25

Oberstaatsanwalt Jimmy J. Higgins hastete aus dem Büro des Polizeichefs und eilte den Flur entlang in Richtung Aufzug. Als er an Lena vorbeikam, fixierte er einen unsichtbaren Gegenstand in etwa drei Metern Entfernung und kratzte sich die silbergraue Föhnfrisur. »Miststück«, murmelte er leise.

Lena hielt weder inne noch fragte sie ihn, ob sie richtig verstanden hatte, sondern setzte ihren Weg bis zu der Tür am Ende des Flurs fort.

Als sie eintrat, blickte Klinger auf. Er saß an seinem Schreibtisch und installierte Software auf seinem neuen Laptop. Karton und Verpackungsmaterial lagen auf dem Boden. Er blickte auf die Uhr und wies auf die Tür von Polizeichef Logan.

»Sie sind spät dran«, sagte er.

Lena würdigte ihn keiner Antwort, klopfte an und machte sich auf das Schlimmste gefasst. Dann holte sie tief Luft und trat ein.

»Schließen Sie die Tür«, meinte der Polizeichef.

Lena befolgte die Anweisung. Als sie sich umdrehte, stellte sie fest, dass Lieutenant Barrera am Fensterbrett lehnte. Er schüttelte fast unmerklich den Kopf. Er war ihr Verbündeter, versuchte allerdings, sie zu warnen. Ruhe bewahren. Dicke Luft.

Polizeichef Logan räusperte sich. »Sind Sie draußen dem Oberstaatsanwalt begegnet?«

»Ja, Sir.«

»Hat er mit Ihnen gesprochen?«

»Er hat mich als Miststück bezeichnet.«

Eine Sekunde verging. Ihre Antwort war ganz sachlich ausgefallen. Der Polizeichef, der hinter seinem überdimensionierten Schreibtisch thronte, zuckte mit den Achseln.

»Der Mann ist stinksauer«, entgegnete er. »So wie viele andere Leute auch. Willkommen in der Wirklichkeit, Gamble. Setzen Sie sich.«

Er musterte sie forschend aus dunklen Augen. Als sie auf ihren Stuhl zuging, bemerkte sie an der Wand neben seinen Orden aus dem Vietnamkrieg ein M21-Sturmgewehr in einer Glasvitrine. Auch einige Schwarzweißfotos waren zu sehen. Auf einem davon saß der Polizeichef neben einem fünfzigkalibrigen Maschinengewehr von Browning irgendwo im Dschungel. Sie erinnerte sich, nach seinem Bewerbungsgespräch vor der Kommission in der Times etwas über seinen Kriegseinsatz gelesen zu haben. Er war der Erste gewesen, der eine fünfzigkalibrige Waffe als Scharfschütze benutzt hatte, und konnte die zweitbeste verzeichnete Treffweite während des gesamten Krieges vorweisen. Lena hatte die genaue Entfernung vergessen, glaubte aber, dass es über zweitausend Meter gewesen waren.

»Warum, denken Sie, ist der Oberstaatsanwalt wohl stinksauer, Gamble?«

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Polizeichef zu und dachte über seine Frage nach. Am liebsten hätte sie geantwortet, der Grund liege wohl darin, dass Jimmy J. Higgins an Größenwahn litte, dass ihm sein wichtiger Posten zu Kopfe gestiegen sei und dass er für einen Wahlerfolg oder eine gute Schlagzeile alles sagen oder tun würde. Dass er es genösse, eine Limousine mit Chauffeur zu haben und in Prominentenkreisen zu verkehren. Dass er in seinem Wahlkampf versprochen habe, der gefährlichen Praxis, Statistiken über gewonnene und verlorene Prozesse zu führen, ein Ende zu machen, wie es bereits in vielen anderen Städten üblich war. Dann jedoch habe er dieses Versprechen gebrochen, obwohl er beteuert hatte, er werde sich ohne Rücksicht auf das Ergebnis einer Verhandlung an Recht und Gesetz halten.

