21
Die Untersuchung des Tatorts in der Barton Avenue hatte vierzehn Stunden gedauert. Vierzehn Stunden, um jede Einzelheit zu fotografieren und Fingerabdrücke sicherzustellen. Vierzehn Stunden für die Katalogisierung, das Verpacken und den Abtransport der Beweismittel. Lena hingegen hatte nur einen Sekundenbruchteil gebraucht, um zu wissen, dass die Gedanken und Bilder, die sich in ihr Gedächtnis eingeprägt hatten, sie ein Leben lang verfolgen würden.
Inzwischen war es nach zehn, und die Straßen waren feucht vom Nieselregen. Als Lena den Beachwood Canyon erreichte und die Gower Street hinauf und vorbei am Monastery of the Angels fuhr, erschien ihr die Straße zu ihrem Haus noch trister als gewöhnlich und die Nacht drei oder vier Farbnuancen dunkler.
Sie hatte den Andolinis die Gesichtergalerie gezeigt, die Rollins auf seinem Computer hergestellt hatte – die sechs Rekonstruktionen der Aufnahme aus dem Mobiltelefon des Zeugen. Mithilfe eines Polizeizeichners war nun ein einziges und sehr klares Bild entstanden. Bemerkenswerterweise hatte Rollins das wahre Gesicht des Täters sehr gut getroffen. Nachdem sie die Nase des einen Fotos mit dem Mund eines anderen und den Augen und Ohren der nächsten beiden kombiniert hatten, hielten sie schließlich ein Porträt des Garagenmieters in Händen: Des Mannes, der sich Nathan Good nannte und der offenbar nicht existierte, als Barrera auf Lenas Bitte hin seinen Namen mit verschiedenen Datenbanken abgeglichen hatte. Des Mannes, den bei Lenas Befragung der Nachbarn niemand kannte und niemand gesehen haben wollte. Des Mannes, der einen Fleischwolf und einen roten Hummer besaß und der offenbar spurlos untergetaucht war.
Lena bog in ihre Auffahrt ein. Die Außenbeleuchtung brannte nicht. Während sie ihren Aktenkoffer durch die Dunkelheit schleppte, benetzte kühler Regen ihr Gesicht.
Der Vorteil – falls man überhaupt von einem Vorteil sprechen konnte – war, dass die Öffentlichkeit nun von dem grausigen Verbrechen wusste. Inzwischen mussten nicht nur Art Madina und sie selbst sich mit dem Grauen auseinandersetzen, das sich ihnen vor zwei Tagen auf dem Autopsietisch offenbart hatte. Auf unerklärliche Weise waren die Vorgänge in der Barton Avenue an die Presse durchgesickert, die sofort mit ihren Kameras vor dem Friedhof in Stellung gegangen war. Vielleicht lag es ja an dem unheimlichen Schauplatz, an dem tristen Wetter oder daran, dass die Spurensicherung in der schmalen Auffahrt nicht rückwärts rangieren konnte – jedenfalls hatten alle Reporter mitbekommen, wie der OP-Tisch aus der Garage getragen wurde, und man konnte ihr Entsetzen fast mit Händen greifen. Noch wichtiger war es für Lena, dass man die Chefetage – heute, an einem Sonntag – bereits informiert hatte. Die Nachricht hatte die hohen Herren in ihren warmen, gemütlichen Häusern erreicht. Nun würde niemand mehr den Fall unter den Teppich kehren können, nur weil Jane Doe Nr. 99 im horizontalen Gewerbe tätig gewesen war. Auch die kriminaltechnischen Labors würden Überstunden schieben müssen, denn die Spurensicherung hatte den Fall ganz oben auf die Liste gesetzt.
Lena schloss die Vordertür auf. Im nächsten Moment hielt sie inne, denn sie spürte, dass etwas im Argen lag. Dann schob sie die Tür auf und spähte in die Dunkelheit.
