18
Der Fall Jane Doe wurde zunehmend verworrener.
Auch wenn Lena noch nicht viele Berufsjahre vorweisen konnte, reichte ihre Erfahrung, um zu wissen, dass die Kunst der Aufklärung eines Falles darin lag, die Fakten möglichst zu vereinfachen. Man durfte sich zwar von seiner Phantasie und seinem Bauchgefühl leiten lassen, jedoch nur auf der Grundlage von vorhandenen Informationen handeln.
Dr. Joseph Fontaine versuchte die Tatsache zu verschleiern, dass er das Opfer gekannt hatte. Als sie ihn zu dem Mord befragt hatten, hatte er erst gelogen, dann mit seinem Anwalt gedroht und schließlich zwei Leibwächter angeheuert. Jane Doe hatte die Identität einer Toten gestohlen und sechs Tage vor ihrer Ermordung fünfzigtausend Dollar auf ihr Girokonto eingezahlt. Die Herkunft des Geldes hatte sie absichtlich verheimlicht, was auf Erpressung hindeutete. Nach einer Reihe von digitalisierten Aufnahmen zu urteilen, sah der Mann, der Entführer vom Parkplatz, Fontaine nicht gerade sehr ähnlich. Und dennoch besaß der Mann, der den Mord begangen und die Leiche der Frau zerstückelt hatte, wie Fontaine militärische Erfahrung und medizinische Kenntnisse.
Als Lena vom Freeway abfuhr, erkannte sie den Neonhahn auf dem Dach. Rhodes, der sich gerade von seinem Partner den neuesten Stand der Dinge hatte erläutern lassen, klappte sein Mobiltelefon zu und lehnte sich an die Beifahrertür.
»Tito war gerade bei Fontaine. Der Herr Doktor verweigert die Aussage.«
»Hat er ihn persönlich gesprochen?«
Rhodes schüttelte den Kopf. »Fontaine hat ihm das Betreten des Grundstücks verboten. Tito hat es nicht einmal durchs Gartentor geschafft.«
»Und wie klang Fontaine seiner Ansicht nach?« »Er wurde nicht so recht schlau aus ihm. Fontaines Nachbarn haben ihm erzählt, sie wären früher mit ihm befreundet gewesen. Doch vor ein paar Jahren sei etwas geschehen. Er sei immer merkwürdiger geworden und habe sich vor seinen Mitmenschen zurückgezogen. Die Nachbarin erinnert sich, sie sei bei einer Party einmal in die Küche gekommen und habe Fontaine bei einem ausführlichen Selbstgespräch ertappt. Laut Tito hat sie die Worte Dr. Jekyll und Mr. Hyde benutzt.«
»Dann halten seine Nachbarn ihn also für bescheuert?« »Hört sich fast so an«, erwiderte Rhodes. »Hast du dir schon überlegt, was passiert, wenn Klinger das Foto unseres Zeugen freigibt und die Fernsehsender es bringen?«
Diese Frage hätte er sich sparen können, denn sie grübelte schon darüber nach, seit sie das Parker Center verlassen hatten. Ihr war noch immer nicht wohl bei der Sache, da sie dem Mörder auf diese Weise einen Vorsprung verschafften. Sobald das Foto des Zeugen publik gemacht wurde, war das Leben des jungen Mannes in Gefahr. Auch wenn das selbstverständlich nicht in ihrer Absicht lag, war es offenbar die einzig realistische Methode, ihn ausfindig zu machen. Außer sie hatten das Glück, ihn an einem Geldautomaten oder am Steuer des Wagens des Opfers zu erwischen, der noch immer vermisst wurde. »Freiwillig meldet der sich nie«, stellte sie fest. »Bestimmt nicht. Es ist zu viel Geld auf dem Konto.« Sie versuchte, nicht auf Rhodes’ besorgten Tonfall zu achten. Inzwischen fuhren sie auf der anderen Straßenseite am Cock-a-doodle-do vorbei. Am Ende des Mittelstreifens wendete Lena und nahm den Weg zurück. Das Lokal stand abgelegen auf einem Grundstück zwischen der Prairie Avenue und dem Freeway 105. Als sie in die abschüssige Einfahrt einbog, erschien es ihr eher wie ein Familienrestaurant als wie ein Bordell. Erst als sie beim Näherkommen ein zweites Gebäude hinter dem Lokal entdeckte, wurde ihr klar, dass Klinger Recht hatte. Der Laden sah aus wie ein drittklassiges Motel, das sicher nicht vom Automobilclub empfohlen wurde. Das Mädchen, das gerade einen Mann in ein Zimmer im ersten Stock begleitete, trug Stilettoabsätze und ein durchsichtiges Oberteil und hatte weder Gepäck noch einen Karren mit Reinigungsmitteln bei sich.
