45
Vielleicht waren es ja die Sterne, die Planeten oder eine der seltsamen Mondkonstellationen, über die sich Eso-Spinner so gerne ausließen. Irgendeine vollkommene astrologische Verbindung, die er weder verstand noch sehen konnte, weil der Himmel bewölkt war. Möglicherweise blickte ja auch ein Engel über seine Schulter. Ein geistig zurückgebliebener Engel, der ihn als Versuchskaninchen missbrauchte oder eine Wette verloren hatte. Schließlich musste es einen Grund geben, warum diese Stadt die Stadt der Engel hieß.
Es konnte natürlich auch sein, dass der richtige Moment gekommen war. Der große Augenblick, in dem sich die Tür öffnete und einem der Rest des eigenen Lebens von der anderen Seite her zuzwinkerte.
Nathan G. Cava beobachtete, wie das Parker Center in der Nacht verschwand, und drehte sich dann zu den beiden Polizisten auf dem Vordersitz um. Als sie ihm die Hände auf dem Rücken gefesselt hatten, hatte er ihre Name nicht verstanden. Und während sie ihn aus dem Gebäude zu dem Zivilwagen führten, in dem er seine angeblich letzte Fahrt als freier Mann antreten sollte, hatte er sich die Mühe gespart, sie danach zu fragen. Die beiden Männer waren schon älter. Erfahrene Kollegen. Ihre Schicht war gleich zu Ende, und das hier war ihre letzte Fuhre, bevor sie nach Hause gehen konnten. Cava wollte ihre Namen gar nicht kennen, denn auch sie waren Teil des Augenblicks.
An der North Alameda Street stoppte der Wagen an einer roten Ampel. Das Zentralgefängnis für Männer befand sich nur fünf kurze Autominuten entfernt in dieser Straße. Da die beiden Polizisten nicht miteinander sprachen, schwieg Cava ebenfalls.
Vielleicht war es ja das Morphium, dachte er, ein kleiner Rest, der noch in seinem Körper kursierte, Muskeln und Gelenke entspannte und seinen Körper heute Abend ungewöhnlich geschmeidig machte. Es mochte auch an seinem Überlebenswillen liegen. Seinem festen Entschluss, den Rest seiner Tage als freier Mann in der Sonne zu verbringen. Außerdem hatte er Lena Gamble und den anderen Bullen verheimlicht, dass er nicht so dumm war, wie sie glaubten. Sein Geld war nämlich gut versteckt und in Sicherheit, weil er es niemals in der Nähe seiner Wohnung aufbewahrte.
Doch eigentlich war Cava die Antwort auf all diese Fragen gleichgültig. Er wusste nur, dass ihm noch eine einzige Chance blieb, durch die Tür zu schlüpfen, bevor sie endgültig hinter ihm ins Schloss fiel.
Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung. Inzwischen war es Cava gelungen, seine gefesselten Handgelenke unter seinen Körper bis zu den Kniekehlen zu schieben. Nun beugte er sich vor und streckte die Hände mühsam bis zum Boden. Wenn es ihm gelang, hindurchzusteigen, brauchte er bloß die Arme nach vorne zu ziehen …
Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Das Geräusch einer Zellentür, das in seinem Schädel widerhallte.
Cava beugte die Beine und drückte die Handgelenke nach unten, bis sie seine Fersen erreichten. Nur noch ein guter Zentimeter. Plötzlich fiel ihm ein, dass er ja nicht seine Bruno Maglis trug, sondern ein Paar billige Turnschuhe zum Hineinschlüpfen. Nach einem Blick auf die Polizisten streifte er sie sich von den Füßen und dehnte dann die Arme, so weit er konnte. Seine Socken waren verschwitzt, und er spürte, wie die Kette der Handschellen über die feuchte Baumwolle glitt, bis …
Geschafft.
Cava lehnte sich zurück und schaute aus dem Fenster, um sein zufriedenes Grinsen zu verbergen. Seine Gedanken wirbelten wild durcheinander. Die Welt war verrückt geworden. Er schlüpfte wieder in die Dreiundzwanzig-Dollar-Turnschuhe und bekam ein warmes Gefühl im Magen.
Gerade hatten sie den Santa Ana Freeway hinter sich. Rechts von ihnen erhob sich das Union Stadion. Voraus konnte er einige Industriebauten erkennen, die die Landschaft verschandelten. Die Straße sah hier dunkler aus. Ein leerer Parkplatz folgte auf den nächsten. Cava musterte den Polizisten auf dem Beifahrersitz und versuchte sich zu erinnern, wo genau am Gürtel der Mann seine Waffe trug. Er wusste, dass er nur eine einzige Chance hatte. Obwohl das Überraschungsmoment auf seiner Seite war, würde er entschlossen und schnell zuschlagen müssen. Noch wichtiger war, dass der Wagen genug Tempo hatte, damit der Fahrer nicht die Hand vom Lenkrad nehmen und sich einmischen konnte. Cava schätzte, dass drei Sekunden bei fünfundvierzig Stundenkilometern genügen mussten. Nicht mehr und nicht weniger. Das Auto hielt an der nächsten roten Ampel. Der Polizist am Steuer warf einen argwöhnischen Blick in den Rückspiegel.
