33
Nathan G. Cava schlich die Treppe hinauf und den Flur entlang zum Arbeitszimmer. Als er einen Blick hineinwarf und Fontaine auf dem Boden neben dem Kamin bemerkte, hätte er sich ohrfeigen können, weil er zehn Minuten zu spät gekommen war.
Der Arzt aus Beverly Hills hatte gerade festgestellt, dass sein Notgroschen Schnee von gestern war.
Cava musste ihm zugutehalten, dass er noch immer eine beeindruckende Vorstellung lieferte – er trommelte weinend mit den Fäusten auf den Boden und grunzte und fluchte sogar ein wenig, auch wenn die Leidenschaft der Gefühle allmählich verebbte. Aber bedauerlicherweise hatte Cava den großen Moment verpasst. Den schicksalhaften Augenblick. Den Knaller. Wie sehr hatte er sich darauf gefreut mitzuerleben, wenn der geldgeile kleine Mistkerl den Stein beiseiteschob und in die Dunkelheit starrte. Er wäre gerne Zeuge des Sekundenbruchteils geworden, in dem der Mann wirklich begriff, dass sein Versteck leer war.
Fontaine kroch zu seinem Schreibtisch und hievte sich auf den Stuhl. Er ahnte noch immer nicht, dass Cava ihn von der Tür aus beobachtete. Stattdessen vergrub er das Gesicht in den Armen und bemitleidete sich selbst. Sein Hemd war zerknittert und schweißnass, sein Haar zerzaust. Nach gut fünf Minuten griff Fontaine zum Telefon und wählte eine Nummer.
Cava spürte, wie das Mobiltelefon in seiner Hosentasche vibrierte. Das Telefon gehörte Greta Dietrich, Fontaines Lebensgefährtin und Sexobjekt. Nachdem Dietrich gestern Vormittag die Ziellinie erreicht hatte, hatte Cava das Telefon behalten. Seltsamerweise rief Fontaine jede Stunde an, als wisse er tatsächlich nicht, was geschehen war. Die ständigen Anrufe fielen Cava allmählich auf die Nerven. Er hatte die Nacht in Gretas Wohnung in Santa Monica verbracht, in ihrem Bett geschlafen, den Duft ihres Körpers genossen und dabei versucht, seine Taten zu bereuen. Greta hatte im Gegensatz zu Fontaine ihr Schicksal nicht verdient.
Das Telefon in seiner Hosentasche brummte weiter. Cava holte es heraus und beschloss, den Anruf anzunehmen.
»Hallo«, meldete er sich.
»Wer spricht da?«, fragte Fontaine argwöhnisch.
»Ihr neuer bester Freund.«
»Wo ist Greta. Holen Sie sie ans Telefon.«
»Sie ist beschäftigt. Sie kann jetzt nicht.«
Cava musste ein Auflachen unterdrücken. Fontaines Kopf ruhte noch immer auf seinen Armen. In seinem aufgebrachten Zustand bemerkte er offenbar nicht, dass Cavas Stimme aus diesem Zimmer kam. Für Cava machte es die Sache nur umso interessanter. Es war, als ob das Casino einem das Spielgeld zur Verfügung stellte.
»Wer sind Sie?«, brüllte Fontaine ins Telefon. »Und wo sind Sie?«
»Hier drüben, Doc. An der Tür.«
Endlich hob Fontaine den Kopf, blickte in die angegebene Richtung und zuckte zusammen, als er den Ernst der Lage endlich verstand.
»Wo ist Greta? Was haben Sie mit meinem Geld gemacht?«
Cava klappte das Mobiltelefon zu und förderte stattdessen einen Revolver Kaliber .38 zutage. »Was ist Ihnen wichtiger, Doc. Die Kohle oder das Mädchen?«
»Wir sprechen hier von mehr als einer Million Dollar.«
Cava grinste. »Das habe ich mir fast gedacht. Und jetzt seien Sie ein braver Junge und bleiben Sie still sitzen.«
»Was haben Sie vor? Wollen Sie mich erschießen?«
»Nicht wenn Sie still sitzenbleiben. Ehrenwort.«
Cava durchquerte das Zimmer und klappte hinter dem Rücken des Arztes seinen Aktenkoffer auf. Er entnahm ihm eine Fünferpackung Fertigspritzen, öffnete zwei und entfernte das rote Sicherheitssiegel. Jede Spritze enthielt eine Dosis von zehn Gramm Morphium. Vermutlich wäre eine genug gewesen, aber Cava wollte, dass Fontaine sich entspannte und die Reise genoss.
»Sie haben ja Latexhandschuhe an«, stellte Fontaine fest.