»Die besten Hühnchen von L.A.«, raunte Rhodes.
Damit hatte er nicht den Mann und die Frau gemeint, die gerade das Zimmer betraten, sondern las die Neonreklame auf dem Restaurantdach laut vor. Doch Lena war sein Grinsen nicht entgangen, und sie lachte auf, weil sie wusste, dass er sie nur aufmuntern wollte. Als sie sich umdrehte, bemerkte sie den Müllcontainer unter den Bäumen am Ende des Parkplatzes. Sie nahm die Standaufnahme aus dem Video des Zeugen aus der Akte, die zwischen ihnen auf dem Sitz lag. Nachdem sie sie gemustert und den Blickwinkel abgeschätzt hatte, reichte sie Rhodes das Foto. Sie stiegen aus.
Der Parkplatz war nahezu verlassen. Es wehte eine kühle Brise. Lena blickte zum Himmel hinauf und beobachtete ein Flugzeug, das versuchte, trotz des Windes auf Flugfläche zu bleiben. Das Fahrwerk war ausgeklappt, der Flughafen befand sich wenige Kilometer entfernt im Westen. Als sie um das Auto herumging und sich zu den Gebäuden umdrehte, hatte sie die Bestätigung, die sie brauchte.
An dieser Stelle hatte die Entführung stattgefunden. Alles stand an seinem Platz. Es gab nicht den geringsten Zweifel.
Rhodes drückte ihr das Foto wieder in die Hand und griff nach seinem Mobiltelefon. »Offenbar ist hier die Spurensicherung gefragt.«
Lena schwieg. Während er telefonierte, schlenderte sie zum Müllcontainer hinüber. Der Deckel war offen, der Container leer. Sie machte einen Schritt rückwärts und berechnete, wo Jane Does vermutlich gelegen hatte. Dann ging sie in die Knie und untersuchte den rissigen Asphalt, das Unkraut und das verdorrte Gras. Wahrscheinlich war seit der Entführung und dem Mord jeden Tag der Müll abgeholt worden. Dennoch war es möglich, auf dem Boden genug Spuren sicherzustellen, die bewiesen, dass das Verbrechen hier seinen Lauf genommen hatte.
»Sie sind unterwegs«, meldete Rhodes.
Lena blickte auf und betrachtete den Detective, der im Sonnenlicht stand.
»Klinger hatte Recht«, sagte sie leise.
»Auch ein blindes Huhn findet einmal ein Korn.«
Die Tür des Restaurants öffnete sich. Als sie sich umdrehten, bemerkten sie auf der Vortreppe eine junge Kellnerin, die sie ängstlich ansah.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie. »Das Herumlungern ist hier verboten, und wir haben noch nicht geöffnet. Das Grundstück ist Privatbesitz.«
»Es ist ein Tatort«, entgegnete Lena.
»Ein was?«
Lena richtete sich auf. »Ein Tatort!«, rief sie. »Wir müssen mit Ihnen reden.«
Die Miene der Kellnerin änderte sich schlagartig. Selbst aus dieser Entfernung erkannte Lena, dass sie erstarrte. Nachdem sie das Foto wieder in der Akte im Auto verstaut hatte, näherten sie und Rhodes sich dem Mädchen auf der Treppe.
»Ich bin hier nur Kellnerin«, stammelte sie. »Mehr nicht. Ich bediene die Gäste.«
Rhodes warf erst Lena und dann dem Mädchen einen beschwichtigenden Blick zu.
»Immer mit der Ruhe«, sagte er. »Deshalb sind wir nicht hier. Am besten unterhalten wir uns drinnen weiter.«
Als das Mädchen forschend ihre Gesichter musterte, glaubte Lena, etwas Erwartungsvolles in ihren blaugrünen Augen zu erkennen, einen Anflug von Hoffnung, als verstünde sie den wahren Grund ihres Besuchs und hätte schon lange damit gerechnet.
»Wie heißen Sie?«, fragte Lena.
»Natalie Wells.«
»Wir wollen reingehen.«
Rhodes öffnete die Tür. Beim Eintreten schlug ihnen warme, duftende Luft entgegen, und Lena roch das Aroma der Brathühner, die sich am Grill hinter der Theke drehten. Rechts von ihr war bereits für das Mittagessen, das Abendessen und das, was danach kam, ein Kaminfeuer angezündet worden. Die rückwärtige Wand wurde von einer Reihe von Sitznischen eingenommen. Zwei andere Kellnerinnen deckten gerade die Tische in der Mitte des Raums.
