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Ihr erster Eindruck war der richtige gewesen.
Das hier war nicht der Tatort. Der Täter hatte die Leiche in der Gasse zwischen der Ivar und der Cahuenga Avenue unweit des Hollywood Boulevard lediglich entsorgt. Sie war günstig gelegen, denn zwei Auffahrten zum Hollywood Freeway befanden sich nur drei Häuserblocks entfernt. Also würden sie hier nichts finden, und wenn sie alles Zentimeter um Zentimeter absuchten. Weit und breit waren weder ein Portemonnaie noch eine Handtasche oder etwas, das die Mordwaffe hätte sein können, zu sehen.
Lena beobachtete, wie die Mitarbeiter der Spurensicherung seine Gerätschaften zusammenpackten, und überlegte.
Es gab keine Verbindung, denn kein vor Ort entdeckter Gegenstand würde ihnen Hinweise auf den Täter liefern. Der hatte sein Opfer nämlich nicht hier getötet, sondern es nur weggeworfen wie ein Stück Abfall.
Zorn durchdrang Lena bis ins Mark.
Allerdings war dem Mörder ein Fehler unterlaufen. Die Plastiksäcke, in die das Opfer verpackt war, unterschieden sich von sämtlichen Säcken in allen Müllcontainern in einem Umkreis von fünf Häuserblocks. Es waren Säcke von Profiqualität, um einiges dicker als gewöhnliche und mindestens dreißig Prozent größer. Lenas Vater war Schweißer gewesen. Die Silhouette von Denver hatte viel von ihrer Form und ihrer Schönheit seiner Arbeit zu verdanken. Aus Erfahrung wusste sie also, dass derartige Säcke häufig auf Baustellen zum Einsatz kamen. Die stabile Plastikfolie hielt mehr Belastung stand und platzte nicht so leicht auf, wenn man sie mit spitzen Gegenständen wie Glasscherben, Nägeln oder wie in diesem Fall den zersplitterten Knochen einer jungen Frau füllte.
Danny Bartlett, der Ausreißer aus Little Rock, hatte gerade seine Crackpfeife gestopft und befand sich irgendwo auf Wolke sieben, als er die fünf grünen Säcke aus dem Müllcontainer angelte. Lena hatte den Inhalt der vier anderen Säcke im Container zuerst mit einem Kriminaltechniker und dann mit dem Küchenchef des Tiny’s durchgesehen. Der Inhalt stammte aus dem Lokal und war letzte Nacht gegen zwei Uhr hinausgebracht worden. Laut Aussage des Mitarbeiters, der sie weggeworfen hatte, war am Vorabend die Müllabfuhr gekommen. Der Container war also völlig leer gewesen. Keiner der Anlieger der Gasse hatte, seit er heute Morgen zur Arbeit erschienen war, einen Wagen hier vorbeifahren sehen. Also konnte man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass der Täter sich zwischen zwei Uhr morgens und Sonnenaufgang seines Opfers entledigt hatte. Anschließend war er die wenigen Kilometer nach Norden gefahren und irgendwo im Freeway-Netz verschwunden.
Lena schüttelte sich und machte Platz, als sie hörte, wie der Transporter des Leichenbeschauers rückwärts an den Müllcontainer heranrangierte. Inzwischen hatten Gainers Mitarbeiter die Müllsäcke in einem blauen Leichensack verstaut und verschlossen ihn. Nachdem das Opfer im Transporter lag, quittierte Gainer Lena den Empfang der Frauenleiche. Unter der Rubrik »Name« wurde »Jane Doe Nr. 99« eingetragen. Gainer hatte Datum, Uhrzeit und Adresse vermerkt, allerdings nichts, was auf die Identität der Toten hinwies. Obwohl Lena die hohe Zahl überraschte, verkniff sie sich eine Bemerkung. Ebenso wie die Mordrate würde die Anzahl der unbekannten Opfer am Neujahrstag auf null zurückgestellt werden. Auch wenn sich dieser Zustand nicht lange halten würde.
