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Lena bestellte einen extragroßen Becher kolumbianischen Kaffee und entdeckte einen freien Tisch am Fenster auf der anderen Seite des Raumes. Nachdem sie ihren Laptop aus dem Aktenkoffer geholt hatte, tastete sie nach der Steckdose unter dem Tisch, schaltete den Computer ein und wartete ab, bis er hochgefahren war.

Obwohl sich das Blackbird Café in unmittelbarer Nähe des Parker Center befand, war es nicht unbedingt ein Treffpunkt für Gesetzeshüter. Es verirrten sich auch nur wenige Touristen hierher. Stattdessen war das Café Stammlokal der Künstler und Musiker, die im Laufe der letzten zehn Jahre in die Innenstadt gezogen waren und ein ruhiges Plätzchen suchten, um den wahrscheinlich besten Kaffee in Los Angeles zu trinken. Das Café lag versteckt in einer Seitenstraße auf halber Höhe des Häuserblocks und war in einem alten Backsteingebäude mit Gewölbedecke untergebracht, das ursprünglich als Pferdestall gedient und über fünfzig Jahre lang eine Autowerkstätte beherbergt hatte. Inzwischen verbreitete es eher die Atmosphäre eines Lesesaals. Die Lichter waren gedämpft, die Wände mit Bücherregalen, Gemälden und Fotos bedeckt. Vor einem Monat hatte ein Gast der Kunstsammlung des Cafés drei Drucke von Minor White gespendet, Ansichten einer in Licht und Schatten gehüllten Welt, die Lenas Blick magnetisch anzogen.

Seit ihr Bruder sie nach einem Auftritt im Paladium hierher mitgenommen hatte, war Lena Stammgast im Blackbird Café, das das ganze Jahr über rund um die Uhr geöffnet war. Nach ihrer Versetzung von Hollywood in die Innenstadt war das Lokal für sie eine Oase der Ruhe geworden, also genau das, was sie jetzt dringend brauchte. Sie musste sich einfach einige Schlucke hochprozentigen Koffeins gönnen, bevor sie sich wieder in die Tretmühle stürzte.

Gerade hatte Klinger angerufen: Polizeichef Logan hatte in einer Stunde eine erneute Besprechung anberaumt. Lena graute vor dieser Sitzung, die sie außerdem für Zeitverschwendung hielt.

Die Autopsie steckte ihr noch in den Knochen, denn ein Opfer in einem derartigen Zustand hatte sie nicht einmal während der zweieinhalb Jahre als Partnerin von Pete Sweeney in der Mordkommission von Hollywood zu Gesicht bekommen. Ihr erster Fall in der Abteilung für Raub und Tötungsdelikte vor zehn Monaten war ein besonders grausamer Mordfall mit mehreren Opfern gewesen.

Doch diesmal lag die Sache anders. Völlig anders.

Je länger Lena darüber nachdachte, desto mehr kam sie zu dem Schluss, dass ihr Unbehagen an den professionellen Kenntnissen des Täters lag. Seinem fachmännischen Umgang mit dem Messer. Daran, dass er offenbar gut ausgebildet war und über große Körperkraft verfügte. Er hatte sein Opfer nicht einfach nur zerstückelt, sondern so exakt seziert, dass Madina von chirurgischer Präzision gesprochen hatte. All das wies auf einen Grad von Gefühllosigkeit und Grausamkeit hin, der nicht von dieser Welt zu sein schien, sondern offenbar dem Reich der Dunkelheit entstammte.

Lena warf einen Blick auf ihren Computer, der immer noch lud. Dann entfernte sie den Deckel von ihrem Kaffeebecher, ließ sich den Dampf ins Gesicht steigen und versuchte, den üblen Gestank zu vertreiben, den sie vorhin in der Pathologie hatte ertragen müssen. Der Hauch des Todes war in ihre Kleidung eingesickert, sodass Lena die Freude an den Sachen verdorben war. Obwohl sie sich in der Umkleide des Parker Center geduscht und umgezogen hatte, bekam sie den Geruch nicht mehr aus der Nase, denn er lauerte nicht in ihrer frisch gewaschenen schwarzen Jeans oder in ihrem Pullover, sondern in den tiefsten Nischen ihrer Erinnerung. Aus Erfahrung wusste sie, dass es zwei bis drei Tage, vielleicht sogar eine Woche, dauern würde, bis sich der Ekel wieder legte.