Drinnen läutete das Telefon. Nicht nur einmal, bevor ihr Mobiltelefon ansprang, sondern öfter hintereinander, als hätte sie die Rufumleitung nie aktiviert.
Sie machte Licht und hastete durchs Wohnzimmer. Als sie Danny Ramiras Namen auf der Anzeige sah, griff sie nach dem Hörer, um dem Anrufbeantworter zuvorzukommen.
»Ich rufe dich gleich zurück«, sagte sie.
»Zurückrufen? Wir müssen sofort miteinander reden.«
»Das geht nicht, Denny. Ich melde mich in fünf Minuten.«
Sie schaltete das Telefon ab, ehe der Reporter etwas entgegnen konnte, was niemand hören sollte. Seine Stimme hatte zwar zittrig geklungen, doch das war momentan zweitrangig. Offenbar hatten ihre Freunde von der inneren Abteilung hinter ihren Trick mit den Telefonen durchschaut. Und außerdem wies alles darauf hin, dass sie im Haus gewesen waren.
Als Lena kalte Luft spürte, drehte sie die Heizung höher, öffnete die Schiebetür und schlich ums Haus. Wie erwartet, waren die Wanze und der drahtlose Sender verschwunden.
Allerdings hörte sie Schritte auf dem Kies, die rasch auf weicherem Boden verklangen. Lena blickte auf und bemerkte zwei Männer, die durch das Unterholz zur Straße hasteten. Sie rannte den Pfad entlang, kletterte auf den Felsvorsprung und sah, wie die zwei zu dem dreißig Meter weiter unten geparkten Caprice eilten. Der erste Mann erschien ihr vertraut. Es war der gut gekleidete Bursche mit dem jungenhaften Gesicht, den sie schon öfter hier gesehen hatte. Doch beim Anblick seines Begleiters schrak sie zusammen, denn sie erkannte ihn genau, als er sich umdrehte, um in den Wagen zu steigen. Die magere Gestalt, die stocksteife Haltung, das kurze graue Haar und der waidwunde Blick.
Es war der Assistent des Polizeichefs höchstpersönlich. Ken Klinger.
Lena atmete tief durch. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.
Sie stieg von dem Felsen hinunter, lief zurück zum Haus und schloss die Schiebetür. Alles schien an seinem Platz zu stehen, doch sie hatte auch gar nichts anderes erwartet. Lena nahm das Telefon, ging in die Küche und hebelte mit einem Messer die Verkleidung hoch. Als sie die Muschel entfernte, entdeckte sie einen kleinen schwarzen Zylinder, der einige Metallspulen enthielt. Sie kannte dieses Gerät und wusste, dass das Mikrofon darin jedes Geräusch im Raum aufzeichnete, selbst wenn sie nicht telefonierte. Zu dem Sender gehörte eine Wanze einfacher Bauart, die vermutlich in sicherem Abstand zu Fernseher und Stereoanlage irgendwo im Wohnzimmer versteckt war. Allerdings war es Klinger, der ihr die größten Sorgen bereitete. Immerhin war er unmittelbar dem Polizeichef unterstellt und hatte deshalb gewusst, dass sie den ganzen Tag am Tatort beschäftigt sein würde. Somit hatte er alle Zeit der Welt gehabt, ihr gesamtes Haus zu verkabeln. Offenbar handelte es sich hier um die Wanze, die sie finden sollte, zur Beruhigung, damit sie sich sicher fühlte, nachdem sie das Gerät entdeckt und beseitigt hatte. Bestimmt waren im Haus noch weitere Abhöranlagen installiert. Die Abteilung für Interne Ermittlungen war in dieser Hinsicht gut ausgestattet und verfügte angeblich über erstaunliche Fähigkeiten.
