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»Dr. Ryan behandelt gerade einen Patienten«, verkündete die Sprechstundenhilfe. »Es dauert nicht mehr lang. Sie können hier drin warten.«
Lena folgte der Frau in das Büro der Ärztin. Nachdem sie hinausgegangen war, setzte sie sich vor den Schreibtisch und schaute aus dem Fenster. Das Ärztehaus befand sich am Sunset Boulevard ganz am Ende des Strip, und sie sah, wie die Strahlen der frühen Morgensonne sich durch den Nebel brannten. Den Großteil der Nacht hatte Lena am Computer verbracht, um Justin Tremells Machenschaften und die Eigenschaften des Medikaments Synthroid im Internet zu recherchieren.
Die Frau, die sich als Jennifer McBride ausgegeben hatte, hatte an Schilddrüsenunterfunktion gelitten, obwohl sie zum Zeitpunkt ihres Todes erst gut zwanzig Jahre alt gewesen war. Das Medikament diente der Hormonersatztherapie, eine einfache Behandlungsmethode für eine Krankheit, die sowohl Männer als auch Frauen traf. Nach dem, was Lena gelesen hatte, erkrankten Menschen, deren Wurzeln im Mittelmeerraum lagen, häufiger daran. Allerdings beschränkte sich das Leiden nicht auf bestimmte Personenkreise, konnte durch die verschiedensten Ursachen ausgelöst werden und praktisch jeden ereilen.
Lena stand auf, als Dr. Sue Ryan ins Zimmer kam, und schüttelte ihr die Hand. Sie beobachtete, wie die Ärztin, Jennifer McBrides Krankenakte unter dem Arm, den Schreibtisch umrundete. Sie war eine Blondine von Mitte vierzig und hatte sanfte Augen und eine mollige Figur, und schien sich in ihrem Körper wohlzufühlen. Lena erkannte an ihrer Miene, dass die Sprechstundenhilfe ihr schon alles erzählt hatte. Also brauchte sie den Grund ihres Besuchs nicht mehr zu erklären.
»Das mit Jennifer tut mir leid«, sagte die Ärztin. »Ich war so beschäftigt, dass ich es gar nicht mitgekriegt habe.«
»Wie lange war sie Ihre Patientin?«
»Erst seit etwa zwei Monaten. Ich fürchte, mir war sogar ihr Name entfallen. Ich musste erst ihre Akte studieren, um mich wieder an sie zu erinnern.«
Lena versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Sie hatte auf mehr Informationen gehofft.
»Ich müsste mir die Akte mal anschauen«, meinte sie.
Die Ärztin zögerte. »Ich habe keine Erfahrung in solchen Dingen. Sie hat eine Verschwiegenheitsvereinbarung unterzeichnet.«
»Ich habe Verständnis für Ihre Lage, aber ich muss die Akte sehen. Jennifer ist keine Verdächtige, Frau Doktor, sondern das Opfer. Sie ist tot.«
Die Ärztin überlegte eine Weile und schob dann die Akte über den Schreibtisch.
»Danke«, sagte Lena.
Rasch blätterte sie die Seiten durch und überflog McBrides kurze Krankengeschichte. Viel mehr interessierte sie sich für die Formulare, die die Ermordete bei ihrem ersten Termin ausgefüllt hatte. Sicher hatte sie für den Notfall Namen und Telefonnummern angegeben. Als sie auf die richtige Stelle gestoßen war, nahm sie die Mordakte aus ihrem Aktenkoffer und holte McBrides Selbstauskunft wegen der Wohnung in der Navy Street heraus.
Das Formular hatte zwei Seiten und entsprach genau Lenas Erwartungen – es glich der Selbstauskunft, die das Opfer Jones gegeben hatte, wie ein Ei dem anderen. Hier stand ihre Sozialversicherungsnummer zusammen mit dem Namen und der Adresse ihrer Mutter sowie deren Telefonnummer. Alle Daten, die sie der echten Jennifer McBride gestohlen hatte, dem Mädchen, das vor zwei Jahren bei einem Banküberfall erschossen worden war.
Lena ging das Ganze noch einmal durch und verglich die beiden Formulare. Nichts wies auf die wahre Identität der Frau hin. Jane Doe Nr. 99 hatte kein soziales Netzwerk gehabt.
»Gibt es ein Problem?«, fragte Dr. Ryan.