In Wahrheit jedoch wusste Lena sehr wohl, warum Higgins sie ein Miststück genannt hatte, und zwar sobald ihm das Wort über die Lippen gekommen war. Der Oberstaatsanwalt wurde von der Presse und seinen politischen Gegnern unter Beschuss genommen, weil er einen jungen Fernsehschauspieler, der einen Unfall mit seinem Land Rover gebaut und dabei seine minderjährige Freundin auf dem Beifahrersitz getötet hatte, ungeschoren hatte davonkommen lassen. Dabei hatte der Schauspieler viermal so viel Alkohol im Blut gehabt, als am Steuer erlaubt, und zudem laut Blutprobe auch große Mengen Kokain konsumiert. Die ermittelnden Detectives hatten eine Verurteilung wegen schwerer Gefährdung des Straßenverkehrs und fahrlässiger Tötung gefordert, worauf zehn Jahre Gefängnis standen. Stattdessen jedoch durfte sich der junge Mann in einer Entzugsklinik auskurieren. Das war nun schon der zweite Zwischenfall innerhalb der letzten beiden Monate, bei dem ein Prominenter betrunken ein Fahrzeug gelenkt und dadurch den Tod eines Unschuldigen verursacht hatte. Jimmy J. Higgins hatte zum zweiten Mal beide Augen zugedrückt, weil er unter den Reichen und Berühmten so viele Freunde hatte.

Also hätte Lena eine ganze Menge Antworten auf diese Frage gewusst. Doch als der Polizeichef sie wiederholte und sich erneut erkundigte, woher die schlechte Laune des Staatsanwalts wohl käme, erwiderte sie nur: »Weil Dean Tremell für seinen Wahlkampf gespendet hat, und es bei seinem Sohn die dritte Straftat wäre.«

Der massige Körper der Polizeichefs erstarrte. Offenbar hatte sie einen wunden Punkt getroffen, und sie merkte ihm an, wie es in ihm arbeitete. Allerdings hatte sie nur ausgesprochen, was allgemein bekannt war. Dean Tremell nutzte seinen politischen Einfluss, um sein verkommenes Söhnchen zu schützen. Und der Staatsanwalt steckte in der Klemme.

»Wann kommt Stan Rhodes zurück?«, fragte der Polizeichef schließlich.

»Morgen.«

»Hat sich einer von Ihnen die Mühe gemacht herauszufinden, wer Dean Tremell ist?«

»Der Name seines Sohnes ist am Samstagnachmittag gefallen«, entgegnete sie. »Gestern haben wir den Tatort gefunden. Heute kam die Bestätigung.«

»Ich verstehe, dass Sie sehr beschäftigt waren. Das ist aber noch lange kein Grund, um Mist zu bauen.«

Lena warf einen Blick auf Barrera, der weiterhin am Fenster stand. Der Polizeichef beugte sich über den Schreibtisch.

»Hören Sie auf, Ihren Vorgesetzten anzusehen, Detective. Der kann Ihnen jetzt auch nicht helfen.«

Sie drehte sich wieder zu dem Polizeichef um, der sie mit finsterer Miene betrachtete. »Ja, Sir.«

»Schon besser«, meinte er. »Sie haben Mist gebaut und Ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Und jetzt muss ich den Karren für Sie aus dem Dreck ziehen. Anders Dahl Pharma hat in dieser Stadt Tausende von Arbeitsplätzen geschaffen. In diesem Unternehmen sind mehr Angestellte in Vollzeit beschäftigt als in beiden großen Filmstudios zusammen. Die Firma ist wichtig für die Wirtschaft unserer Stadt. Sie haben Recht. Dean Tremell gehört zu den größten Spendern im Wahlkampf des Staatsanwalts. Doch wenn Sie sich die Zeit genommen hätten, sich richtig zu informieren, wüssten Sie auch, dass alle Mitglieder des Stadtrats ebenfalls Spenden von ihm erhalten haben. Es geht ums Geschäft, Gamble. Und er ist ein einflussreicher Mann, der etwas in Bewegung setzen kann. Verstehen Sie, was ich damit sagen will? So ein Mann zählt.«

Lena schwieg und ließ die Worte auf sich wirken. Aber es wollte ihr einfach nicht in den Kopf. Das ganze roch nach Korruption.