»Sie haben Glück«, meinte Gainer. »Ich habe gerade mit Madina telefoniert. Er hat umdisponiert. Seine Maschine landet gegen Mittag in Burbank. Morgen Nachmittag nimmt er sich Ihren Fall vor. Trotz des Rückstaus.«
Lena hatte darauf gehofft, denn sie wollte, dass Art Madina die Autopsie durchführte, obwohl er sich bei einem Ärztekongress in New Haven aufhielt. Da das Opfer zerstückelt worden war, war sie auf die Fachkenntnisse des Pathologen angewiesen.
»Haben Sie ihm alles erklärt?«
Gainer nickte. »Ich habe ihm gesagt, dass wir alles so gelassen haben wie vorgefunden. Was von ihr noch übrig ist, steckt in den Tüten.«
Gainers Stimme erstarb. Inzwischen war er seit mindestens zehn Jahren als Ermittler im Büro des Leichenbeschauers tätig, und Lena nahm an, dass er in dieser Zeit schon so manches gesehen hatte. Dennoch merkte sie seinem Tonfall und auch seinem Blick an, dass ihn der Tod von Jane Doe Nr. 99 nicht unberührt ließ. Es war der Grund, warum sie diesen Mann achtete und bewunderte.
»Offenbar müssen wir bei null anfangen«, verkündete sie.
»Madina weiß, dass wir es mit einer Jane Doe zu tun haben. Sie sind in guten Händen. Es ist alles arrangiert.«
»Danke, Ed. Auch dafür, dass Sie so lange geblieben sind.«
»Keine Ursache, Lena. Was ist denn aus Sweeney und Banks geworden?«
»Die sind mit dem Jungen weg. Wir geben die Straße frei und packen hier zusammen.«
Nachdem sie sich die Hand geschüttelt hatten, blickte sie ihm nach, während er in den Wagen stieg und mit der Leiche davonfuhr. Als sie sich erneut zu der Gasse umdrehte, erschauderte sie in der kalten Abendluft. Sie kramte den Terminplan des Polizeichefs aus der Jackentasche. Zum ersten Mal seit sechs Stunden fielen ihr der Polizeichef und sein Handlanger wieder ein. Sechs Stunden lang hatte sie im Sinne des Opfers ermittelt, ohne sich von behördeninternen Intrigen ablenken zu lassen. Sie entfaltete das Papier und trat unter eine Straßenlaterne. Laut Plan hielt sich Polizeichef Logan noch im Parker Center auf. Die Polizeikommission veranstaltete wieder einmal eine Krisensitzung zum Thema Bandenkriminalität. Lena erinnerte sich an das Flugblatt an der Tür zum Büro des Captains. Man schlug die Ernennung eines Bandensonderbeauftragten vor, der mit einem Budget von einer Million Dollar ausgestattet werden sollte, um eine Art Marshallplan, unter anderem Programme zur Ausstiegshilfe und der Schaffung von Arbeitsplätzen, umzusetzen. Da die Hälfte aller Tötungsdelikte in Los Angeles inzwischen auf das Konto von Banden gingen und die Gewalt allmählich in die teuren Wohnviertel überschwappte, handelte es sich um eine sehr wichtige Besprechung. Also würde der Polizeichef mindestens bis zehn oder elf Uhr beschäftigt sein. Wenn sie sofort losfuhr und die Straßen frei waren, würde sie ihn vielleicht noch vor Ende der Sitzung abfangen können.
Lena schulterte ihren Aktenkoffer und marschierte die Gasse entlang. Als sie den Wagen der Spurensicherung umrundete, hörte sie, wie die Reporter auf der anderen Straßenseite ihr Fragen zuriefen. Doch sie achtete nicht darauf. Die Luft war so schneidend, dass sie es kaum erwarten konnte, die Heizung einzuschalten. Endlich hatte sie ihr Auto erreicht und ließ den Motor an. Im selben Moment vibrierte ihr Mobiltelefon. Sie warf einen Blick auf die Anzeige.
Es war Denny Ramira, der einzige Reporter auf der ganzen Welt, der ihre Mobilfunknummer kannte. Ramira war Kriminalreporter bei der Times. Obwohl sie einiges zusammen erlebt hatten, zögerte Lena, das Gespräch anzunehmen. Aber nachdem sie das Telefon eine Weile angestarrt hatte, überlegte sie es sich anders und klappte es auf.