»Nicht wirklich.«
»Aber Sie haben doch etwas gesucht und nicht gefunden. Sie sind enttäuscht.«
Lena sah der Ärztin in die Augen und stellte fest, dass die Frau von der Mordakte abgelenkt wurde. Ein Tatortfoto, das das Opfer in der Seitengasse zeigte, lugte heraus. Sie klappte den Ordner zu und verstaute ihn wie beiläufig wieder in ihrem Aktenkoffer.
»Ich interessiere mich für das Medikament, das Sie ihr verordnet haben.«
»Synthroid.«
»Das Rezept habe ich in ihrer Wohnung gefunden.«
Dr. Ryan lehnte sich zurück. »Jennifer litt an Schilddrüsenunterfunktion.«
»Das weiß ich. Aber warum haben Sie ihr nicht das Generikum verschrieben? Laut Internet wird es häufiger verordnet als das Original.«
»Das stimmt sicher«, antwortete die Ärztin. »Die meisten meiner Patienten nehmen das Generikum. Lassen Sie mich mal in die Akte schauen.«
Lena reichte sie ihr und beobachtete, wie die Ärztin ihre Notizen aufschlug. Nach einer Weile hatte sie das Gesuchte gefunden.
»Jennifer wollte das Generikum nicht. Sie hat auf das Original bestanden.«
»Gibt es dafür bestimmte Gründe?«, erkundigte sich Lena.
»Mir fällt keiner ein. Der einzige Unterschied ist der Preis.«
»Ich habe gesehen, dass sie keine Krankenversicherung angegeben hat. Das heißt doch, dass sie alles aus eigener Tasche bezahlen musste.«
Die Ärztin beugte sich wieder über ihre Aufzeichnungen und las weiter. »Uns hat sie erzählt, sie hätte gerade die Stelle gewechselt. Eigentlich wollte sie anrufen und uns die Daten durchgeben, aber ich stelle fest, dass sie es nicht getan hat.«
»Sie war noch sehr jung«, meinte Lena. »Kommt diese Erkrankung bei Menschen Anfang zwanzig oft vor?«
»Es ist nicht so selten, wie Sie glauben. Vor allem nicht bei Frauen in ihrem Zustand.«
»In was für einem Zustand?«
Dr. Ryan ließ die Akte sinken und musterte Lena. »Ihre Schilddrüsenerkrankung fing mit einer Schwangerschaft an.«
Das Wort schwebte zwischen ihnen in der Luft. Als Lena schwieg, sprach die Ärztin weiter.
»Ich denke, ich sollte mich deutlicher ausdrücken. Jennifer hat ihre Schilddrüsenerkrankung erst nach dem Ende der Schwangerschaft bemerkt. Manchmal lässt sich das schwer auseinanderhalten, weil in beiden Fällen Symptome wie Gewichtszunahme und Müdigkeit auftreten können.«
»Wissen Sie, wann das Kind kam?«
Die Ärztin schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht einmal sicher, ob sie es ausgetragen hat. Aber ich würde vermuten, eher nicht.«
»Also eine Abtreibung?«
»Oder eine Fehlgeburt. Damals war sie noch nicht bei mir in Behandlung. Sie kam erst mit den Symptomen zu mir. Eine Blutuntersuchung, und das Ergebnis stand fest. Nächsten Monat hätte eine gründlichere Untersuchung auf dem Plan gestanden. Ich habe nur meine Aufzeichnungen von diesem ersten Termin.«
»Was macht Sie dann so sicher, dass sie das Kind nicht ausgetragen hat?«
»Sie wollte nicht darüber sprechen. Welche junge Mutter redet nicht gern über ihr Kind? Ich habe diese Praxis nun schon seit fünf zehn Jahren und bin noch keiner begegnet.«
Lena lehnte sich zurück, während die Ärztin fortfuhr. Allerdings hörte sie nur noch mit halbem Ohr zu. Sie dachte an Justin Tremell und die vielen Gründe, warum er sein Verhältnis mit Jennifer McBride geheim halten wollte. Er war sogar so weit gegangen zu behaupten, er kenne sie gar nicht. Am auffälligsten jedoch waren die fünfzigtausend Dollar auf McBrides Bankkonto und eine Schwangerschaft, die ein vorzeitiges Ende gefunden hatte.