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Lena kam zu spät zu ihrer Verabredung mit Art Madina. Eine Viertelstunde zu spät. Nicht weil die Fahrt in die Innenstadt so lange gedauert, sondern weil sie ungewöhnlich lang geschlafen hatte. Es war ein tiefer, traumloser Schlaf gewesen, so nah an der Bewusstlosigkeit, dass sie sich immer noch fragte, wie es ihr gelungen war, aufzuwachen und die Augen aufzuschlagen.
Als sie zu Bett gegangen war, war der Stromausfall noch nicht behoben gewesen, und sie war eingeschlafen, bevor sie Gelegenheit gehabt hatte, den Radiowecker wieder einzuschalten und die Uhrzeit einzustellen.
Außerdem war es spät geworden. Lange nachdem Bobby Rathbone ihr die Hiobsbotschaft überbracht hatte und nach Hause gefahren war. Lena hatte sich noch zwei Gläser Wein und eine halbe Zigarette genehmigt und sich alles gründlich überlegt.
Letzte Nacht hatte sie die Entscheidung getroffen, die Wanzen zu lassen, wo sie waren. Ihr Haus würde bis auf die einfache Wanze in ihrem Telefon – die Beruhigungswanze, die sie hatte finden sollen – verkabelt bleiben. Lena hatte sie aus dem Telefon gerissen und sie auf dem Küchenfußboden mit einem Hammer zerschmettert. Wenn die Elektrizitätswerke gnädigerweise den Strom wieder einschalteten, würde sie Klinger und seinen Handlanger auch nicht mehr mit lauter Musik malträtieren. Stattdessen würde scheinbar wieder der Alltag einkehren. Sollten die beiden Superbullen doch lauschen und glauben, dass sie sie ausgetrickst hatten.
Lena versprach sich davon, dass sie sich so schnell wie möglich wieder ihrem Fall widmen konnte, und nur das spielte eine Rolle. Klingers Kamera im Bad konnte sie einfach dadurch ausweichen, dass sie die Dusche in ihrem alten Badezimmer im ersten Stock benutzte.
Allerdings war sie in Gedanken nicht bei diesem Thema, als sie Art Madina in die Kühlkammer folgte und die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel. Die Ereignisse der vergangenen Nacht waren im Moment bedeutungslos.
Madina schaltete die Taschenlampe ein, überprüfte in der Dunkelheit die Zettel an den Zehen der Toten, schob Bahren beiseite und suchte zwischen den zahlreichen Leichen nach der richtigen. Die stickige Luft erreichte beinahe den Gefrierpunkt, sodass Lena der Atem so dicht wie eine Qualmwolke vor dem Mund stand. Nach zehn langen Minuten hatten sie Jane Doe endlich gefunden. Sie ruhte in der hintersten Ecke unter einer dünnen, durchsichtigen Plastikplane.
Madina reichte Lena die Taschenlampe und entfernte die Plane. Selbst bei diesen eisigen Temperaturen veränderte sich eine Leiche mit der Zeit, und Lena musste sich überwinden, um sich nicht abzuwenden und sie anzusehen.
»Wie viel könnte denn fehlen, falls es so ist?«, fragte Madina im Flüsterton.
»Ich weiß nicht.«
»Was hat er damit gemacht?«
»Wir haben in der Garage einen Fleischwolf sichergestellt.«
Madina drehte sich um und sah sie zweifelnd an. »Das ist doch nicht Ihr Ernst.«
»Wir können nicht sagen, wann er zuletzt benutzt wurde«, erwiderte sie leise.
Eine Weile herrschte Schweigen. Dann nahm Madina die Taschenlampe und ließ den Lichtstrahl über die Wunden des Opfers gleiten.
»Für mich ist vor allem das Problem, dass es sich um eine so gewissenhafte Arbeit handelt, Lena. Chirurgische Präzision. Dieser Typ hat Medizin studiert.«
Die Tür ging auf, und Licht fiel in den Raum. Zwei Männer spähten in die Kühlkammer. Als sie Lena und den Pathologen bemerkten, entfernte sich der Mann im Laborkittel, während der zweite eintrat. Er hatte einen braunen Umschlag in der Hand und schien sich in dieser Umgebung ebenso unwohl zu fühlen wie Lena. Sie erkannte ihn als Martin Orth von der Spurensicherung, auch wenn sie einander nie offiziell vorgestellt worden waren. Orth war Leiter der Abteilung. Lena fand es seltsam, dass jemand, der so hoch oben in der Hierarchie angesiedelt war, seinen Arbeitsplatz verließ, um persönlich einen Botengang zu erledigen.
»Lena Gamble?«, fragte er.
Die drei schüttelten sich die Hand und machten sich miteinander bekannt. Dann reichte Orth Lena den Umschlag, wobei er sich sichtlich Mühe gab, nur sie und nicht das Opfer anzuschauen.
»Sie hatten Recht«, verkündete er. »Sie ist es.«
Eine Weile verging. Die Bestätigung der Spurensicherung verlieh der Perversion eine neue Tragweite.
»Sind Sie absolut sicher?«, erkundigte sie sich.
Orth nickte. »Wir haben die Blutproben, die letzte Woche in der Seitengasse sichergestellt wurden, mit denen vom Parkplatz des Cock-a-doodle-do und aus der Garage in der Barton Avenue miteinander abgeglichen. Absolute Übereinstimmung. Es handelt sich eindeutig um Jane Doe. Dort wurde sie getötet.«
Seine Stimme erstarb, und er wandte sich endlich zu dem Opfer um. Lena erkannte Trauer in seinem Blick, als er das zerschlagene Gesicht der Frau und ihre Verletzungen musterte. Mit entschlossen vorgeschobenem Kiefer drehte er sich wieder zu ihr um.
