familien der Opfer sein Beileid ausgesprochen. Womit diese Frauen ihren Lebensunterhalt verdient hatten, spielte keine Rolle. Die Öffentlichkeit hat sich zusammengeschlossen, weil die Opfer aus ihrem Viertel stammten und Unterstützung brauchten. Alles andere interessierte nicht.«
»Das habe ich gelesen«, erwiderte Lena. »Der Fall wurde aufgeklärt. Sie haben den Kerl gekriegt.«
»Nächsten Monat kommt er vor Gericht. In New Jersey hingegen können sie noch nicht einmal mit einem Verdächtigen aufwarten, weil sich die Leute in der Chefetage einen Dreck darum kümmern. Die Berichte aus der Vermisstenabteilung wurden nicht ausgewertet, und man hat sogar verboten, dass Detectives von der Sitte die Gegend abklapperten. Man hat sie daran gehindert, ihre Arbeit zu tun. Schließlich waren die Opfer ja nur Nutten, richtig? Huren von der Straße, die Drogen nahmen. Wusstest du, dass alle vier Opfer Mütter waren und kleine Kinder zurückließen?«
Lena nickte.
»Nun, sonst war es offenbar niemandem bekannt«, fuhr Rhodes fort. »Und zwar, weil es nicht veröffentlicht wurde. Den Detectives waren die Hände gebunden. Wer ein unmoralisches Leben führt, muss eben mit so etwas rechnen. Wahrscheinlich hatten es die Opfer nicht besser verdient, richtig? Und selbst wenn nicht, können die anständigen Bürger froh sein, dass sie sie los sind, auch wenn der Täter sich noch irgendwo da draußen herumtreibt. Uns liegt doch nur etwas an unseren grünen Vorgärten und daran, dass wir genügend Parkplätze für unsere Luxuskarossen haben. Wenn wir nur hübsch stillhalten, verlieren unsere Casinos kein Geld, und es kommen weiter Gäste, die die einarmigen Banditen füttern.«
Rhodes verstummte. Allerdings wusste Lena, warum er so verbittert war. Jane Doe Nr. 99 als unschuldiges Opfer war wichtig gewesen. Aber mit Jennifer McBride, der Nutte, konnte man keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken. Die Nachbarn würden sie abwimmeln, weil niemand in die Sache hineingezogen werden wollte. Da das Opfer ohne Bedeutung war, würden die Leute die Ermittlungen nur als lästige Störung ihres mit wichtigen Erledigungen vollgestopften Alltags betrachten. Noch schlimmer war, dass der Polizeichef die Liste ungeklärter Fälle noch einmal durcharbeiten und feststellen könnte, dass die Mordrate die Fünfhundertermarke erreicht hatte. Und das bedeutete wiederum, dass er die Mittel womöglich neu verteilen und das Geld anderweitig verwenden würde. Der Fall würde irgendwo in den dunklen Kanälen der Verwaltung verschwinden, auf Eis gelegt werden und irgendwann in Vergessenheit geraten.
Lenas Herz klopfte heftig. Die Vorstellung, dass Jennifer McBrides Leben für die hohen Herren in der Chefetage des Parker Center vielleicht nicht zählte, machte sie zornig.
Wieder klingelte das Telefon. Nach zweimaligem Läuten sprang der Anrufbeantworter an. Dreißig Sekunden später hallte eine weitere verhaltene Stimme durch das Schlafzimmer, ein anderer potenzieller Kunde, der McBrides Anzeige gelesen hatte und sich schon darauf freute, von ihr verzaubert zu werden. Ein zahlungswilliger Mann, der nicht ahnte, dass das Objekt seiner Phantasie – die scharfe junge Blondine mit den magischen Händen und dem tollen Körper – schon seit zwei Tagen tot war und in einem Plastiksack im Leichenschauhaus lag.
Endlich endete der Anruf, und es senkte sich erneut Stille über das Zimmer. Auch die Wut kehrte zurück. Als Lena die Beweisstücke noch einmal betrachtete, wurde ihr klar, dass sie in einem Zug saßen, ohne im Besitz einer gültigen Fahrkarte zu sein, und weiter in die Dunkelheit hineinrasten. Sie sah Rhodes an, der seinerseits die auf dem Couchtisch aufgereihten Tablettendöschen anstarrte. Nach einer Weile wurde sein Blick klarer, und er kehrte zurück ins Schlafzimmer.