»Haben Sie ein Problem damit, Gamble?«

»Ich dachte immer, jeder Mensch zählt«, entgegnete sie.

»Verschonen Sie mich mit diesem Unsinn. Dieser Mann verdient Ihren Respekt. Und das Gleiche gilt auch für mich.«

Endlich wandte der Polizeichef den Blick von ihr ab und lehnte sich zurück. Lena ahnte, worauf er mit diesem Gespräch hinauswollte: Es war in ihrem besten Interesse, wenn sie den Mund hielt und die Schläge wegsteckte, falls sie die Sache unbeschadet überstehen wollte. Vermutlich hätte sie der Vernunft auch gehorcht, wenn ihr nicht etwas am Telefon des Polizeichefs aufgefallen wäre. Das Lämpchen der Gegensprechanlage leuchtete. Klinger hörte mit. Dieser Perverse, der eine Kamera in ihrem Badezimmer installiert und sich gerade einen neuen Laptop gekauft hatte, lauschte, während sie sich vom Polizeichef die Leviten lesen lassen musste.

»Hier geht es nicht um Dean Tremell«, erwiderte sie deshalb, »sondern um seinen Sohn. Er war der Letzte, der das Opfer vor dem Mord lebend gesehen hat.«

»Sie haben mich wohl nicht richtig verstanden«, zischte der Polizeichef. »Offenbar können Sie mir geistig nicht folgen.«

»Justin Tremell hat gelogen und behauptet, er wäre nicht dort gewesen. Das macht ihn höchst verdächtig.«

»Was haben Sie vor, Gamble? Mir mit Ihrem Gutmenschentum die Ohren volllabern? Ich sehe die Dinge anders als Sie, Gamble. Sie hätten mit mir Rücksprache halten müssen, bevor Sie am Samstag dort hineingestürmt sind. Außerdem sollten Sie mehr vorzuweisen haben als die Aussage einer Teilzeitprostituierten, die in einem Puff irgendwo an einem gottverdammten Freeway anschafft. Schließlich ermitteln wir hier nicht wegen Alkohols am Steuer, sondern wegen Mordes. Was, wenn Sie sich geirrt haben? Was, wenn Ihr bescheuerter Freund von der Times diesen Dreck in seiner Zeitung bringt? Dann haben Sie möglicherweise Justin Tremells Leben ruiniert. Die Geschichte würde ihn für den Rest seiner Tage verfolgen. Null plus null ergibt null, Gamble. Wir sind hier bei der Polizei von Los Angeles und halten uns an Beweise, nicht an Hoffnungen oder Luftschlösser. Empirische Beweise. Belegbare Beweise. Man spaziert nicht einfach unvorbereitet bei anderen Leuten herein und versucht sein Glück. Sie sind eine gottverdammte Schande für die Polizei und sollten sich schämen.«

Lena versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, und setzte eine reglose Miene auf. Sie erinnerte sich an Ramiras Worte vor einer knappen Woche, als der Reporter ihr ins Blackbird Café gefolgt war. In deiner Branche wird mit harten Bandagen gekämpft, hatte er gesagt. Du brauchst Verbündete. Alle wissen, dass du beim Polizeichef und seinem selbstgerechten Pfadfinderclub nicht gut angeschrieben bist. Es geht um deinen letzten Fall. Du hattest Recht und er Unrecht, und alles ist an die Öffentlichkeit gekommen. Ich weiß, dass du ihn nicht bloßstellen wolltest, aber du hast es nun mal getan. Die Sache läuft darauf hinaus, dass er dich weder versetzen lassen noch loswerden kann, so gerne er das auch möchte. Ihm sind die Hände gebunden. Er kann dich nicht feuern. Allerdings wette ich, dass er darüber nachdenkt. Die ganze Stadt würde ich darauf verwetten. Und deshalb brauchst du Freunde. Du bist in einer gefährlichen Branche, Lena. Und es hat sich schon so mancher das Genick gebrochen.

