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Es klang, als wäre eine Melone explodiert. Blut spritzte über den Asphalt, bis Klingers Caprice von einer feinen Schicht bedeckt war.

Lena sprang auf und starrte die Leiche neben sich an. Als jemand nach ihrer Hand griff, hob sie entsetzt den Kopf. Sie schaute Rhodes in die Augen und begriff endlich, dass das Echo des Schusses noch in den tief hängenden Wolken widerhallte und dröhnend die Dunkelheit durchdrang.

Das konnte keine Pistole gewesen sein.

Und es war bestimmt nicht Klinger, der da, ein kleines Loch im Kopf, vor ihr lag. Eine dünne Schicht seiner Gesichtshaut hatte sich abgelöst, die sie an einen Latexhandschuh denken ließ. Sie sah ihn noch immer, wie er gewesen war, als lebendigen Menschen. Doch alles andere galt nicht mehr.

Lena fuhr herum und spähte hinter sich. Drei Gestalten standen hinter dem Lincoln auf der Autobahnbrücke. Der Kofferraum war offen, und sie sah, dass Barrera durch ein Fernglas blickte. Der Polizeichef nahm ein großes Gewehr von der Dachreling und reichte es dem Mann, der vorhin auf dem Beifahrersitz gesessen hatte.

Lena brauchte einen Moment, um zu begreifen, was gerade geschehen war. Die Zeit verzögerte sich, bis sie endlich verstand und die Ereignisse sich zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügten.

Polizeichef Logan hatte ihnen gerade das Leben gerettet – der Mann, der ein M 21-Gewehr neben seinen Auszeichnungen aus dem Vietnamkrieg an der Wand hängen hatte. Aus einem ihr unbekannten Grund hatte der ehemalige Scharfschütze sein Ziel in der Dunkelheit anvisiert und mit einem einzigen Schuss erledigt.

Sie stellte fest, dass Rhodes die Hand hob. Barrera gab ihnen ein Zeichen, dass die Hilfe unterwegs war. Das alles passierte wirklich. Und obwohl Lena ihrer eigenen Wahrnehmung noch nicht ganz traute, verschlug es ihr den Atem.

Es drehte ihr fast den Magen um, als sie sich über Klinger beugte. Sie wälzte seine Leiche zur Seite, löste seinen Gürtel und griff nach ihrer .45er und nach Rhodes’ Glock. Dann liefen sie den Hügel hinunter.

Die Limousine stand noch da. Der Audi ebenfalls. Beide Autos dampften in der kalten Luft. Aber offenbar hatten die Ratten die Schüsse gehört und das sinkende Schiff verlassen. Rhodes ging um die Limousine herum zum Kofferraum, nahm eine Handvoll Geldscheine aus der Reisetasche und warf sie hoch in die Luft. Weit konnten die Männer nicht gekommen sein, und es bestand kein Zweifel, dass sie die Beute nicht im Stich lassen würden.

Lena zählte die zwölf Pfeiler, die die Überführung stützten. Während Rhodes auf die Bäume und das Unterholz am Rande des Freeway zusteuerte, hielt sie Ausschau nach ihren Widersachern. Die Sichtweite betrug noch immer nur gut acht Meter. Hinter den ersten beiden Pfeilern war nichts zu erkennen. Doch als Rhodes den dritten passierte, huschte eine zweibeinige Gestalt hervor und ergriff die Flucht. Rhodes gab zwei Schüsse ab und stürmte auf den zu Boden gestürzten Mann zu.

Es wurde wieder still. Lena wartete ab und behielt dabei, die Smith & Wesson im Anschlag, die Stützpfeiler im Auge. Rhodes drehte den Mann herum.

»Dobbs«, rief er. »Er wird nicht durchkommen.«

Lena bestätigte mit einem Handzeichen, dass sie verstanden hatte. Allerdings wusste sie, dass sie Rhodes im Nebel bald nicht mehr würde sehen können. Dann konnte sie ihm von der Limousine aus keine Deckung mehr geben. Also schaute sie sich rasch in alle Richtungen um und hastete dann durch das Gras zum ersten Pfeiler auf der gegenüberliegenden Seite. Sie beobachtete, wie Rhodes Dobbs’ Waffe einsteckte und den Mann abtastete. Als sie sich umdrehte, bemerkte sie im Nebel, dass Ragetti im Begriff war, sich aus dem Morast aufzurappeln. Offenbar hatte er sich unter der Limousine versteckt, um das Geld zu bewachen. Nun richtete er seine Pistole auf Rhodes. Unmittelbar hinter Rhodes’ Rücken machte Justin Tremell sich von seinem Vater los und trat mit Jennifer Bloom hinter einem Baum hervor.

Lena wandte sich wieder Ragetti zu und legte die .45er an. Doch sie wusste, dass sie zu spät kam. Sie hatte es nicht rechtzeitig kommen sehen.

Sie rief Rhodes’ Namen, drückte ab und spürte den Rückstoß. Ragettis Pistole blitzte in der Dunkelheit auf, und sie hörte einen lauten Knall. Bloom schrie auf. Ragetti stürzte. Und im nächsten Moment stieß Dean Tremell einen Schrei aus.

Lena nahm Ragetti die Waffe ab und pirschte sich näher heran. Gewiss hatte keiner der Schreie Ragetti gegolten. Und auch um Rhodes, der sich zu Boden geworfen hatte und nun aufstand und sich die Kleider abklopfte, schien sich niemand Sorgen zu machen.

Ragetti hatte geschossen, sein eigentliches Ziel verfehlt und dafür einem anderen Menschen das Leben genommen. Alle Blicke ruhten auf dem Unglücksraben, den es stattdessen erwischt hatte. Justin Tremell war bei seinem Versuch, mit Bloom zu fliehen, mitten in die Brust getroffen worden. Nun lag der junge Mann rücklings im Gras. Seine Augen starrten stumpf ins Leere.

Inzwischen näherten sich Scheinwerfer vom Hügel her, und bald war es so hell, dass der Nebel eher an Rauch erinnerte. Dean Tremell schien seine Umgebung gar nicht wahrzunehmen, als er auf die Leiche seines Sohnes zutaumelte. Der alte Mann sank zu Boden, nahm sein einziges Kind in die Arme und wiegte es hin und her.

Lena schaute zu Rhodes hinüber. Dann fasste sie Jennifer Bloom am Arm und führte sie zu den näher kommenden Scheinwerfern hinüber. Hinter sich hörte sie Tremells Schluchzen. Seine Klagelaute durchschnitten die Nacht. Diese Geräusche kannte Lena aus persönlicher Erfahrung. Sie wusste, wie schwer der Verlust eines geliebten Menschen die Seele belasten konnte.

Und Jennifer Bloom wusste es auch.

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