Am meisten überraschte Lena, dass das Lokal so gar nicht ihren Erwartungen entsprach. Große Schwarzweißaufnahmen, die die Stadt in den Fünfzigerjahren zeigten, schmückten die frisch gestrichenen weißen Wände. Der Parkettboden war ebenso blitzblank poliert wie der Kaminsims und die Rahmen von Fenstern und Türen. Außerdem bestanden die Tischdecken, die die Kellnerinnen soeben ausbreiteten, nicht aus Papier, sondern aus Leinen. Als Lena einen Schritt nach rechts machte, sah sie eine Hammond-B-3-Orgel, ein Schlagzeug und drei Mikrofone. Offenbar handelte es sich beim Cock-a-doodle-do nicht um eine Kaschemme, sondern um ein sauberes, einladendes Lokal, in dem sogar Jazz gespielt wurde.
Die Küchentür ging auf, und eine Frau mittleren Alters erschien. Sie trug eine schwarze Hose und eine weiße Bluse und wirkte gepflegt und kultiviert. Ihre Miene verriet Lena, dass sie sie als Polizisten erkannt hatte, noch ehe die Tür hinter ihr zugefallen war. Beim Näherkommen wandte sie sich an die Kellnerin.
»Was ist los, Natalie? Gibt es ein Problem?«
»Wir sind von der Abteilung für Raub und Tötungsdelikte«, erwiderte Rhodes. »Sind Sie die Geschäftsführerin?«
Die Frau drehte sich zu ihm um. »Catherine Valero«, entgegnete sie. »Mir gehört dieses Restaurant. Was kann ich für Sie tun?«
Lena klappte die Akte auf und zeigte ihr das Foto des Opfers. »Letzten Mittwoch wurde diese Frau auf Ihrem Parkplatz entführt. Vielleicht haben Sie es ja im Fernsehen gesehen. Ihre Leiche wurde in Hollywood gefunden.«
Valero betrachtete, anscheinend betroffen, das Foto. »Mittwochs habe ich frei. Aber Natalie war hier.«
Lena wandte sich wieder an die Kellnerin, die die Arme noch fester vor der Brust verschränkte als zuvor. In ihren Augen malte sich noch immer ein Hilferuf.
»Ich habe sie bedient«, flüsterte sie.
Lena wechselte einen kurzen Blick mit Rhodes. Sie wurde von Aufregung ergriffen.
»Wir unterhalten uns besser später«, meinte Rhodes zu Valero. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir allein mit Natalie reden?«
»Natürlich nicht. Setzen Sie sich, und machen Sie es sich gemütlich. Möchten Sie etwas trinken?«
»Nein danke«, erwiderte er.
Während Valero in die Küche zurückkehrte, sah Rhodes die beiden anderen Kellnerinnen an und wies auf einen Tisch am Kamin, der außer Hörweite war. Nachdem sie Platz genommen hatten, schlug Lena die Akte auf. Sie stellte fest, dass Natalie Wells zitterte. Die junge Frau war höchstens zwanzig Jahre alt und zierlich und hatte eine kurvenreiche Figur. Ihr Haar hatte den bestimmten Braunton, der im Sommer heller wurde. Auf Lena machte sie einen ausgesprochen sanften und hilflosen Eindruck.
»Wovor haben Sie solche Angst?«, fragte sie.
»Ich habe keine Angst.«
»Kannten Sie die Frau?«
Wells schüttelte nur den Kopf, senkte den Blick und schlang schutzsuchend die Arme um den Leib. »Ich habe sie nur bedient.«
»Das hier ist nicht bloß ein Restaurant, richtig?«
»Ja«, flüsterte sie.
»War sie ein Stammgast?«
»Ich habe darüber nachgedacht. Sie kommt mir zwar bekannt vor, aber ich glaube nicht.«
»Wie lange arbeiten Sie schon hier?«
»Seit ein paar Monaten.«
»Nur im Restaurant?«
Wells hielt inne und starrte auf das Gedeck vor sich. »Nein«, antwortete sie schließlich. »Nicht nur im Restaurant.«
Ihre Worte hingen in der Luft, gemeinsam mit der Vorstellung, was in dem zweiten Gebäude auf diesem Parkplatz vor sich ging.