Lena baute den Hörer wieder zusammen und steckte ihn in die Ladestation, ohne die Wanze zu entfernen. Dabei fragte sie sich, warum die beiden Eindringlinge wohl die Rufumleitung abgeschaltet hatten. Doch rasch wurde ihr klar, dass sie wohl das Ergebnis ihrer Arbeit hatten testen wollen. Um die Funktion anschließend wieder zu aktivieren, hätten sie ihr Mobiltelefon anrufen müssen. Dann hätte Lena ihre eigene Festnetznummer erkannt und wäre ihnen sofort auf die Schliche gekommen. Also hatten sie vermutlich gehofft, dass sie sich nicht erinnern würde, ob sie die Rufumleitung an diesem Morgen aktiviert hatte, anstatt dieses Risiko einzugehen.
Kurz gesagt handelte es sich hier um ein Beispiel für miserable Planung und schlampige Polizeiarbeit. Klinger, der Mann, der sich selbst für einen begabten Ermittler hielt, obwohl er noch kein einziges Verbrechen aufgeklärt hatte, war offenbar nicht einmal in der Lage, ein Haus richtig zu verwanzen.
Lena wünschte sich für ihn, dass er gute Musik zu schätzen wusste, denn nun würde er jede Menge davon zu hören bekommen.
Sie schaltete das Modem ein, ging zum Computer und klickte die Webseite von WRT, einem Jazzsender mit Sitz in Philadelphia, an. Klinger hatte Glück. Den aufgelisteten Stücken zufolge war diese Nacht ausschließlich Coleman Hawkins und seinem Tenorsaxofon gewidmet. Als Erstes lief eine digital bearbeitete Version des Albums »At Ease« von Coleman Hawkins, eine Platte, die auch Lenas Lieblingslied »Poor Butterfly« enthielt. Doch bei genauerer Überlegung, kam sie zu dem Schluss, dass diese Musik viel zu schade für Klinger war. Also kehrte sie zurück zum Computer, wechselte zur Webseite von KROQ, ging die aufgelisteten Stücke durch und klickte sich grinsend durch eine lange Aufzählung von Heavy-Metal-Bands. Heute war Themenabend – zwölf Stunden Getöse aus der Vergangenheit.
Ausgezeichnet.
Sie klickte das Symbol für live hören an, drehte die Lautstärke auf, griff nach ihrer Lederjacke und schlenderte hinaus auf die hintere Veranda. In einigem Abstand zur Schiebetür lehnte sie sich an die Hausmauer und betrachtete den Pool. Die Lichter waren abgeschaltet, Regentropfen durchbrachen die glatte Wasserfläche wie Steine, die vom Himmel fielen.
Lena klappte ihr Mobiltelefon auf. Ramira würde warten müssen. Sie suchte die Privatnummer des Gerichtsmediziners aus ihrem Adressbuch heraus und drückte auf Wählen. Art Madina meldete sich nach dem ersten Läuten.
»Ich bin es«, begann sie. »Sie müssen mir einen Gefallen tun.«
»Was ist los? Und was höre ich da im Hintergrund? Offenbar haben wir denselben Sender laufen.«
Lena schmunzelte. Sie wusste, dass Madina auf Rock stand und am Wochenende die einschlägigen Lokale besuchte. Er war auch ein Fan ihres Bruders gewesen.
»Sie müssen mir einen Gefallen tun«, wiederholte sie.
»Worum geht es denn?«
»Ich würde gern einen zweiten Blick auf Jane Does Leiche werfen.«
»Kein Problem. Die liegt noch in der Kühlkammer. Kommen Sie vorbei, wann immer es Ihnen passt.«
»Damit meinte ich keinen kurzen Blick«, erwiderte Lena.
»Keine Ahnung, wie es mit Ihrem Terminplan aussieht, aber ich finde, wir sollten das so bald wie möglich erledigen, Art. Wäre Ihnen morgen Vormittag recht?«
»Moment mal.«
Sie hörte, wie er das Telefon weglegte und die Musik abschaltete. Als er wieder an den Apparat kam, hatte sich sein Tonfall verändert.
»Was wird hier gespielt, Lena? Verraten Sie mir, was Sie suchen.«
»Wir müssen sichergehen, dass sie vollständig ist.«
Einige Sekunden vergingen. Lena sah immer noch den Fleischwolf auf der Werkbank vor sich.