»Wir bleiben rund um die Uhr an der Sache dran, Lena. Am Wochenende und auch an Feiertagen. Vergessen Sie die liegengebliebenen Fälle. Sie kriegen von uns, was Sie wollen, bis Sie diesen Kerl dingfest gemacht haben.«
Lena wünschte, die Angelegenheit wäre so einfach gewesen. Ein Einzeltäter.
»Was ist mit dem Fleischwolf?«, fragte sie.
»Wir haben Spuren von Muskelfleisch gefunden, glauben aber nicht, dass es von einem Menschen ist. Außerdem ist das Ding so verrostet, dass es vermutlich in einer Spülmaschine gereinigt wurde. Wir sind nicht sicher, womit wir es zu tun haben.«
Lena wechselte einen Blick mit Madina und wandte sich dann wieder an Orth.
»Und der Rest der Garage?«, meinte sie.
»Das wird noch eine Weile dauern«, erwiderte Orth. »Alle Spuren scheinen vom Opfer, nicht vom Täter zu stammen. Haare, Fasern, Fingerabdrücke. Aber wir haben die Hoffnung nicht aufgegeben. Wir sind noch längst nicht fertig.«
»Haben Sie sich den Mülleimer an der Werkbank schon angeschaut? Der Täter hat einen OP-Kittel hinterlassen. Alles, was er Mittwochnacht getragen hat.«
»Wir untersuchen gerade die Handschuhe auf DNA-Spuren. Vielleicht haben wir ja auch Glück und stoßen auf einen Fingerabdruck, doch ich würde nicht darauf zählen. Sie sind aus Vinyl.«
Lena verstand zwar, was das bedeutete, zwang sich jedoch, optimistisch zu bleiben. Sicher hatte Nathan Good die Handschuhe ziemlich lange angehabt, sodass eine große Menge Schweiß darin zurückgeblieben sein musste. Kontakt-DNA war zwar eine neue Entdeckung und wurde noch nicht in allen fünfzig Bundesstaaten anerkannt, konnte jedoch dank der wissenschaftlichen Weiterentwicklung recht aufschlussreich sein. Allerdings war es ziemlich schwierig, einen Fingerabdruck von der Innenseite eines Handschuhs aus Vinyl abzunehmen. Es war zwar bereits einige Male gelungen, doch der Erfolg hing davon ab, dass alle Bedingungen stimmten. Dennoch waren sie dem Ziel schon ein kleines Stückchen näher gekommen. Als sie das Funkeln in Orths Augen bemerkte, wurde ihr klar, dass er noch mehr wusste.
»Was ist?«, fragte sie.
»Er hat etwas hinterlassen«, antwortete Orth. »Es ist zwar nicht so gut wie ein Fingerabdruck, und wir können es auch nicht in eine Datenbank eingeben, um seinen Namen und seine Adresse zu erfahren. Aber es könnte uns weiterhelfen. Erinnern Sie sich an das Stück Linoleum unter dem OP-Tisch?«
»Sie haben einen Schuhabdruck sichergestellt.«
Orth grinste stolz. »Gegen halb vier heute Morgen«, verkündete er. »Er war zwar mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen, doch wir haben ihn trotzdem gefunden. Fluoreszierendes Pulver und Schwarzlicht können wahre Wunder wirken. Als ich anrief und erfuhr, dass Sie hier sind, bin ich persönlich gekommen. Die Stelle auf dem Linoleum war unerreichbar, nachdem der Pressspan auf den Sägeböcken befestigt worden war. Vermutlich ist der Abdruck während des Aufbaus entstanden, als er noch keine Überschuhe trug.«
»Haben Sie den ganzen Abdruck oder nur einen Ausschnitt?«
»Schauen Sie selbst. Der Umschlag enthält eine Kopie. Wir haben den gesamten Abdruck gesichert. Aber es kommt noch besser. Er hatte Schuhe von Bruno Magli an, genau wie O. J. Simpson. Ein Magdy-Stiefel, Größe vierundvierzig. Dabei handelt es sich um einen Schnürschuh mit Gummisohle. Einzelhandelspreis vierhundertachtundvierzig Dollar und fünfundneunzig Cent.«
Lena holte das Foto aus dem Umschlag und musterte den Abdruck, der klar und deutlich zu sehen war.
»Der Mann hat Geld«, stellte sie fest.
»Und noch mehr als das. Sehen Sie. Im rechten Absatz steckt der Kopf einer kleinen Schraube. Vielleicht hat er sie sich in der Garage eingetreten. Damit kriegen Sie ihn.«
Lena entdeckte die Schraube auf dem Foto. »Mit diesem Schuh wandert er lebenslänglich hinter Gitter.«
»Wie ich schon sagte, Lena, ist es kein Fingerabdruck. Aber vor Gericht …«
»Dort wird es uns sicher weiterbringen.«
Ihr Mobiltelefon vibrierte. Ein Blick auf die Anzeige verriet ihr, dass sie das Gespräch annehmen musste. Es war Klinger, der aus dem Büro von Polizeichef Logan anrief.
»Er will Sie sehen«, verkündete Klinger. »Ich habe ihm mitgeteilt, Sie würden in fünfzehn Minuten da sein. Das war vor zehn Minuten. Also kommen Sie auf jeden Fall zu spät.«
Der Handlanger des Polizeichefs gab ihr keine Gelegenheit zu einer Antwort, sondern legte auf, bevor sie etwas erwidern konnte.