»Ich weiß, dass sich das nicht gehört«, begann er. »Aber ich friere mir hier draußen die Eier ab, und es hat ganz den Anschein, als würdet ihr für heute zusammenpacken. Du hast mir nichts zu sagen, richtig?«
»Kannst du Gedanken lesen?«
»Es ist doch dein Fall, oder, Lena?«
Etwas an dieser Frage kam ihr merkwürdig, ja, sogar unpassend, vor, weshalb sie sich zurücklehnte, um sie sich durch den Kopf gehen zu lassen.
»Es ist doch dein Fall, richtig?«, wiederholte er.
»Was ist los, Denny?«
»Ich bin nicht ganz sicher. Man hat mich vorab über den Mord informiert. Mein Kontaktmann wollte sichergehen, dass ich im Bilde bin.«
»Wer ist dein Kontaktmann?«
Ramira zögerte. »Eben so ein Typ, den ich kenne. Allerdings haben alle hier den gleichen Anruf gekriegt. Und jetzt würde mich der Grund interessieren.«
Falls es sich um eine Multiple-Choice-Prüfung gehandelt hätte, wären ihr sämtliche möglichen Antworten falsch erschienen. Aber das war im Moment nicht ihre Hauptsorge.
»Ich muss los, Denny.«
»Schon gut. Ich fahre jetzt ins Parker Center. Vielleicht bekomme ich ja das Ende der Sitzung noch mit, damit ich mir den Abend nicht umsonst um die Ohren geschlagen habe.«
Lena zuckte zusammen. »Vielleicht könntest du mal ein Wörtchen mit deinem Bekannten reden.«
Sie klappte das Telefon zu, ehe er antworten konnte, und hoffte, dass sie ihm im Parker Center nicht in die Arme laufen würde. Dann parkte sie aus, bog links ab, um den Reportern aus dem Weg zu gehen, fuhr einmal um den Block und nahm dann die Gower Street zum Sunset Boulevard. Das Abendessen hatte sie ausfallen lassen, da sie die leblosen Augen des Opfers, die ihr aus dem Müllsack entgegen starrten, noch zu deutlich vor sich hatte. Aber jetzt knurrte ihr Magen. Als sie den Parkplatz am Gower Gulch erreichte, stellte sie fest, dass bei Starbucks keine Schlange stand, und hastete in den Laden. Fünf Minuten später war sie wieder unterwegs und klickte sich durch ihre Anrufliste, bis sie Howard Bensons Nummer fand. Benson war ein Mitstudent an der Polizeiakademie gewesen und nun in der Vermisstenabteilung beschäftigt. Nachdem feststand, dass sie das Opfer nicht identifizieren konnten, hatte ihr erster Anruf Benson gegolten. Doch das war nun schon über drei Stunden her, und er hatte sich noch nicht gemeldet. Nach dem sechsten Läuten nahm er endlich ab.
»Entschuldige, Lena, aber deine Informationen waren ziemlich dürftig.«
»Morgen kriegst du mehr«, erwiderte sie. »Ich habe nur gehofft, du könntest etwas Auffälliges in deiner Datenbank haben.«
»Eine weiße Frau, Mitte zwanzig, blond, verschwunden in Südkalifornien. Davon habe ich jede Menge zu bieten. Nichts Auffälliges dabei.«
Lena schwieg. Sie hatte Benson nicht mobil, sondern im Büro angerufen. Er klang müde und gereizt.
»Tut mir leid, Lena. Ich kann dir nur sagen, dass wir weitere Einzelheiten brauchen.«
»Was hältst du davon, die Suche auf die letzten vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden zu begrenzen?«
»Hab ich bereits versucht. Noch immer eine ellenlange Liste. Viele junge Leute zieht es ins südliche Kalifornien. Und nicht wenige davon sind blonde Ausreißerinnen. Nur dass ihr Traum nicht in Erfüllung geht und sie stattdessen auf den Straßen einen Alptraum leben.«
Lena dachte über seine Worte nach, als sie an der Auffahrt zum Freeway beschleunigte und den 101 in Richtung Innenstadt nahm. Wenn Jane Doe gestern Nacht ermordet worden war, war es noch zu früh. Eine Vermisstenanzeige würde, wenn überhaupt, erst einen Tag später gestellt werden.
