20
Ruckartig riss sie die Augen auf. Ihr Blick fiel auf das leere Weinglas, das neben der Mordakte auf dem Couchtisch stand. Dann auf die Regale an der Wand, die Hunderte von LPs und CDs enthielten.
Sie hörte Musik – Buddy Guys Version von »Sweet Little Angle« lief leise im Hintergrund, allerdings nicht auf dem CD-Spieler, sondern auf einem Internet-Sender. Als sie allmählich wieder klar im Kopf wurde, erinnerte sie sich daran, dass sie die Webseite von 88.1, einem Sender mit Sitz in Long Beach, angeklickt hatte. Gestern Abend war es zu windig gewesen, um in der kalten Luft, die durch die Hügel von Hollywood pfiff, ein Kurzwellensignal aufzufangen.
Die Santa Anas waren wieder da. Die Teufelswinde.
Ihr Blick glitt über die Decke und die Schatten entlang bis zur Küche. Die Wanduhr über dem Herd zeigte halb acht Uhr morgens an. Sie war noch angezogen und lag – nach einer kurzen und unruhigen Nacht – auf dem Sofa. Außerdem vibrierte ihr Mobiltelefon und hüpfte auf dem Tisch hin und her.
Sie setzte sich auf und betrachtete die Anzeige. Obwohl der Anrufer seine Nummer unterdrückt hatte, klappte sie es auf, meldete sich und lauschte.
»Lena Gamble?«
Es war eine Männerstimme. Glatt wie Seide. Ein Mensch, den sie nicht kannte und auch nicht einordnen konnte.
»Ist da Lena Gamble?«, wiederholte der Mann.
»Ja.«
»Lena, hier spricht Buddy Paladino.«
Schlagartig war sie hellwach.
Buddy Paladino hatte den Hauptverdächtigen in ihrem letzten Fall vertreten. Und damit nicht genug. Paladino war ein Strafverteidiger, der sich als Rächer der Enterbten einen Namen gemacht und nach den Unruhen des Jahres 1992 der Polizei von Los Angeles ordentlich eingeheizt hatte. Er liebte seinen Beruf, war ein fähiger Jurist und hatte den Steuerzahler einige Hundert Millionen Dollar in Form von Schadensersatzzahlungen gekostet. Obwohl sich die meisten seiner Fallakten wie Romane lasen, besaß Paladino ein besonderes Talent dafür, den jeweiligen Staatsanwalt in der Luft zu zerreißen, ganz gleich, wie gut dieser auch vorbereitet sein mochte, seine Schwachstellen zu entblößen und die Geschworenen mit seiner sanften Stimme und seinem berühmten Lächeln für sich zu gewinnen. Seinem Eine-Million-Dollar-Lächeln. Das war nun über fünfzehn Jahre her, und sein Ruf als Kämpfer für die Unterdrückten verblasste allmählich. Inzwischen spielte Paladino nämlich in einer anderen Liga, war ein aalglatter Rechtsverdreher geworden und vertrat nur noch Mandanten, die sich seine astronomischen Honorare leisten konnten.
»Verzeihung, dass ich Sie an einem Sonntagmorgen störe«, begann er. »Hoffentlich habe ich Sie nicht geweckt.«
Lena verzog das Gesicht. Wenn Dean Tremell Paladino mit der Vertretung seines Sohnes beauftragt hatte, hätte er sich für diese Mitteilung wirklich einen besseren Zeitpunkt aussuchen können. Dennoch war Paladino genau der richtige Mann für diesen Fall.
»Sie haben mich nicht geweckt«, erwiderte sie. »Woher haben Sie meine Mobilfunknummer?«
»Von einem gemeinsamen Freund, der nicht wirklich ein Freund war und nicht mehr unter uns weilt.«
Diese Antwort erinnerte zwar an die Nebelkerzen, mit denen Paladino sonst im Gerichtssaal um sich warf, war aber diesmal nicht so gemeint. Lena kannte den Freund, der nicht wirklich ein Freund war, und war froh, dass der Anwalt seinen Namen nicht erwähnt hatte.
»Was ist los?«, fragte sie.