Nach dem ersten Schluck Kaffee blickte sie sich im Raum um und wandte sich dann wieder dem Laptop zu. Letzte Nacht hatte sie einen vorläufigen Bericht angefertigt und eine Mordakte angelegt, den Ringordner, auch »blaues Buch« genannt, in dem alle mit dem Fall zusammenhängenden Unterlagen abgeheftet wurden. Im Moment war der zeitliche Ablauf ihre größte Sorge. Ihr Computerprogramm gab den ersten Teil der Mordakte wieder und würde sich in den nächsten Tagen zu einem Dossier entwickeln. Jeder Ermittlungsschritt – also alles, was Lena gedacht, geplant und wieder verworfen hatte – würde darin festgehalten werden. Außerdem musste sie die Datei ständig aktualisieren und ausdrucken, damit sie dem Polizeichef und seinem Assistenten bei den Besprechungen etwas vorlegen konnte.

Der Einfall war ihr in der vergangenen Nacht gekommen, als sie nicht schlafen konnte. Die einzige Methode, den Bürokraten im fünften Stock ein Schnippchen zu schlagen, war, sie mit Papieren einzuschneien. Auf diese Weise würden sie von etwas scheinbar Handfestem abgelenkt sein, damit sie in Ruhe arbeiten konnte.

Lena sah auf die Uhr und fing an zu tippen. Nach dem Umkleiden hatte sie Jane Does Fingerabdrücke ins Labor für latente Fingerspuren im ersten Stock gebracht. Offenbar war ihr Besuch angekündigt worden, denn die Kriminaltechniker hatten sich bereit erklärt, die Spuren sofort zu untersuchen. Da Lena der Rückstau der zu bearbeitenden Fälle bekannt war, ahnte sie, dass der Polizeichef – oder sogar Klinger – angeordnet hatte, sie ganz an den Anfang der Warteschlange zu setzen. Das hieß, dass sie die Ergebnisse innerhalb eines Tages, nicht erst in einer Woche, erhalten würde, und nur das war es, was wirklich zählte.

Sie wollte Jane Doe so schnell wie möglich durch die Mühlen der Forensik schleusen, und zwar ohne Rücksicht auf die Temposchwellen, in der Hoffnung, dass die Erschütterung etwas zutage fördern würde.

Allerdings rechnete Lena sich keine allzu großen Chancen aus, denn die Wahrscheinlichkeit, dass die Kriminaltechniker das Mädchen identifizieren konnten, lag bei null.

Dazu hätten Jane Does Fingerabdrücke nämlich bereits in einer Datenbank gespeichert sein müssen. Doch ein Blick in die klaren braunen Augen der Toten hatte Lena gesagt, dass sie nie straffällig geworden war. Dass ihr je im Rahmen einer erkennungsdienstlichen Behandlung oder von Berufs wegen die Fingerabdrücke abgenommen worden waren, hielt sie für mehr oder weniger ausgeschlossen.

Aber zumindest verfügte Lena nun über eine genaue äußerliche Beschreibung des Opfers. Sie gab Körpergröße und das Gewicht ein, die sie sich während der Autopsie notiert hatte. Auf dem Weg ins Café hatte sie noch einmal Benson in der Vermisstenabteilung angerufen, um ihn über den neuesten Stand der Dinge in Kenntnis zu setzen. Madinas Büro hatte bereits die Autopsiefotos geschickt, einschließlich Nahaufnahmen des Nabelpiercings und des eintätowierten Herzchens. Benson würde diese Informationen mit seinen Datenbanken abgleichen und ihr in ein oder zwei Stunden Bescheid geben. Allerdings nur, was vermisste Personen in Los Angeles anging. Das kalifornische Justizministerium würde dann ausführlichere Nachforschungen beginnen. Mit ein wenig Glück konnte Lena in einigen Tagen mit den Ergebnissen rechnen.

Sie bewegte den Cursor zur Menüleiste und klickte auf »Speichern«. Als sie nach ihrem Kaffeebecher griff und aufblickte, bemerkte sie, dass jemand durch den Raum auf sie zukam. Es war Denny Ramira, der Kriminalreporter von der Times.

»Was machst du denn hier, Ramira?«

»Ich habe dich auf der Straße gesehen«, erwiderte er.

»Du bist mir gefolgt?«

»Ja. Hier war ich nämlich noch nie. Netter Schuppen.«

»Aber lass es nicht zur Gewohnheit werden, okay?«

Schmunzelnd schaute Ramira sich um. »Senator West steht auf dich, Lena. Das Foto von euch beiden hat ihm den Tag gerettet. Hast du die Zeitung schon gesehen?«

Lena schüttelte den Kopf. Sie war heute Morgen so früh aufgebrochen, dass sie noch keine Zeit dazu gehabt hatte.

»Seid ihr beide befreundet?«, fragte sie.

