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Lena hatte zwar versucht, im Flugzeug ein wenig zu schlafen, wurde aber die Bilder von Albert Pooles Tod einfach nicht los. Das Schicksal des Mannes verfolgte sie bis nach Las Vegas und würde sie auch zurück nach Los Angeles begleiten. Ganz gleich, was auch aus ihrer beruflichen Laufbahn werden und welche Form von Geschichtsfälschung Polizeichef Logan auch betreiben mochte, Poole würde ihr noch lange Zeit erhalten bleiben.

Genauso wie die Frau, die die Männer verzauberte. Die Frau ohne Namen, die sie gnadenlos weitertrieb. Auf dem Weg zu ihrem Mietwagen wurde Lena klar, dass es eine fixe Idee geworden war, die wahre Identität des Opfers herauszufinden. Allerdings bedeutete es auch ihre Rettung. Wenn sie dieses Rätsel löste, hatte sie vielleicht noch eine Chance, die kommenden Ereignisse ohne seelische Schäden zu überstehen.

Sie stieg ins Auto und legte den auseinandergefalteten Stadtplan auf den Beifahrersitz. Bloom wohnte in der Wüste, nordwestlich der Stadt in der Kyle Canyon Road. Nachdem Lena sich für eine Fahrstrecke entschieden hatte, schaltete sie ihr Mobiltelefon ein, um ihre Nachrichten abzufragen. Es waren drei Anrufer. Rhodes hatte sich vor einer Stunde gemeldet und berichtete, er habe mit Barrera gesprochen. Das Büro des Polizeichefs habe noch nicht von sich hören lassen. Barrera schlüge vor, sich heute am besten bedeckt zu halten, abzuwarten und die Liste der Widersprüche abzuarbeiten. Da Rhodes nicht in der Stadt gewesen sei, wisse er nichts von dieser Liste. Er meinte, er werde später noch einmal anrufen.

Die nächsten beiden Nachrichten überraschten Lena sehr. Beide stammten von Denny Ramira und waren innerhalb einer Viertelstunde erfolgt. Ramira klang wieder ziemlich aufgelöst und wollte unbedingt mit ihr zu reden. Allerdings nannte er wie beim letzten Mal keine Fakten, sondern erging sich nur in vagen Andeutungen.

Lena warf ihr Telefon auf den Beifahrersitz und fuhr los. Als sie das Parkhaus verließ, schlug ihr grelles Sonnenlicht entgegen, und sie spürte die trockene Hitze und die reglose Luft. Laut Thermometer auf dem Armaturenbrett waren es bereits über zwanzig Grad. Für gewöhnlich waren Wintertage in der Wüste nicht so angenehm mild.

Sie brauchte etwa eine halbe Stunde, um die Stadt und die Vororte hinter sich zu lassen. Als die Stadt endlich im Rückspiegel verschwand, konnte sie ihren Weg noch etwa fünfzehn Minuten lang auf einer Teerstraße fortsetzen. Die restlichen fünfzehn Kilometer waren nur noch Staubpiste. Hier war es heller und wärmer – die Wüste lag offen, unberührt und naturbelassen vor ihr. Nachdem die Straße einige Kurven beschrieben hatte und in den unbefestigten Sand überzugehen schien, stieß sie endlich auf einen Briefkasten. Doch als sie näher kam, stellte sie fest, dass das Haus ausgebrannt war, und blieb nicht stehen. Etwa sieben Kilometer weiter entdeckte sie auf der rechten Straßenseite den nächsten Briefkasten. Diesmal war das dazugehörige Haus unbeschädigt. Lena konnte es schon aus hundert Metern Entfernung von der Straße aus sehen.

Sie stoppte hinter einer Sanddüne und betrachtete die Staubwolke, die sie hinter sich hergezogen hatte. Falls Bloom irgendwo an einem Fenster stand, wusste er nun, dass jemand hier war.

Lena stieg aus und versuchte, sich nicht darüber den Kopf zu zerbrechen. Sie kletterte auf die Düne, legte sich bäuchlings in den Sand und spähte über den Rand der Anhöhe.

Das Haus flirrte in der Ferne. Die Windmühle im Garten rührte sich nicht, weil kein Lüftchen wehte. Vor der Garage parkte Blooms Pickup. Hinter dem Haus gab es einen Schuppen. Aus der Entfernung wirkte das ganze Anwesen verwittert, ausgetrocknet, vom Wind gepeitscht und so totenstill, dass Lena ein mulmiges Gefühl bekam. Sie hörte nur ihren eigenen Atem und die Pausen zwischen den einzelnen Zügen.

Und dann fing etwas im Auto zu klappern an.

Lena rutschte vom Hügel und spähte in den Wagen. Es war ihr Mobiltelefon, das vibrierend auf dem Stadtplan lag.

Nach einem Blick auf die Anzeige klappte sie es auf. Wieder Ramira. Er hörte sich ziemlich panisch an.