»Wir müssen uns treffen, Lena, und miteinander sprechen.«
»Worüber?«
»Das würde ich lieber nicht am Telefon erörtern. Doch es ist mir sehr wichtig, und Sie würden mir damit einen großen Gefallen tun. Ich wäre Ihnen zu tiefstem Dank verpflichtet. Angesichts der momentanen Weltlage könnten Sie mich vielleicht eines Tages gebrauchen. Und ich brauche Sie jetzt.«
Lena ging zur Schiebetür und schaute auf die Stadt hinunter, ohne sie zu sehen. Paladino sprach in Rätseln. Irgendetwas war da faul. Sie nahm einen Stift vom Küchentresen.
»Wo?«, sagte sie.
Er nannte ihr eine Adresse in Hollywood, die sie sich notierte. Die Barton Avenue ging von der Gower Street ab, und zwar gleich nördlich der Paramount Studios, gegenüber dem Hollywood-Memorial-Friedhof.
»Danke, Lena«, raunte er, bevor er auflegte. »Kommen Sie, so schnell Sie können. Es ist wichtig.«
Mit einem mulmigen Gefühl betrachtete Lena das Telefon. Doch als sie den Raum verließ, war sie in gewisser Weise erleichtert, dass Paladino sie mobil angerufen hatte. Die interne Abteilung hatte nämlich eine weitere Nacht vor ihrem Haus campiert. Sie leitete die auf dem Festnetz eingehenden Anrufe zwar noch immer aufs Mobiltelefon um, doch die Detectives, die sie überwachten, hätten trotzdem das erste Läuten gehört, ehe die Computer der Telefongesellschaft ihren Dienst taten. Rhodes hatte gestern Abend während der Fahrt nach Oxnard zu seiner Schwester angerufen, die am Montag operiert werden sollte. Auch Lieutenant Barrera hatte sich gemeldet. Matt Kline, ein Detective von der Pacific Division, hatte angefragt, ob sie seine Vernehmungsprotokolle erhalten habe, denn er hatte sämtliche Nachbarn des Opfers in Venice Beach abgeklappert. Außerdem hatte Kline die Gelegenheit genutzt, sich in der Wohnung des Opfers umzuschauen. Mit den Protokollen waren auch die neuen Schlüssel abgegeben worden. Früher oder später würden die Herrschaften von der Abteilung für Interne Ermittlungen hinter ihren Trick mit dem Telefon kommen.
Lena duschte rasch, zog frische Sachen an und schnappte sich einen Bagel mit Salzkruste. Am Ende ihrer Auffahrt angekommen, blieb sie kurz stehen und hielt Ausschau nach dem Caprice. Sie konnte ihn durch die Äste der Bäume rechts hinter der Kurve ausmachen. Als sie links abbog und Gas gab, sah sie, wie der Wagen im Rückspiegel kleiner wurde. Ihr Verstand arbeitete schneller als die Gangschaltung ihres Honda. Beim Gedanken an Buddy Paladinos Stimme bekam sie Herzklopfen. Wirklich seltsam, dass er sie angerufen hatte.
Die Barton Avenue verlief kerzengerade und begann etwa vier Kilometer entfernt von ihrem Haus am Fuße des Hügels. Am Friedhof bog Lena rechts ab und sah sich suchend nach dem Anwalt um. Das Viertel, schon vor langer Zeit aufgegeben, wurde inzwischen von mit Graffiti beschmierten Mauern und kilometerlangen Absperrungen aus Natodraht geprägt. Eine Mischung aus billigen Wohnblocks und Eigenheimen im Pueblostil wechselte sich mit einstöckigen altmodischen Holzhäusern mit Veranda ab, schmalen, schachtelähnlichen Gebäuden, die nur so breit waren wie ein Zimmer und angeblich von der Veranda aus eine gerade Schusslinie bis zur Hintertür boten. Eigentlich hatte dieses Viertel seine Geschichte den Glanzzeiten der Paramount Studios und der daraus entstandenen Nachfrage nach preiswertem Wohnraum zu verdanken. Hier hatten die Bühnenbildner, Beleuchter und die zahlreichen Komparsen gelebt, die in den Massenszenen gebraucht wurden. Mittlerweile jedoch war die Gegend heruntergekommen, vergessen von einer Welt, die erst von Schwarzweiß zu Technicolor und schließlich zur Computeranimation übergelaufen war.
Lena bemerkte einen auf Betonbausteine aufgebockten Wagen. Die Scheiben waren eingeschlagen, alle vier Reifen gestohlen. Als sie um die Ecke bog, fiel ihr Blick auf einen Acura RL, der rechts von einigen Häusern auf dieser Seite des El Centro parkte. Buddy Paladino trat von der Veranda und winkte ihr zu.