»Sein Büro hilft mir, nebenbei etwas zu recherchieren. Vielleicht wird ja ein Buch daraus. Wer weiß? Allerdings stehe ich noch ganz am Anfang.«

»Wovon soll dieses Buch denn handeln?«

Wieder schmunzelte Ramira. »Du könntest mir die Idee klauen.«

»Schon gut, Ramira. Schließlich habe ich ja sonst nichts Besseres zu tun.«

»Meinetwegen, dann gebe ich dir einen Tipp. Es geht um Verbrechen. Wirtschaftskriminalität. Die Machenschaften also, wegen derer niemand ins Gefängnis wandert, weil alle Beteiligten Geld wie Heu haben.«

Lena folgte dem Blick des Reporters zu ihrem Laptop. Er versuchte, sich den Bildschirm anzusehen, stand aber im falschen Winkel. Als er einen Schritt nach links machte, schloss sie die Datei, schaltete den Computer ab und fing an, ihn wegzupacken.

»Entschuldige, aber ich glaube, ich möchte meine Berichte nicht in einem deiner Artikel wiederfinden.«

»Hey, es war nicht so gemeint. Außerdem würdest du dich sowieso bei mir melden, wenn du neue Informationen hättest. Unsere Abmachung steht doch noch, oder?«

Sie erwiderte seinen herausfordernden Blick. Ramira war hager, etwa so groß wie sie und ungefähr in ihrem Alter. Ein attraktiver Mann mit einem klugen Gesicht, dunklem Haar und einer Brille, die seine Augen zum Funkeln brachte. Obwohl er einer der besten Reporter war, die Lena je kennengelernt hatte, machte ihn das nicht weniger gefährlich. Die Abmachung, die er erwähnte, hatten sie nach ihrem letzten Fall getroffen. Der Täter war im Besitz einer Dienstmarke gewesen, weshalb man in der Chefetage versucht hatte, die Sache zu vertuschen, und zwar auf Kosten des guten Rufes eines Unschuldigen. Als Rückversicherung hatte Lena Ramirez die Vorgänge während der Ermittlungen ganz im Vertrauen und exklusiv geschildert. Die Angelegenheit publik zu machen, war der einzige Weg gewesen, die Beteiligten zur Wahrheitsliebe zu bekehren. Nachdem die Akte offiziell berichtigt worden war, hatte Ramira einen Journalistenpreis gewonnen – und der Polizeichef hatte Lena auf dem Kieker.

»Was für eine Abmachung?«, fragte sie nun. »Du hast deine Story bekommen.«

»Du weißt genau, was ich meine, Lena. Du brauchst mich genauso wie umgekehrt. Selbst der Senator hat es gestern Abend gesagt. Er hat mitgekriegt, wie Logan dir die Leviten gelesen hat. Deshalb ist er ja eingeschritten und hat ihn unterbrochen.«

Wortlos verstaute Lena den Computer in ihrem Aktenkoffer. Ramira blickte sich noch einmal um, setzte sich und senkte die Stimme.

»Soll ich einmal ganz ehrlich sein? Also gut. In deiner Branche wird mit harten Bandagen gekämpft, Lena, und du brauchst Verbündete. Jeder weiß, dass es zwischen dir und dem Polizeichef knirscht. Von seiner Horde selbstgerechter Kofferträger ganz zu schweigen. Es geht noch immer um deinen letzten Fall. Du hattest Recht, und er war im Irrtum. Und alle Welt hat davon erfahren. Mir ist klar, dass du ihn nicht absichtlich bloßgestellt hast, doch so ist es nun einmal angekommen. Es läuft alles darauf hinaus, dass er dich am liebsten in die Wüste schicken oder deinen Hintern gleich vor die Tür setzen würde, was er aber nicht kann. Ihm sind die Hände gebunden. Er wird dich einfach nicht los. Allerdings würde ich darauf wetten, dass er etwas im Schilde führt. Bei der Stadtverwaltung hat man sich sicher auch schon Gedanken darüber gemacht. Und deshalb brauchst du Freunde.«

Lena hielt sich viel auf ihre Fähigkeit zugute, ihre Mitmenschen rasch und treffsicher einzuschätzen. Als sie aufstand, fragte sie sich, ob sie sich vielleicht in Ramira getäuscht hatte.

»Immer mit der Ruhe«, sagte sie. »Nimm dir eine Auszeit. Deine Andeutungen sind einfach lächerlich.«

»Wirklich, Lena? Wie ich schon sagte, wird in deiner Branche mit harten Bandagen gekämpft. Da kann so einiges schiefgehen.«

Ramira sah ihr in die Augen. Er wirkte müde und ein wenig angespannt. Sie wünschte, er wäre ihr nicht ins Café gefolgt.

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