»Richtig. Ich bin Arzt.«
»Das soll wohl ein Scherz sein!«
»Ich fürchte, nein«, entgegnete Cava. »Und jetzt krempeln Sie den rechten Ärmel hoch.«
»Bitte«, sagte Fontaine. »Ich kann Ihnen noch mehr Geld beschaffen. Bitte lassen Sie das.«
»Das ist Morphium, Herr Doktor. Die weiße Krankenschwester. Morpheus, der griechische Gott der Träume. Es wird nicht wehtun, und wir müssen reden. Entweder die Spritze oder die Pistole. Freude oder Schmerz. Eine andere Wahl haben Sie heute Abend nicht.«
Cava bemerkte die Schweißperlen auf der Stirn des Mannes, während dieser mit der Entscheidung rang. Er legte die Fertigspritzen neben die Hand des Arztes, zielte mit der .38er auf seinen Kopf und nahm auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz.
»Wo haben Sie die her?«, fragte Fontaine.
»Von der amerikanischen Regierung. Sie werden zusammen mit den Uniformen ausgegeben. Durch das Morphium wird es Ihnen gleich besser gehen. Es wird Ihnen helfen, den Verlust zu verkraften. Die Sicherheitssiegel sind schon entfernt. Und jetzt halten Sie die violetten Enden an Ihren Arm und drücken den Kolben durch.«
Fontaine erbleichte. Nachdem er die .38er eine Weile furchtsam betrachtet hatte, schloss er die Augen und gehorchte. Erst die eine Spritze, dann die andere.
Es würde nicht lange dauern. Nur ein paar Minuten. In einer knappen Stunde würde er auf dem Mond sein.
»Gut«, meinte Cava. »Jetzt legen Sie die Spritzen auf den Tisch und schieben sie zu mir hinüber.«
Fontaine folgte der Anweisung und lehnte sich dann mit einem lauten Seufzer zurück. Sein Körper wurde bereits lockerer. Die Falten in seinem Gesicht glätteten sich, und ihm fielen allmählich die Augen zu.
»Wie fühlen Sie sich?« Cavas Stimme war glatt wie Glas.
»Zugedröhnt«, flüsterte Fontaine. »Warum machen Sie das? Wo ist mein Geld? Wo ist Greta?«
»Das Geld kann ich Ihnen nicht zeigen, Herr Doktor. Aber Greta ist im Keller. Falls Sie sie sehen möchten, können wir ja zusammen runtergehen.«
»Im Keller? Was tut Greta denn im Keller?«
»Genau genommen nicht sehr viel. Wollen Sie sie anschauen?«
»Nein. Sie ist mit meinem Geld abgehauen. Sagen Sie ihr, sie soll es zurückgeben.«
»Ich bin Ihr bester Freund, Doc. Ich werde mein Möglichstes versuchen.«
Fontaine lächelte. Als er den Mund öffnete, sabberte er ein wenig. »Die Pistole kommt mir bekannt vor.«
»Das sollte sie auch«, erwiderte Cava. »Es ist nämlich die, die Sie in Ihrem Nachtkästchen aufbewahren. Sie haben sie mir selbst gegeben. Erinnern Sie sich nicht mehr?«
Fontaine nickte heftig. »Ja, richtig. Ich habe nur vergessen, wann.«
»Sie haben sie mir zu Weihnachten geschenkt. Es ist eine Spielzeugpistole.«
»Ich mag Spielzeuge. Macht sie auch ein Geräusch?«
»Nein«, sagte Cava. »Es ist ja nur ein Spielzeug. Sie klickt bloß. Sehen Sie.«
Cava hielt sich den Revolver an die Schläfe und drückte ab. Als die Waffe klickte, bekam Fontaine einen hysterischen Lachanfall, der gar nicht mehr aufhören wollte. Offenbar war der Mann bester Laune. Im grünen Bereich, bis zur Halskrause abgefüllt mit Morphium. Und er schwebte immer höher und höher.
»Noch mal«, meinte Fontaine.
»Mit Vergnügen. Es ist ein lustiges Spiel.« Erneut hielt sich Cava die Waffe an den Kopf, drückte ab und grinste sein Opfer an.
»Sie sind mir ein komischer Vogel«, kicherte Fontaine. »Ein komischer Freund. Ich will es auch mal versuchen.«
Cava nickte, beugte sich vor und lud, versteckt von der Schreibtischplatte, in aller Seelenruhe die Pistole. Fontaine streckte die Hand danach aus.
»Ich will es probieren«, quengelte er. »Ich bin dran.«
Als Cava Fontaine den Revolver reichte, war dieser außer sich vor Vergnügen und musste mühsam ein Lachen unterdrücken. Nachdem er sich endlich beruhigt hatte, blickte er seinem neuen Freund in die Augen und hob die Waffe an seinen eigenen Kopf. Dann grinste er breit. Cava erwiderte das Lächeln.
»Sie sind an der Reihe, Doc. Viel Spaß.«
Fontaine kicherte und drückte ab.