Er trug eine Khakihose, ein Oxford-Hemd und eine Lederjacke. Noch nie hatte Lena ihn in so lässiger Kleidung gesehen. Und noch nie hatte sie ihn – weder persönlich noch auf einer Abbildung in der Zeitung – mit so niedergeschlagener, besorgter und bedrückter Miene erlebt.
Sie stoppte vor dem RL. Als er die Hand nach dem Türgriff ausstreckte, entriegelte sie die Türen und wartete, bis er eingestiegen war.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte er.
»Vertreten Sie den Jungen?«
»Welchen Jungen?«
Sie musterte ihn. Der Verteidiger mit dem Eine-Million-Dollar-Lächeln war eindeutig nervös.
»Vielleicht sollten Sie mir erklären, was hier gespielt wird«, meinte sie.
Paladino nickte und schaute dann an ihr vorbei durch die Scheibe auf der Fahrerseite. »Sehen Sie das Haus da drüben?«
Lena folgte seinem Blick zu dem schmalen Holzhaus gegenüber. Die Verkleidung wellte sich und wirkte ziemlich verwittert. Zwei Fenster mussten dringend ersetzt werden. Die rostige Fliegengittertür hing schief in den Angeln.
»In diesem Haus bin ich aufgewachsen, Lena. Fünf Jahre meiner Kindheit habe ich hier verbracht, bevor wir nach Norden gezogen sind. Und wissen Sie was? Damals war das Viertel zwar noch nicht so kaputt wie heute, allerdings auch nicht das Paradies. Die einzigen Nachbarn von früher, die noch hier wohnen, sind die Andolinis.«
Er drehte sich um und betrachtete das Haus der Familie. Am Ende der Auffahrt stand eine Garage, die Lena jedoch nur zum Teil ausmachen konnte. Der Rasen war zwar gemäht und das Haus machte insgesamt einen sauberen und gepflegten Eindruck, brauchte aber unbedingt ein neues Dach. Außerdem waren seit dem letzten Anstrich mindestens fünf bis zehn Jahre vergangen. Wie bei allen Häusern in dieser Straße waren Türen und Fenster vergittert. Lena stellte sich vor, dass die Bewohner vermutlich eine ähnliche Aussicht genossen wie in einer Gefängniszelle.
Paladino räusperte sich. »Um die Wahrheit zu sagen, wusste ich nicht, ob sie noch hier wohnten oder ob sie überhaupt noch am Leben sind. Als Kind erscheint einem jeder Erwachsene alt. Meine Familie hatte nicht viel Geld, und Mrs. Andolini war eine begeisterte Köchin. Ihre Tür stand immer offen. Bis heute muss ich immer an sie denken, wenn ich ein Stück Pizza esse. Keine Pizza war so lecker wie ihre. Und obwohl ich seitdem viele Leute kennengelernt habe, war niemand so nett zu mir wie sie.«
Lena öffnete ihren Sicherheitsgurt und drehte sich zu Paladino um. Obwohl es ihr schwer gefallen war, hatte sie ihn reden lassen. Sie empfand die Situation, als beobachte man, wie sich die schwarze Säule eines Tornados am Horizont näherte, und zähle die Minuten bis zu ihrer Ankunft. Am Ende dieses Gesprächs wartete eine ausgewachsene Hiobsbotschaft auf sie. Es stand dem Anwalt ins Gesicht geschrieben. »Ich habe Sie angerufen, Lena, weil diese Leute Teil meines Lebens sind. Es sind anständige Menschen. Sie sind arm, und sie sind sehr alt. Weil Sie selbst so viel durchgemacht haben, kann ich mich sicher darauf verlassen, dass Sie sie ordentlich behandeln werden.«
»Wo liegt das Problem?«, fragte Lena. »Was ist passiert?« Paladino sah sie an. »Wir wollen zur Garage gehen.« Als sie ausstiegen und die schmale, mit Kies bestreute Auffahrt hinaufmarschierten, wurde das Gefühl in Lenas Brust stärker. Die Garage hinter dem Haus kam in Sicht, und sie bemerkte, dass eine Tür auf der rechten Seite des Gebäudes einen Spalt weit offen stand.