»Warum sollte etwas fehlen?«, wunderte er sich.
»Das kann ich jetzt nicht erklären«, antwortete sie. »Doch wir sollten es überprüfen.«
»Von welcher Menge sprechen wir?«
»Ich weiß nicht.«
Wieder herrschte eine Weile Schweigen, und zwar diesmal ein längeres und bedeutungsvolleres, während beide über die Tragweite ihrer Worte nachdachten. Lena spürte, wie die Wand hinter ihr von der Heavy-Metal-Musik auf KROQ erbebte. Sie sah die Lichter des Library Towers, des höchsten Gebäudes westlich des Mississippi, die in den Regenwolken flackerten. Der Leuchtturm der Stadt ragte majestätisch in den Himmel. Einen Moment lang fühlte sie sich, als steuere sie ein Schiff durch schwere See und lenkte den Bug des havarierten Boots auf ein Signal an einer Steilküste zu.
»Ist es möglich?«, fragte sie. »Können wir sie uns noch einmal anschauen?«
»Darauf können Sie Gift nehmen. Gleich morgen Früh.«
»Bis dann also«, sagte Lena.
Sie klappte das Telefon zu und überlegte, ob es zu spät war, um Rhodes anzurufen. Den ganzen Tag lang hatte sie es sich verkniffen, weil sie ihn bei seiner Schwester nicht stören wollte. Nur am Vormittag hatte sie sich rasch bei ihm gemeldet, um ihm mitzuteilen, sie hätten den Tatort gefunden, und die Kriminaltechnik sichere gerade die Beweise. Es sei nicht nötig, dass er seine Pläne umwarf und zurückkam.
Lena beschloss, damit zu warten, und suchte in ihrem Adressbuch nach der Nummer von Bobby Rathbone. Sie brauchte heute Abend noch jemanden, der ihr einen Gefallen tat, und zwar die Hilfe eines alten Freundes. Hoffentlich stimmte seine Nummer noch. Doch ehe sie wählen konnte, begann das Telefon in ihrer Hand zu vibrieren. Ein Blick auf die Anzeige verriet ihr, dass es Denny Ramira war. Sie hatte vergessen, den Reporter zurückzurufen.
»Du hast fünf Minuten gesagt!«, brüllte er ins Telefon.
»Ich habe jetzt keine Zeit für solche Mätzchen, Denny.«
»Fünf Minuten«, wiederholte er. »Inzwischen sind es schon über zwanzig. Als ich deine Festnetznummer angerufen habe, hat das verdammte Telefon nur geklingelt.«
»Hast du eine Nachricht hinterlassen?«
»Nein, ich habe es mobil versucht. Ich stecke in der Klemme, Lena. Und zwar richtig. Du musst mir helfen. Am besten treffen wir uns und besprechen alles.«
Lena schüttelte den Kopf. Sie musste Rathbone erreichen und hatte keine Zeit, sich mit einem Reporter zu befassen, der befürchtete, seinen Redaktionsschluss nicht zu schaffen. Rathbone sollte noch heute Nacht das Haus auf Wanzen untersuchen, denn es war wichtig, dass sie erfuhr, was genau Klinger angestellt hatte.
Sie hielt sich das Telefon wieder ans Ohr. »Worüber möchtest du denn reden, Denny? Es gibt nichts zu sagen. Wir haben einen Tatort untersucht. Thema erledigt. Ruf doch deine Freunde im fünften Stock an.«
»Darum geht es nicht. Mein Leben ist in Gefahr, verdammt. Ich habe Informationen. Wir müssen uns sofort treffen.«
Ramiras Stimme klang schrill. Offenbar hatte der Mann Todesangst.
»Was für Informationen?«
Der Reporter antwortete nicht.
»Was für Informationen?«, beharrte Lena.
»Über die Leiche, die ihr im Müll gefunden habt.«