Der Polizeichef schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. »Sind Sie noch da, Gamble? Oder träumen Sie schon wieder, statt zuzuhören?«

»Ich höre.«

Lena versuchte, sich zusammenzunehmen. Ihre Stimme zitterte und drohte umzukippen. Plötzlich fühlte sie sich wie frisch von der Polizeiakademie. Als sie länger darüber nachdachte, konnte sie nicht fassen, wie leicht es dem Polizeichef gefallen war, ihre jahrelange Berufserfahrung mit Füßen zu treten und sie zu verunsichern. Außerdem malte sie sich aus, wie Klinger an seinem Schreibtisch saß und sich an ihrem Untergang weidete. Sie erinnerte sich an Barreras ersten Anruf am Donnerstagnachmittag. Er hatte gesagt, Polizeichef Logan habe eigens verlangt, dass sie in dem Fall ermittelte. Nun kannte sie den Grund. Inzwischen lag auf der Hand, weshalb man ihr Haus verkabelt und verwanzt hatte. Der Grund war nicht nur, sie im Auge zu behalten. Ramira hatte Recht gehabt. Man wollte sie ablenken und demoralisieren. Diese Leute lauerten regelrecht darauf, dass sie einen Fehler machte, damit sie endlich aufgab und ihren Hut nahm.

Und wenn sie sich weigerte?

Dann waren Ramiras Warnungen möglicherweise wörtlicher zu nehmen, als sie anfangs gedacht hatte. Sie war in einer gefährlichen Branche. Und es hatte sich schon so mancher das Genick gebrochen.

Ihr Blick wanderte zu den Fotos an der Wand. Der Polizeichef mit seinem Maschinengewehr in Vietnam. Die Statistik fiel ihr ein, und sie spürte, wie ihr der Schweiß auf die Stirn trat. Alle zwei Tage kam in diesem Land ein Polizist im Dienst ums Leben. Falls ein Polizist einen Kollegen loswerden wollte und ihm nichts Besseres einfiel, standen ihm, so schrecklich es auch klingen mochte, alle Möglichkeiten offen. Wenn sie sie nicht zur Kündigung zwingen konnten, würden sie vielleicht eine Gelegenheit suchen, um sie …

Das konnte doch nicht wahr sein! An so etwas durfte sie nicht einmal denken.

Der Polizeichef räusperte sich erneut. Seine Augen waren die eines Scharfschützen und hart wie Glas. »Ich habe kein Vertrauen mehr zu Ihnen«, sagte er. »Tut mir leid, Gamble.

Offenbar entwickeln sich die Dinge in die falsche Richtung. Während wir auf Sie gewartet haben, hat Lieutenant Barrera mich über den neuesten Stand der Ermittlungen aufgeklärt. Da gibt es wohl einige Ungereimtheiten. Haben Sie das Auto des Opfers gefunden?«

»Es ist ein schwarzer Toyota Matrix«, entgegnete sie.

Der Polizeichef griff nach einem Stift und studierte dann die Liste auf seinem Notizblock. »Um welchen Wagentyp es sich handelt, weiß ich bereits von Lieutenant Barrera. Meine Frage lautete, ob Sie ihn schon gefunden haben.«

»Noch nicht.«

»Dann wurde er offenbar in der Mordnacht gestohlen.«

»Falls er unterwegs ist und die Kennzeichen nicht ausgetauscht wurden, kriegen wir ihn. Die Fahndung ging raus, sobald wir die Rückmeldung von der Zulassungsstelle hatten.«

»Was ist mit dieser Teilzeitprostituierten, die Sie vernommen haben? Haben Sie die bereits überprüft?«

Lena überlegte kurz. Der Polizeichef tat sein Möglichstes, um ihr Knüppel zwischen die Beine zu werfen, indem er auf Kleinigkeiten herumhackte und ihre Arbeit behinderte.