»Sie haben das Gebäude vermietet«, erklärte Paladino. »Und weil sie befürchtet haben, in Schwierigkeiten zu geraten, hatten sie Angst, die Polizei zu verständigen.« »Warum sollten sie denn in Schwierigkeiten geraten?« Aber Paladino konnte sich die Antwort sparen, denn Lena roch es bereits aus drei Metern Entfernung. Es war der scharfe, säuerliche Gestank von verwesendem Blut, und zwar so heftig und übel, dass in dieser verfallenen Garage offenbar eine ganze Menge davon vergossen worden war.
Paladino machte ihr Platz. »Die Andolinis haben das Foto im Fernsehen gesehen«, sagte er. »Weil die Aufnahme so verschwommen war, waren sie nicht sicher, ob er es ist. Der Kerl hat eine Jahresmiete im Voraus in bar bezahlt. Wie schon erwähnt, sind es arme Leute. Sie brauchen das Geld und würden es gern behalten.«
»Also sind Sie hergekommen, um nach dem Rechten zu sehen.«
»Sie haben sich an mich gewandt. Zum Glück. Jetzt kann ich ihnen helfen.«
Lena musterte die Tür, während Paladino hinter ihr auf dem Rasen stehen blieb.
»Das Schloss wurde ausgetauscht«, stellte sie fest. »Wer hat den Schlüssel?«
»Das hat der Typ getan, nachdem er die Garage gemietet hatte.«
»Hat dieser Typ auch einen Namen?«
»Er hat nichts unterschrieben. Aber er nannte sich Nathan Good.«
Lena ließ den Namen auf sich wirken. Nathan Good.
»Wie haben Sie die Tür aufgekriegt?«, fragte sie.
»Mit einem kräftigen Tritt.«
»Waren Sie drin? Haben Sie etwas angefasst?«
»Die Tür ging nicht weiter auf, und ich passte nicht durch den Spalt. Außerdem kenne ich den Geruch des Todes. Also habe ich erst mit den Andolinis gesprochen und Sie dann angerufen. Seitdem warte ich auf der Veranda auf Sie.«
Lena drehte sich um, betrachtete sein Gesicht und war sicher, dass er die Wahrheit sagte. Hinter ihm bemerkte sie das alte Ehepaar, das sie durchs Küchenfenster beobachtete. Die beiden machten einen verängstigten Eindruck und wirkten mager, gebrechlich und eher greisenhaft als alt.
Lena wandte sich wieder der Tür zu und erkannte, dass sich das Fundament mit den Jahren gehoben hatte. Deshalb ließ sich die Tür nicht weiter öffnen. Also holte sie tief Luft, zwängte sich durch die Öffnung und spähte in die Dunkelheit. Nachdem ihre Augen sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, konnte sie einige Einzelheiten wahrnehmen. Sosehr sie auch versuchte, sich zu beruhigen, liefen ihr eiskalte Schauder den Rücken hinunter. Vom Deckenbalken baumelte ein Fleischerhaken. An der Wand standen fünf Eimer, gefüllt mit einer dunklen, trüben Flüssigkeit. Man brauchte kein Kriminalist zu sein, um zu wissen, dass es sich um Blut handelte.
Der widerwärtige Gestank in dem engen Raum wurde so überwältigend, dass Lena schon befürchtete, in Ohnmacht zu fallen. Als sie sich umwandte, konnte sie Paladino nicht durch den Türspalt sehen.
»Sind Sie noch da?«, rief sie.
»Ja«, antwortete er.
»Haben Sie ein Taschentuch?«
»Darf es auch aus Papier sein?«
»Besser als nichts.«
Es dauerte eine Weile, bis sein Gesicht im Türspalt erschien und er ihr die Papiertaschentücher reichte.
»Liegt da eine Leiche?«, fragte er.
»Ich glaube, die haben wir schon in der Gerichtsmedizin.«
»Fühlen Sie sich nicht wohl? Möchten Sie die Tür weiter aufmachen?«
Lena hatte darüber nachgedacht, befürchtete aber, ein Luftzug könnte wichtige Beweismittel zerstören, ein Risiko, das sie nicht eingehen durfte.
»Alles in Ordnung«, erwiderte sie.