»Ich weiß, dass ich wieder einmal zu ungeduldig bin, Howard. Ich hatte nur auf ein bisschen Glück gehofft.«
»Wir reden nach der Autopsie weiter. Dann können wir es sicher einschränken. Größe, Gewicht, noch ein paar Daten eben.«
»Danke, Howard.«
Lena warf das Telefon auf den Beifahrersitz und trank einen Schluck Kaffee. Er war heiß und stark und genau das, was sie jetzt brauchte. Durch die Windschutzscheibe sah sie eine lange Reihe von Bremslichtern aufleuchten. Der Verkehr wurde erst zähflüssig und kam schließlich zum Stillstand. Benson hatte unwissentlich eine unschöne Erinnerung in ihr wachgerufen. Auch Lena war einmal, zusammen mit ihrem Bruder David, eine sechzehnjährige Ausreißerin gewesen. Nach dem Tod ihres Vaters waren sie aus Denver geflohen, um nicht in die Maschinerie des Jugendamtes zu geraten. Sechs Monate lang hatten sie im Auto ihres Vaters gelebt, bis Lena genug Geld verdiente, um eine kleine Wohnung zu mieten. Ihre Kindheit in Colorado hatten sie hinter sich gelassen und waren nie zurückgekehrt.
Sie trank noch einen Schluck Kaffee. Als die anderen Autos sich wieder in Bewegung setzten, legte sich zwar die Erinnerung, aber nicht die Einsamkeit, die so erdrückend, endgültig und beharrlich war. Lena versuchte, nicht darauf zu achten und sich auf den Verkehr zu konzentrieren.
Eigentlich hätte die vierzehn Kilometer weite Fahrt in die Innenstadt nur zehn Minuten in Anspruch nehmen sollen, entpuppte sich allerdings als an den Nerven zerrende fünfundvierzigminütige Weltreise in einem Tempo von fünfzehn Stundenkilometern.
Als Lena eine Lücke im Polizeiparkhaus gefunden hatte und im Laufschritt über die Straße zum Parker Center eilte, war es kurz vor elf. Die ersten Teilnehmer an der Sitzung, die im Erdgeschoss stattgefunden hatte, kamen bereits aus dem Gebäude.
Lena drängte sich durch die Menschenmenge. Beim Betreten des Raums stellte sie fest, dass sich der Polizeichef und sein Assistent bereits von ihren Plätzen erhoben. Lena zählte vier der fünf zivilen Angehörigen der Kommission, die geblieben waren, um die Fragen der Reporter und der weiteren dreißig bis vierzig Interessenten zu beantworten. Allerdings schien der Großteil der Aufmerksamkeit einem energischen Mann mit grau meliertem Haar zu gelten. Als er sich umdrehte, erkannte Lena, dass es sich um Senator Alan West handelte. West war nach seiner einstimmigen Wahl durch den Stadtrat vom Bürgermeister in die Kommission eingesetzt worden, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Polizei zu stärken. Inzwischen hatte er drei Jahre seiner ersten fünfjährigen Amtszeit hinter sich. Es hieß zwar, dass er beabsichtigte, in der Politik zu bleiben, aber Lena hatte in der Zeitung gelesen, er hielte seine Zusammenarbeit mit der Polizei für nicht minder wichtig. Während der Polizeichef für das Alltagsgeschäft zuständig war, zeichneten ein Bürgerrechtsanwalt, ein ehemaliger Bürgermeister, zwei Strafverteidiger und Senator Alan West für den Kontakt zwischen Polizei und Bürgern verantwortlich.