Als Lena ihm folgte, saß er auf dem Bett neben dem Telefon. Er hatte den Hörer in der Hand und musterte die LED-Anzeige.
»Findest du es nicht seltsam, dass sie nur dieses eine Telefon hatte?«, fragte er.
Lena zuckte die Achseln. »Bestimmt besaß sie auch noch ein Mobiltelefon. Wir haben es nur noch nicht entdeckt.«
»Ich meine, hier in der Wohnung. In der ganzen Wohnung gibt es nur ein einziges Telefon.«
»Es ist ein schnurloses, und die Wohnung ist klein.«
Rhodes dachte über ihre Worte nach. »Klingt plausibel. Heute haben wir den 14., stimmt’s?«
»Was hast du vor?«
»Sie muss ihr Adressbuch in der Handtasche gehabt haben. Ich hatte gehofft, dass sie eine Liste von Telefonnummern einprogrammiert hatte, hat sie aber nicht. Als ich mir den Hörer angeschaut habe, ist mir aufgefallen, dass er über eine Rufnummernanzeige verfügt.«
Lena rutschte näher an ihn heran. Rhodes war auf das entsprechende Menü gestoßen und klickte sich nun durch die Liste der Anrufer. Da er von vorne nach hinten vorging, erkannte sie ihre eigene Mobilfunknummer und die der beiden Anrufer, die sich seit ihrer Ankunft gemeldet hatten, anhand von Uhrzeit und Datum. Einige der Nummern weiter unten auf der Liste waren blockiert, die meisten Vorwahlen waren ihr unbekannt. Als Rhode auf die erste Nummer mit dazugehörigem Namen stieß, hielt er inne und erstarrte.
»Was ist?«, fragte Lena.
Er hielt ihr die Anzeige hin, damit sie sie besser sehen konnte. Im nächsten Moment setzte das Brennen in ihrem Magen wieder ein.
Der Anruf hatte nur dreißig Sekunden gedauert, kam aber von einem Arzt. Lena warf einen Blick auf die Vorwahl und prägte sich den Namen ein. Dr. Joseph Fontaine hatte am Mittwoch, dem 12. Dezember, gegen neunzehn Uhr von irgendwo in L.A. angerufen.
»Wir suchen doch einen Chirurgen, richtig, Lena?«
Lena bemerkte ein stählernes Funkeln in Rhodes’ Augen. »Das war in der Mordnacht.«
Rhodes wandte sich wieder dem Hörer zu und klickte sich weiter durch die Liste der Anrufer. Er brauchte nicht lange zu suchen, bis er wieder Fontaines Namen vor sich hatte. Dieser Anruf war um sechzehn Uhr desselben Tages eingegangen und hatte ebenfalls dreißig Sekunden gedauert.
»Er erreicht immer nur den Anrufbeantworter und legt wieder auf«, stellte Rhodes fest. »Er will mit ihr persönlich sprechen, keine Nachricht hinterlassen.«
Lena kramte einen Notizblock aus der Hosentasche, schlug die erste freie Seite auf und schrieb sich den Namen und die Telefonnummer des Arztes auf. Anschließend arbeitete Rhodes die Liste bis zum Ende durch. Von den sechsunddreißig Anrufen, die McBride in diesem Monat erhalten hatte, kamen sieben von Dr. Joseph Fontaine. Dreimal hatte er eingehängt, und zwar an dem Tag, an dem McBride ermordet worden war. Doch die übrigen vier Male, verteilt über einen Zeitraum von zehn Tagen, hatten die beiden jeweils eine knappe Stunde miteinander telefoniert.
Rhodes legte den Hörer in die Ladestation und drehte sich um. Lena spürte seinen Atem auf ihrem Gesicht. Seine Haut strahlte Hitze ab. Sein Blick durchbohrte sie.
»Hast du deinen Computer dabei?«, fragte er.