Ihre Stimme erstarb, denn sie hatte den Tisch am anderen Ende der Garage bemerkt. Das Papiertaschentuch über Mund und Nase, schaute sie sich um, entdeckte einen Lichtschalter und betätigte ihn mit dem Ellenbogen. Der Tisch entpuppte sich als eins zwanzig mal eins achtzig große Pressspanplatte, die auf zwei Sägeböcken ruhte. Lena näherte sich, einen Schritt nach dem anderen. Ihre Bemühungen, ihren Herzschlag zu verlangsamen, waren offenbar vergeblich. Sie erkannte große Blutflecken auf dem Holz und die Einschnitte einer rasiermesserscharfen Klinge. An den Deckenbalken waren zusätzliche Scheinwerfer befestigt.
Allem Anschein nach, hatte sie einen improvisierten Operationstisch vor sich. Der Betonboden unter der Sperrholzplatte war mit einem gleich großen Stück Linoleum bedeckt, offenbar um das Blut aufzufangen.
Ihr Blick wanderte zu dem Fleischerhaken, der in der übelriechenden Luft schwankte. Die fünf Eimer waren mit verwesendem Blut gefüllt. Als sie sich wieder dem OP-Tisch zuwandte, bemerkte sie, dass die Blutflecken bestimmte Muster aufwiesen. Schleifspuren vom Haar des Opfers, die Abdrücke einer Fingerspitze und einer Handfläche. Die Umrisse des Körpers, so deutlich, als hätte man ihn mit Siebdruck auf das Holz gebannt.
Aus dem Augenwinkel sah sie, dass etwas im Lichtschein funkelte. Vorsichtig pirschte sie sich zum anderen Ende des Tisches und stieß auf ein Tranchiermesser, das auf einem Karton für Schnapsflaschen lag. Sie musterte das Messer, ohne es zu berühren. Es waren noch zwei weitere Messer vorhanden; außerdem ein schwarzer Markierstift.
Lena hielt kurz inne und drückte das Papiertaschentuch fester auf ihre Nase.
Die Garage war gereinigt, der Boden gefegt worden. Offenbar hatte jemand die Habe der Andolinis im hinteren Teil des Raums neben einer Werkbank aufgestapelt. Lenas Blick fiel auf einen mit einem Plastikbeutel ausgekleideten Mülleimer. Als sie hineinschaute, lagen mehrere Paare Gummihandschuhe, ein OP-Kittel, eine Schutzbrille, handelsübliche Putzlappen und eine Reihe von Überschuhen aus Papier darin.
Ihre Augen schweiften über die Werkbank. Sie atmete kräftig aus, um die stinkende Luft aus ihrer Lunge zu zwingen. Die Schauder, die ihr den Rücken hinunterliefen, wurden immer stärker, sodass sie zu zittern begann. Auf der Werkbank befand sich eine Rolle Pergamentpapier. Doch noch mehr erschreckte sie der mit einer Schraubzwinge befestigte Fleischwolf.
Lena wich zurück, schloss die Augen und befürchtete schon, sich übergeben zu müssen. Mit aller Kraft schob sie den Brechreiz beiseite und wandte sich ab. Im nächsten Moment nahm sie die Garderobenhaken an der Wand wahr. Vorhin war sie einfach daran vorbeigegangen und hatte ihn in ihrem Entsetzen übersehen.
Nun hatte sie die Kleider des Opfers. Ordentlich an den Haken aufgehängt wie zu Hause im Schlafzimmerschrank. Eine Jeans, eine schlichte weiße Bluse, ein Pulli, BH und Höschen. Auf dem Boden standen nebeneinander ihre Schuhe; die Socken lagen, fein säuberlich gefaltet, darauf.
Als Lena näher herantrat, stieg ihr ein leichter Hauch von Parfüm in die Nase. Es war derselbe Duft, der sich während der Autopsie der jungen Frau gegen den Gestank in der Gerichtsmedizin durchgesetzt hatte. Sie betrachtete die übrigen Garderobenhaken und stellte fest, dass am letzten von ihnen ein Rosenkranz baumelte.
Lena hielt inne. Nur das lautstarke Pochen ihres Herzens, das ihr in den Ohren hallte, durchbrach die bedrückende Stille. Sie dachte an Jane Doe, die junge Frau, die Jennifer McBride die Identität gestohlen hatte und in diesen Alptraum geraten war. Dann versuchte sie, sich die letzten Lebensminuten des Opfers auszumalen, und erinnerte sich an Art Madinas Worte vom Freitag – der Mörder habe sie so lang wie möglich am Leben erhalten. Sie sei nicht schnell oder schmerzlos gestorben.