Lena wandte sich zum Polizeichef um, der sie zu sich winkte. Als sie Klinger ansah, wies er auf die Nische vorne im Raum. Obwohl Lena sich noch immer fragte, warum der Polizeichef Klinger zu seinem Assistenten bestimmt hatte, ähnelten sich die beiden Männer heute Abend wie zwei Buchstützen. Offenbar ergänzten sie sich mit ihrer durchtrainierten Figur und ihrer militärisch strammen Haltung großartig. Hinzu kamen ihr elegantes Äußeres, das einen beinahe schon geckenhaften Eindruck machte, und ihr kurzes graues Haar. Der einzige Unterschied lag in ihren Augen. Die von Klinger waren von einem fast seelenvollen Braun und unergründlich. Die des Polizeichefs betonten seine markanten und intelligenten Züge, waren jedoch schwarz wie die Nacht und konnten ihr Gegenüber zuweilen bohrend mustern.
Lena umrundete den Tisch, trat in die Nische und wünschte, sie hätte bessere Nachrichten gehabt. Als Klinger das Wort ergreifen wollte, unterbrach der Polizeichef ihn mit einer barschen Handbewegung.
»Raus mit der Sprache, Gamble. Wer ist Ihr Verdächtiger?«
»Bis dahin ist es noch ein langer Weg«, erwiderte sie. »Mir ist klar, dass Sie lieber etwas anderes hören wollten, Chef, aber so ist es nun einmal. Wir müssen ganz bei null anfangen.«
»Was ist mit Zeugen?«
»Wir haben jeden Ladenbesitzer und Mitarbeiter in der Straße vernommen. Es gibt keine Zeugen.«
Sie konnte seinen Blick nicht deuten und bemerkte nur, dass der Polizeichef völlig anders reagierte als erwartet. Es war fast, als hätte er einen Schlag in die Magengrube bekommen, der ihm den Atem raubte. Doch sein Verstand arbeitete fieberhaft, und sie merkte ihm an, dass er angestrengt nachdachte. Wäre er ein Verdächtiger in einem Vernehmungszimmer gewesen, sie hätte vermutet, dass er schuldig war und ihr etwas verschwieg.
Wieder bedachte er sie mit einem durchdringenden Blick. »Dann wissen Sie also nicht einmal, wer das Opfer ist?«
»Wir haben keine Ausweispapiere gefunden.«
»Was ist mit ihrer Kleidung?«
Wortlos schüttelte Lena den Kopf. Das Opfer war unbekleidet gewesen.
»Ich will Ihnen sagen, was mir zu schaffen macht, Detective, nämlich, dass sich die Sache zu einem komplizierten Fall mit langwierigen Ermittlungen auswachsen könnte. Wenn Sie innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden nichts in Erfahrung bringen, stehen die Chancen hoch, dass das auch so bleiben wird. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Ihre Aussichten auf einen Ermittlungserfolg sinken um gottverdammte fünfzig Prozent.«
Diese Wahrscheinlichkeitsrechnung hätte der Polizeichef sich in Lenas Augen sparen können. Als sie sich umdrehte, stellte sie fest, dass Denny Ramira den Sitzungssaal betrat und auf Senator West zuging. Aus ihrem Händeschütteln schloss sie, dass die beiden einander kannten.
Offenbar war der Reporter auch dem Polizeichef aufgefallen. »Ich möchte über diesen Fall nichts in der Zeitung lesen, Detective. Und auch nichts im Fernsehen darüber sehen. Falls Sie also irgendwelche Absichten in dieser Richtung verfolgen, sind Sie raus aus der Sache, kapiert? Dann fliegen Sie hochkant und werden nie wieder einen Fuß in ein Polizeirevier setzen. Haben Sie mich verstanden?«
Sie sah ihn abfällig an.
»Entweder schwimmen Sie mit dem Strom«, fuhr er fort, »oder Sie können sich einen neuen Job suchen. Ist Ihnen das klar, Detective? Begreifen Sie, wie ernst die Lage ist und wo ich die Grenzen setzte?«
»Schon verstanden, Chef.«
»Wir haben es hier nicht mit Schusswaff engebrauch unter Beteiligung eines Polizeibeamten zu tun, sondern mit einem Mord. Und ich verlange einen Verdächtigen und eine Festnahme.«
Während der Polizeichef eine Pause einlegte, um Luft zu holen, sprang Klinger wie auf ein Stichwort für ihn in die Bresche. Plötzlich wurde Lena klar, wer die Pressevertreter verständigt hatte. Gewiss war es Klinger gewesen, der alles in seiner Macht Stehende tat, um ihr Steine in den Weg zu legen.