»Also gut«, fuhr Lena fort. »Sie haben also am Mittwochabend gearbeitet und an den Tischen bedient.«
Endlich hob Wells den Blick von der Tischdecke. »Sie hat eine Tasse Kaffee bestellt.«
»War sie allein?«
Wells schüttelte den Kopf. »Sie ist allein gekommen. Dann hat sich ein Typ zu ihr gesetzt. Als ich den Kaffee brachte, hat er ein Glas Eiswasser mit Zitrone geordert. Er nannte sie Jennifer.«
»Hat sie ihn mit Namen angesprochen?«
»Nein. Aber ich hatte den Eindruck, dass sie einander kannten und sich schon öfter getroffen hatten. Es passiert häufig, dass ein Gast immer dasselbe Mädchen will.«
»Konnten Sie hören, was die beiden sagten?«
»Sie haben nur über Belanglosigkeiten geredet.«
»Sind sie lange geblieben?«
»Vielleicht eine halbe Stunde. Dann sind sie aufgestanden, als wollten sie gehen. Doch er hat es sich anders überlegt und gemeint, er würde zuerst sein Eiswasser austrinken. Sie ist raus, und er blieb noch eine Weile sitzen. Ich hatte das Gefühl, dass es ihm Spaß machte, sie warten zu lassen.«
Lena sah Rhodes an, der sich zurückgelehnt hatte und sich wortlos Notizen machte. Als ein Sonnenstrahl durch das Fenster hereinfiel und sein Gesicht beleuchtete, erkannte sie, dass sich Mitgefühl in seinen Augen malte.
Lena nahm Fontaines Foto von der Zulassungsstelle aus der Akte, wo Rhodes es vor ihrem Aufbruch aus dem Parker Center hineingelegt hatte.
»Das ist er nicht«, verkündete Wells. »Er war jünger und attraktiver.«
Lena zeigte ihr eine Aufnahme des Zeugen, auf der dieser gerade Geld aus dem Geldautomaten stahl. Wells hielt eine Weile inne und überlegte.
»Dieses Gesicht kenne ich«, meinte sie. »Aber er war es auch nicht.«
»Wir glauben, dass er am fraglichen Abend hier war«, erklärte Lena.
Wells betrachtete noch einmal das Foto. »Es war ziemlich viel los.«
Lena legte das Foto für später beiseite und förderte die Gesichtergalerie zutage, die Rollins auf seinem Computer hergestellt hatte. »Was ist mit diesen Männern?«
Das Mädchen ließ den Blick über die sechs Gesichter schweifen. »Die kommen mir ebenfalls bekannt vor. Doch ich weiß nicht, woher.«
»Sie kommen Ihnen alle bekannt vor?«
»Tut mir leid«, sagte sie. »Hier herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Jedenfalls ist keiner dieser Männer der, mit dem sie zusammen war.«
Lena platzierte die Gesichtergalerie neben die Aufnahme aus der Überwachungskamera des Geldautomaten. Schweigend lauschte sie dem Geräuschpegel im Restaurant und musterte Wells dabei forschend. Das Mädchen war noch immer nervös. Zu nervös. Nach zehn Minuten hätte sich das Schamgefühl wegen der Art und Weise, wie sie ihren Lebensunterhalt verdiente, eigentlich gelegt haben müssen. Dennoch hatte sie die Arme noch immer fest um den Leib geschlungen. Ihre ganze Körperhaltung wirkte starr und abweisend.
»Sie verheimlichen uns etwas«, stellte Lena schließlich fest. »Sie sagen uns nicht die Wahrheit. Als Sie vor zehn Minuten rauskamen, war Ihnen sofort klar, wer wir sind und was wir hier wollen.«
Wells erwiderte wortlos ihren Blick.
»Haben Sie Angst um Ihren Job?«, bohrte Lena weiter. »Sind Sie Zeugin der Entführung geworden? Werden Sie unter Druck gesetzt?«
»Nein«, entgegnete sie. »Ich habe den Bericht im Fernsehen gesehen und mich nicht gemeldet.«
»Gut, also haben Sie ein schlechtes Gewissen. Doch offenbar steckt noch eine ganze Menge mehr dahinter. Sie verschweigen uns etwas. Etwas, das Sie wissen und das wichtig sein könnte.«
Anstelle einer Antwort stand Wells auf und durchquerte den Raum. Ihre Handtasche stand auf der Theke neben einer Tasse Tee, einem Taschenbuch und einer Zeitung, die jemand gelesen und in der Mitte gefaltet hatte. Sie griff nach der Zeitung, kehrte zum Tisch zurück und schlug den Wirtschaftsteil auf. Lena sah Rhodes an und beobachtete dann, wie Wells die Zeitung vor ihnen ausbreitete und auf ein Foto wies.
»Das ist der Mann, mit dem sie zusammen war«, sagte sie. »Mit dem da.«