»Ich muss dich treffen«, stieß er hervor. »Die Kacke ist am Dampfen.«

Lena kehrte auf die Düne zurück. »Was ist los, Denny?«

»Die Kacke ist am Dampfen. Was willst du zum Teufel sonst noch wissen? Wann kannst du hier sein?«

»Was meinst du mit >hier<?«

»Bei mir zu Hause. Wir müssen uns sehen. Ich will reinen Tisch machen.«

»Warum verrätst du mir nicht, worum es eigentlich geht?«

Ramira zögerte wie erwartet. Lena beobachtete weiter das Haus.

»Ich kann meinen Kontaktmann nicht erreichen«, erwiderte er schließlich. »Ich glaube, sie haben ihn erwischt. Bestimmt ist er tot.«

»Der Senator?«

»Nicht West. Mein Kontaktmann.«

»Wer ist dein Kontaktmann, Denny?«

Wieder schwieg Ramira. Lena, die allmählich die Geduld verlor, spielte mit dem Gedanken aufzulegen.

»Schon gut«, seufzte sie. »Die Heimlichtuerei geht also weiter.«

»Das ist es nicht. Aber ich darf dir den Namen des Typen nicht sagen. Immerhin bin ich Reporter.«

»Wen interessiert das, wenn er tot ist?«

»Ich habe es ihm versprochen. Außerdem weiß ich ja nicht, ob er tot ist.«

»Wie ich bereits festgestellt habe, Denny, hast du noch immer nicht vor, offen zu mir zu sein. Ich bin nicht in der Stadt und habe keine Zeit für solche Mätzchen. Wenn die Kacke wirklich am Dampfen ist, habe ich einen Vorschlag für dich. Leg auf und ruf die Polizei. Falls die Sache warten kann und du endlich ehrlich sein willst, können wir uns irgendwann heute Nachmittag treffen, sobald ich zurück bin.«

Er antwortete nicht. Lena wartete eine Weile und steckte das Telefon dann ein.

Nichts als Täuschungsmanöver.

Sie beobachtete das Haus hinter der Düne und versuchte, Ramira zu vergessen. Das Haus, der Schuppen, der Ford F-150 vor der Garage, die Windmühle, die sich nicht bewegte – über allem lag eine unheilverkündende Stimmung. Das abgelegene Anwesen sah zu sehr nach Endstation aus und erinnerte an das Haus eines Menschen, dessen Leben vor vier Jahren seinen Sinn verloren hatte. So wie das von Bloom.

Lena schaute auf die Uhr. Da es noch früh war, standen ihr verschiedene Möglichkeiten offen. Sie konnte zum Ende der Straße fahren, so lange warten, bis Bloom erschien, und seinem Pickup dann zum Supermarkt oder zur Bank folgen. Denn ein Gespräch an einem öffentlichen Ort erschien ihr weniger gefährlich als hier in der Einöde. Falls er zu Hause blieb, hatte sie noch immer genug Zeit, nach Las Vegas zurückzukehren und mit Hilfe der hiesigen Polizei ein Treffen zu vereinbaren.

Lena wandte sich vom Haus ab. Im selben Moment hörte sie, wie eine halbautomatische Pistole entsichert wurde. Im nächsten Moment sah sie einen Mann neben ihrem Mietwagen stehen.

»Sind Sie die Frau, die angerufen hat?«, fragte er. »Die, die mit Jennifer McBride sprechen wollte?«

Lena musterte die Waffe in Blooms Hand. Es war auch eine Glock, eine .40er oder .45er. Jedenfalls wusste sie, dass ein einziger Schuss genügen würde.

Sie nickte und hoffte, dass man ihrer Stimme die Furcht nicht anhörte. »Kannten Sie sie?«

Blooms Blick wurde argwöhnisch. Er winkte sie mit der Pistole heran und stieß sie gegen den Wagen. Er war größer und stärker als sie, überragte sie um mindestens fünfzehn Zentimeter und hatte schmutzig blondes Haar und eine wettergegerbte Haut. Offenbar hatte er sich seit einigen Tagen nicht rasiert, und er schien auch nicht viel zu schlafen. Der Mann riss sie herum und tastete sie ab. Er durchsuchte sie rasch und professionell und überließ nichts dem Zufall. Nachdem er ihre Pistole und ihren Dienstausweis eingesteckt hatte, warf er das Mobiltelefon ins Auto. Dann glitten seine riesigen Hände über jeden Zentimeter ihres Körpers, vom Hals bis hinunter zu den Knöcheln. Als er sich vergewissert hatte, dass nichts übersehen worden war, zielte er mit der Pistole auf sie und wich vom Wagen zurück.

Lena drehte sich um und beobachtete, wie er sich eine Marlboro anzündete. Bloom betrachtete sie. Er schien es ernst zu meinen.

»Jennifer sagte, falls jemand sie suchen kommen sollte und diesen Namen nennt, würde es Ärger geben.«

»Ich bin Polizistin«, entgegnete Lena.

»Das interessiert mich einen Scheißdreck. Willkommen in Las Vegas, Schlampe. Und jetzt steigen Sie ein und fahren los.«

»Wohin?«

Mit einem leichten Hinken umrundete er den Wagen und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Dabei zielte er weiter mit der Pistole auf sie. »Die Auffahrt hinunter zu meinem Pick-up«, befahl er. »Mit dieser Klapperkiste kommen Sie im Sand nicht weit.«

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