»Wir wollen Berichte«, verkündete er. »Der Polizeichef möchte über alles auf dem Laufenden gehalten werden. Es interessiert niemanden, ob sich die Sache dadurch doppelt so lange hinzieht. Machen Sie einfach Ihre Arbeit, und zwar streng nach Vorschrift, Gamble. Wir sind jetzt Ihre Partner und werden uns nicht als stille Teilhaber abspeisen lassen. Wenn Sie rechts abbiegen wollen, fragen Sie vorher um Erlaubnis. Vor dem Lingsabbiegen besorgen Sie sich eine richterliche Anordnung. Wir behalten Sie im Auge, nur damit Ihnen das klar ist. Ich bitte um Bestätigung, dass wir soeben dieses Gespräch geführt haben und dass Sie …«
Klinger verstummte schlagartig. Alle drehten sich um. Senator West stand an der Tür und betrachtete sie mit einem fragenden Ausdruck auf seinem breiten Gesicht.
»Das hört sich ja nach einer ernsten Auseinandersetzung an, Herr Polizeipräsident. Hoffentlich störe ich nicht.«
Lena bemerkte auf Anhieb, dass es West herzlich gleichgültig war, ob er störte. Aus dem Blick, mit dem er den Polizeichef und seinen Assistenten bedachte, schloss sie, dass sich die Männer offenbar nicht gut verstanden. Sie erinnerte sich an die Gerüchte, es habe bei der Wahl des Polizeichefs durch die Polizeikommission Gegenstimmen gegeben. Es seien Zweifel geäußert worden, und eines der fünf Mitglieder habe gegen seine Ernennung protestiert. Sie fragte sich, ob West wohl der Abweichler gewesen war. Nach Logans und Klingers Mienen zu urteilen kannten sie die Gerüchte auch und waren zu demselben Ergebnis gekommen.
»Wir sind hier fertig«, erwiderte der Polizeichef. »Sie stören überhaupt nicht, Senator.«
»Ausgezeichnet. Ich bin nämlich ein Fan von Detective Gamble.«
West wandte sich vom Polizeichef ab und sah Lena an. Seine Augen waren klar und offen, und ein weiser Blick malte sich darin.
»Als Denny Ramira mich auf Sie hingewiesen hat«, begann er, »konnte ich kaum glauben, dass Sie wirklich hier sind. Wie alle anderen habe ich die Romeo-Morde verfolgt und wollte Sie schon lange kennenlernen.«
Lächelnd griff er nach ihrer Hand. Sie spürte die Spannung im Raum. Im nächsten Moment kehrte Klinger dem Senator den Rücken zu und verließ die Nische. Der Polizeichef folgte seinem Assistenten, allerdings nicht, ohne noch einmal an der Tür stehen zu bleiben und Lena finster zu mustern.
»Es gibt eine Änderung im Terminplan, Detective. Die Autopsie ist für morgen Früh um Punkt acht angesetzt, nicht erst für den Nachmittag.«
»Was ist mit dem Pathologen?«
»Wir dürfen keine Zeit verschwenden. Ich habe Medina gesagt, er soll im Flugzeug schlafen, wenn es denn unbedingt nötig ist.«
Der Polizeichef wartete Lenas Antwort nicht ab, sondern marschierte hinter Klinger her auf den Flur hinaus. West blickte ihnen nach. Dann drehte er sich zu Lena um und senkte die Stimme.