Der Mann, den die Andolinis als Nathan Good kannten.
Lena riss sich aus ihren Grübeleien. Sie bekam keine Luft mehr und sah, wie ihr Atem durch das Papiertaschentuch drang und in der Kälte Wolken bildete. Inzwischen zitterte sie am ganzen Leibe, empfand das Beben jedoch zunehmend als unwirklich. Lag es an der Dezemberkälte, die ihr bis ins Mark drang? Oder an dieser Hölle, die sich immer enger um sie zusammenzuziehen schien?
Sie schüttelte sich, ging zur Tür, zwängte sich durch den schmalen Spalt und entfernte sich so schnell wie möglich von der Garage. Der Wind hatte die Richtung gewechselt. Die Luft roch feucht und verhieß Regen. Lena hörte, wie sich eine Tür öffnete.
»Kommen Sie rein, und wärmen Sie sich auf.«
Als sie aufblickte, sah sie Paladino auf der Veranda, brauchte aber eine Weile, um ihn zu verstehen.
»Einen Moment noch«, erwiderte sie. »Wo sind die Andolinis?«
»Sie haben sich hingelegt. Ich habe sie vor Ihrer Ankunft gründlich befragt und dachte, Sie könnten später mit ihnen reden. Sie sind ziemlich blass um die Nase, Lena. Kommen Sie, setzen Sie sich.«
Lena holte tief Luft und bemühte sich um Beherrschung. Dann folgte sie Paladino die Stufen hinauf in die Küche. Der kleine Raum war blitzsauber und mit altmodischen Gerätschaften ausgestattet. Lena trat ans Spülbecken und drehte das heiße Wasser auf. Während sie sich das Gesicht wusch, fielen ihr die vielen Döschen mit verschreibungspflichtigen Medikamenten auf dem Fensterbrett auf. Es waren mindestens dreißig verschiedene Tabletten. Eine kleine Zimmerpflanze teilte die Reihe in zwei Hälften. Es war ein Usambaraveilchen in voller Blüte. Rechts und links von der Pflanze waren Zettel mit der Aufschrift »Sie« und »Er« am Fensterbrett befestigt.
Paladino musterte sie. »Wie war es da drin?«, fragte er mit leiser Stimme.
»Genauso, wie Sie es sich vorgestellt haben«, erwiderte sie.
»Dann ist das hier also der Tatort?«
»Richtig.«
Lena drehte das Wasser ab. Ihr Herz hämmerte noch immer in ihrer Brust, als sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.
»Warum haben Ihre Freunde Sie angerufen, obwohl sie das Foto im Fernsehen nicht erkannt haben?«, erkundigte sie sich schließlich.
»Mittwochnacht ist doch die Tatzeit, oder?«
Lena lehnte sich an die Anrichte und nickte.
»Er ist gegen elf hier aufgekreuzt und hat rückwärts an die Garage heranrangiert. Sie sind von den Scheinwerfern wach geworden. Mir haben sie erzählt, er hätte vier Stunden da drin verbracht und sei erst nach drei Uhr morgens wieder weggefahren. Außerdem habe er einen offenbar ziemlich schweren Müllsack herausgeschleppt.«
»Haben Sie sie gefragt, was für ein Auto er fährt?«
»Einen roten Hummer. Aber sie wissen nicht, welches Kennzeichen. Sie hatten ja auch keinen Grund, sich dafür zu interessieren. Am Freitag haben sie die Sendung gesehen. Und gestern haben sie dann eins und eins zusammengezählt.«
Lena warf einen Blick auf die Kaffeekanne.
»Die Tassen stehen hinter Ihnen im Schrank«, sagte Paladino »Doch er ist nicht sehr gut. Ich habe ihn nicht runtergekriegt.«
Lena war das egal. Sie brauchte nur etwas, um sich aufzuwärmen. Also drehte sie sich zum Schrank um und öffnete die erste Tür.
»Die andere«, meinte er.
Obwohl sie ihn gehört hatte, starrte sie weiter in den Schrank. Bis auf eine einsame Thunfischdose und eine halb volle Schachtel Rigatoni war der Schrank leer. Sie sah erst Paladino und dann die Tabletten auf dem Fensterbrett an. Die Andolini brauchten Essen und Medikamente, um am Leben zu bleiben, konnten sich aber nur eines von beidem leisten. Etwas stimmte hier nicht.