»Also, Gamble? Schließlich hat die Kleine mit ihrem schmutzigen Finger auf Justin Tremell gezeigt. Vielleicht leidet sie ja an Sozialneid. Haben Sie sie nun überprüft oder nicht?«

»Noch nicht, Sir.«

Der Polizeichef warf einen Blick auf seinen Notizblock, als kenne er die Antworten bereits im Voraus. »Und wie steht es mit dem verschwundenen Zeugen?«

»Der ist weiterhin abgetaucht«, erwiderte sie.

»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«

»Nein, Sir. Ich stelle nur eine Tatsache fest. Der Zeuge hat sich noch nicht gemeldet.«

Endlich hatte Lena ihre Stimme wiedergefunden, und sie klang so ruhig wie ein Wind, der aus Westen weht. Doch in ihr loderte die Wut.

»Wir haben am Samstag ein Foto des Zeugen an die Presse weitergegeben«, fuhr der Polizeichef fort. »Soweit ich informiert bin, hat er an einigen Geldautomaten Geld vom Konto des Opfers abgehoben. Was haben Sie sonst noch unternommen, um ihn aufzuspüren?«

»Sobald wir das Auto des Opfers haben, kommen wir, glaube ich, auch an den Zeugen ran. Immerhin hat er den Schlüssel und den restlichen Inhalt ihrer Handtasche.«

»Soll das alles sein?«

»Nein, Sir. Wir arbeiten auch mit den Banken zusammen.«

»Und was können die besser als wir?«

»Zum Beispiel Hunderte von Geldautomaten überwachen.«

»Haben Sie das Konto etwa nicht sperren lassen, Detective?«

Lena zögerte einen Moment. Der Polizeichef hätte es eigentlich besser wissen müssen, und es wunderte sie, dass er diese Frage überhaupt stellte.

»Nein, Sir«, sagte sie. »Die Einsatzfähigkeit der Karte wurde beschränkt, sodass sie nur noch bei Geldautomaten dieser bestimmten Bank funktioniert. Außerdem wurde das Kartenlimit halbiert. Hinzu kommt, dass der Zugriff auf das Konto ausschließlich während der üblichen Geschäftszeiten möglich ist. Wenn er versucht, die Karte einzusetzen, hat jede Filiale in der Stadt sein Foto und weiß, was zu tun ist.«

»Wer hat das veranlasst? Sie oder die Bank?«

Lena ging nicht auf seinen sarkastischen Unterton ein. Die Entscheidung war gefallen, bevor sie die Bank am Samstag verlassen hatte. Schließlich war Steve Avadar ebenso scharf auf den Zeugen wie sie.

»Es war eine gemeinsame Entscheidung, Sir«, antwortete sie. »Immerhin verfolgen wir dieselben Interessen. Die Bank versucht auch, den Einsatz der Kreditkarte nachzuvollziehen.«

Der Polizeichef musterte sie finster. »Was ist mit dem Arzt in Beverly Hills, diesem Joseph Fontaine?«

»Was soll mit ihm sein?«

»Wie haben Sie es geschafft, den auf die Palme zu bringen?«

Sie wusste nicht, was sie auf diese unsinnige Frage erwidern sollte. Als sie ihr Gegenüber betrachtete, wurde ihr klar, dass ihr Zorn nichts damit zu tun hatte wie er seinen Rang gegen sie ausspielte. Der Mann hatte ebenso wie Klinger etwas zu verbergen. Die ganze Situation fühlte sich unwirklich an.