»Wir sind hier in Los Angeles, Detective. Polizeipräsidenten kommen und gehen. Wir brauchen heutzutage mehr denn je Leute wie Sie, die die Arbeit erledigen und Verantwortung übernehmen.«
Obwohl Lena sich nicht übermäßig für Politik interessierte, hatte sie genug gelesen, um zu wissen, dass West zu den Guten gehörte. Offenbar hatte der Senator belauscht, wie der Polizeichef und sein Handlanger ihr die Hölle heißgemacht hatten, und sie unterbrochen, um ihr zu helfen. Sie war ihm für diese Geste zwar dankbar, doch leider hatte er damit ihre Vorgesetzten gegen sie aufgebracht. So sehr sie sich von seinem Kompliment auch geschmeichelt fühlte, hätte es sich nicht gehört, etwas darauf zu erwidern. Stattdessen dachte sie an die verschobene Autopsie. Nur der Polizeichef besaß die Macht, Medina zu zwingen, seinen Aufenthalt in New Haven abzukürzen. Er war der Einzige, der so schnell alle Hebel in Bewegung setzen konnte. Also ärgerte sie sich nicht über die Einmischung. Sie war eher froh darüber.
Lena riss sich aus ihren Grübeleien. Als sie ein Funkeln bemerkte, fiel ihr Blick auf das Sakko des Senators. Er trug eine Anstecknadel am Revers. Es war nicht die übliche amerikanische Flagge, sondern ein individuell gestaltetes Schmuckstück.
»Möchten Sie es sich anschauen?«, fragte West.
Sie nickte. »Die Feuerwehr. Sie haben es nach den Anschlägen vom 11. September von den Feuerwehrleuten bekommen.«
Er lächelte ihr freundlich zu – seine blauen Augen leuchteten –, nahm dann die Nadel ab und reichte sie ihr.
»Sie war ein Geschenk«, erklärte er. »Ich trage sie jeden Tag. Es ist ein Ereignis, das ich nie vergessen werde.«
Lena ließ die Nadel über ihre Handfläche rollen, sodass sich das Licht im Gold fing. Es handelte sich um die dreidimensionale Darstellung eines Löschzugs der Feuerwehr von Los Angeles am Ground Zero in New York. Neun Feuerwehrleute standen auf dem Wagen und reckten eine Leiter zur Sonne empor. Lena erinnerte sich noch gut an die Zeremonie, in der West von der Feuerwehr von Los Angeles geehrt worden war, da ihre gesamte Abteilung daran teilgenommen hatte. Allerdings hatte sie die Anstecknadel noch nie mit eigenen Augen gesehen und kannte das leuchtend rote und goldene Kunstwerk nur von den Abbildungen in der Zeitung. Die Nadel war von einem Goldschmied in South Pasadena angefertigt worden, ein Zeichen der Anerkennung für einen Mann, der sich nicht nur bei den Rettungsmaßnahmen nach dem Anschlag mächtig ins Zeug gelegt hatte. Er hatte sich auch noch Jahre später engagiert dafür eingesetzt, dass die an Folgeerkrankungen leidenden Rettungskräfte die ihnen zustehende medizinische und finanzielle Unterstützung erhielten. Die Anstecknadel war ein Geschenk für jemanden, der nicht wie der Reporter eines Kabelsenders von einem sensationellen Ereignis zum nächsten hastete, um möglichst viel Geld zu verdienen und seine Einschaltquoten zu erhöhen. Es gebührte nur einem Menschen, der niemals vergessen würde, was geschehen war.
Lena gab dem Senator die Nadel zurück und sah zu, wie er sie sorgfältig an seinem Revers befestigte.
»Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten, Detective. Und ich weiß bereits, dass Sie es nur ungern tun werden.« Wieder huschte ein fragendes Lächeln über sein Gesicht, während er ihr seine Visitenkarte reichte. »Ich verbringe mehr Zeit hier als in Washington«, sagte er. »Falls ich Ihnen je behilflich sein kann, rufen Sie mich an, und ich versuche mein Bestes.« »Und um was für einen Gefallen geht es?« »Da draußen wimmelt es von Presseleuten. Und ich würde mich über ein Foto für mein Büro freuen, das uns beide gemeinsam zeigt. Ramiras Fotograf wird es aufnehmen und mir einen Abzug schicken. Aber halten Sie mich nicht für naiv. Alle anderen im Raum werden dieses Foto ebenfalls schießen. Und das ist der Grund, warum Sie es nur ungern tun werden. Doch ich würde mich freuen.«
Lena überlegte. Der Senator zog eine Augenbraue hoch. Sein warmes Lächeln war ansteckend. Nach einer Weile nickte sie.