»Ist dahinten alles in Ordnung?«
»Klar. Ich mache gerade meine Liste und gehe sie noch zweimal durch.«
Der Polizist starrte ihn weiter an. Sein Augenausdruck war richtiggehend giftig. Cava wandte sich ab, da er befürchtete, der Mann könnte seine Gedanken lesen. Als die Ampel umsprang und sie weiterfuhren, beobachtete Cava den Tacho und versuchte, ruhig durchzuatmen. Die Augen immer noch aufs Armaturenbrett gerichtet, rutschte er hinter den Polizisten auf dem Beifahrersitz. Der Wagen beschleunigte weiter, während die Umgebung immer trister wurde. Aus fünfzehn Stundenkilometern wurden dreißig, dann fünfundvierzig und fünfundfünfzig, bis sie schließlich fünfundsiebzig Sachen draufhatten.
Eine tödliche Geschwindigkeit.
Cava biss die Zähne zusammen und nahm alle Kraft zusammen, die in seinem verwüsteten Körper steckte. Im nächsten Moment brach er durch die kosmische Tür, warf die Arme über den Kopf des Mannes, zerrte ihm die Waffe vom Gürtel, schlang dann die Kette der Handschellen eng um den Hals seines Opfers und zog an.
Der Polizist sträubte sich so heftig, dass seine strampelnden Beine gegen die Windschutzscheibe traten. Das Auto geriet ins Schleudern, als der Fahrer auf die Bremse trat. Cava entsicherte die halbautomatische Pistole. Als er sein eigenes Gesicht im Rückspiegel sah, erkannte er sich zunächst nicht wieder. Er riss die Pistole hoch und zur Seite und gab einen Schuss auf den Mann am Steuer ab, während er dessen Kollegen weiter würgte. Der Schuss knallte im engen Wageninneren so ohrenbetäubend wie ein Hammerschlag. Die Schreie der beiden Männer wurden von den Salven übertönt. Cava spürte, dass seine Arme zitterten. Sein ganzer gottverdammter Körper bebte. Er beobachtete, wie die Kugeln nach links flogen, Windschutzscheibe und Tür durchschlugen und schließlich den Fahrer im Gesicht trafen.
Der Wagen kam von der Straße ab, kollidierte mit irgendetwas und überschlug sich. Während das Fahrzeug über den Parkplatz schlidderte, verhielt Cava sich so ruhig wie möglich und beobachtete, wie das Dach unter seinen Füßen im Zeitlupentempo einknickte. Als das Auto endlich stehenblieb, atmete er erleichtert auf.
Kräftiger Benzingeruch stieg ihm in die Nase. Aus dem Lichtschein vor dem Fenster schloss er, dass das Heck des Wagens brannte, obwohl er keine Flammen erkennen konnte. Er spähte unter den Vordersitz. Der Wagen stand immer noch auf dem Kopf. Die beiden angeschnallten Polizisten saßen, die Füße in der Luft, da wie zwei tote Astronauten bei ihrem letzten Start ins All. Inzwischen hörte Cava das Knistern des Feuers. Rasch kroch er in den vorderen Teil des Wagens. Nachdem er den Schlüssel für die Handschellen gefunden hatte, nahm er die Pistole und robbte unter dem Beifahrer durch und aus dem Fenster.
Cava rang nach Atem. Mittlerweile brannte der Wagen lichterloh. Das Heulen von Sirenen durchschnitt die Nacht. Während Cava sich von den Handschellen befreite, hörte er ein Geräusch. Er drehte sich zum Auto um und schaute durchs Fenster. Der Polizist auf dem Beifahrersitz erwiderte seinen Blick und streckte stöhnend die Hand aus dem Fenster. Sein Gesicht war blutüberströmt.
Cava überzeugte sich, wie weit der Brand fortgeschritten war, und musterte dann erneut den Polizisten. Obwohl das Sirenengeheul immer näher kam, würde die Hilfe vermutlich nicht mehr rechtzeitig eintreffen.
Kopfschüttelnd dachte Cava daran, dass er sich schon wieder schuldig gemacht hatte. Es war eine seltsame Vorstellung, dass das Töten irgendwann eine Eigendynamik entwickelte. Er spürte, wie seine kosmische Tür sich schloss, und wusste, dass er einen fahrbaren Untersatz brauchte, um schleunigst von hier zu verschwinden. Also hob er mit zitternder Hand die Pistole, jagte dem Polizisten zwei Kugeln in den Kopf und lief davon.