»Womit haben Sie den Arzt auf die Palme gebracht?«, wiederholte der Polizeichef. »Haben Sie Anlass, ihn zu verdächtigen, oder nicht?«

Barrera sprang für sie in die Bresche, ehe sie etwas entgegnen konnte.

»Während Detective Gamble und Detective Rhodes am Samstag den Tatort vor dem Cock-a-doodle-do untersuchten, haben wir versucht, ihn zu erreichen. Er hat sich verleugnen lassen.«

»Wer war bei ihm?«, erkundigte sich der Polizeichef.

»Tito Sanchez«, sagte Barrera. »Er hat die Nachbarschaft abgeklappert und erfahren, dass Fontaine zwei Leibwächter angeheuert hat. Wir dachten, er wolle uns vielleicht den Grund erklären. Fehlanzeige.«

Der Polizeichef überlegte eine Weile.

»Er hat etwas mit dem Mord zu tun«, mischte sich Lena ein. »Wir wissen nur noch nicht, was.«

»Tja, bis Sie es wissen, lassen Sie ihn in Ruhe. Sein Anwalt hat uns heute Morgen per Kurier einen Brief zukommen lassen. Ich habe keine Lust auf einen zweiten.«

Der Polizeichef griff nach einer Akte. Während er ein Blatt Papier herauszog, riskierte Lena einen raschen Blick auf Barrera, der auch ziemlich bedrückt wirkte. Als sie sich wieder umdrehte, hielt der Polizeichef das Porträt des Mannes namens Nathan Good hoch, das sie mit Unterstützung der Andolinis angefertigt hatten.

»Ist das die aktuellste Version?«, fragte er.

Lena nickte. »Sie wurde gestern Abend an die Presse weitergegeben.«

Der Polizeichef steckte die Zeichnung zurück in die Akte, nahm seinen Notizblock und verstaute alles in seinem Aktenkoffer. »Gut«, meinte er. »Lieutenant Klinger und ich haben heute Vormittag eine Besprechung im Medical Center der Universität. Wir werden die Zeichnung herumreichen und sehen, ob jemand den Mann kennt. Wenn er vor seinem Auslandseinsatz dort einen Lehrgang absolviert hat und jemand ihn identifizieren kann, haben wir Glück gehabt. Anderenfalls setzen wir uns wieder zusammen. Doch bis ein Ergebnis vorliegt, Gamble, werden Sie die Widersprüche aufklären, über die wir gerade geredet haben, und auf weitere Anweisungen aus diesem Büro warten. Und das heißt, dass Sie Justin Tremell von Ihrer Liste streichen und den Jungen in Ruhe lassen. Außerdem bedeutet es, dass jegliche Kontaktaufnahme mit Fontaine ohne meine ausdrückliche Erlaubnis verboten ist. Nur die Widersprüche, Gamble. Glauben Sie, Sie schaffen das?«

Lena verschlug es die Sprache. Seit dem Mord war fast eine Woche vergangen. In den letzten Tagen hatten sie einiges herausgefunden, und nun wollte der Polizeichef, dass sie aufhörten zu ermitteln. Offenbar hatte Dean Tremell alle Hebel in Bewegung gesetzt. Er verfügte über die nötigen Beziehungen, um seinen Sohn zu schützen. Wie der Polizeichef bereits gesagt hatte, war er ein Mann, der zählte.

Sie sah zu, wie der Polizeichef seinen Aktenkoffer zuklappte und zur Tür schaute, ein Zeichen, dass das Gespräch vorbei war.

»Ich bin kein Therapeut«, meinte er mit leiser Stimme. »Aber ich glaube, Sie sollten sich über Ihre Zukunft hier Gedanken machen, Gamble. Und Polizeiinterna mit einem Reporter wie Danny Ramira zu erörtern, macht die Sache für Sie sicherlich auch nicht besser. Und jetzt raus aus meinem Büro. Gehen Sie, und machen Sie Ihre Arbeit. Falls Sie Hinweise auf den Zeugen finden, erwarte ich, dass ich als Erster davon erfahre.«

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