15

Lena stand am Fenster ihres Schlafzimmers im ersten Stock, von wo aus sie den linken vorderen Kotflügel des Caprice auf der anderen Seite des Hügels im Sichtfeld hatte. Irgendwann während der Nacht hatten Klingers Freunde von der Abteilung für Interne Ermittlungen den Wagen ein Stück die Straße hinunter umgeparkt. Wahrscheinlich, weil sie wussten, dass es bald hell werden würde, für sie allerdings offenbar kein Grund abzuziehen. Als Lena erneut die Steuerungsanlage kontrolliert hatte, waren Wanze und drahtloser Sender noch immer da gewesen. Sie hörten sie ab – oder versuchten es wenigstens. Wieder im Haus, hatte Lena ihr Telefon nämlich umprogrammiert, sodass jetzt alle Anrufe an ihr Mobiltelefon weitergeleitet wurden. Auf diese Weise würde die Wanze kein Signal mehr empfangen, nur noch das erste Läuten, ehe die Computer der Telefongesellschaft sich des Anrufers annahmen. Also stand den beiden Detectives von der Abteilung Interne Ermittlungen eine Reihe langer, kalter, ergebnisloser und vor allem sehr, sehr stiller Nächte bevor. Wie gerne hätte Lena Klingers Gesicht gesehen, wenn sie ihm Meldung machten.

Ihr Mobiltelefon vibrierte. Ein Blick auf die Anzeige sagte ihr, dass es Steve Avadar von der Wells-Fargo-Bank war, der sie um halb neun anrief.

»Lena, wann wurde die Frau, die sich Jennifer McBride nannte, ermordet?«

Seine Stimme war leise. Vielleicht zu leise.

»Mittwochnacht«, erwiderte sie. »Warum?«

»Weil ihr Konto noch Bewegungen aufweist. Seit ihrem Tod wurde jeden Tag mit ihrer Automatenkarte Geld abgehoben.«

»Wie viel?«

Lena hörte im Hintergrund Papiere rascheln. Avadar hielt die Hand vor die Sprechmuschel und sagte etwas zu jemandem in seinem Büro. Kurz darauf war er wieder am Apparat.

»Wer auch immer ihre Karte benutzt, holt sich immer den täglichen Höchstbetrag, also fünfhundert Dollar. Bis jetzt waren es zweitausend. Heute Morgen um sieben Uhr dreiundzwanzig wurde die Karte erneut eingesetzt.«

Lena wandte sich vom Fenster ab. Der Zeuge fiel ihr ein. Er hatte ihr zwar den Führerschein des Opfers und Videoaufnahmen von der Entführung geschickt, die Handtasche und den restlichen Inhalt – einschließlich der Automatenkarte – aber behalten.

»Wie hoch ist der Kontostand?«, fragte sie.

»Mehr als fünfzigtausend Dollar.«

Lena erstarrte. Eine nicht unbeträchtliche Summe Geld. Und ein guter Grund für den Zeugen, sich nicht zu melden.

»Kein Pappenstiel«, meinte sie.

»Das kannst du laut sagen.«

»Wo fand die heutige Abhebung statt?«

»In der Fourth Street in Santa Monica.«

»Ich weiß, dass es Samstag ist«, sagte sie. »Aber könnten wir uns vielleicht dort treffen anstatt in der Innenstadt?«

»Ich habe bereits alles veranlasst. Der Geldautomat wurde gesperrt, und wir beschaffen uns das Überwachungsvideo.«

»Ich komme, so schnell ich kann.«

Fünf Minuten später rollte sie aus ihrer Auffahrt und warf einen Blick nach rechts die Straße entlang. Der Caprice versteckte sich immer noch hinter der nächsten Kurve. Lena bog links ab, trat aufs Gas, öffnete die Wagenfenster und starrte in den Rückspiegel. Sie spürte die kalte Luft im Gesicht. Ihr Blut brodelte. Doch auf der Straße hinter ihr war niemand zu sehen.

Die Bankfiliale befand sich an der Ecke Fourth Street und Arizona Avenue, einen Häuserblock nördlich des Santa Monica Boulevard. Lena betrat das Gebäude und traf Steve Avadar im Büro des Filialleiters an, wo er in einem Papierstapel wühlte.

Beim Hereinkommen klopfte sie an. Avadar war allein und erhob sich lächelnd von seinem Stuhl.

»An dem Überwachungsvideo vom Geldautomaten arbeiten wir noch«, verkündete er. »Wir werden die von den ersten drei Abhebungen kontrollieren. Da es sich um Stadtteilfilialen handelt, sollte es höchstens noch zehn Minuten dauern.«

»Danke für die Hilfe, Steve. Wir wollen mit dem Konto des Opfers anfangen.«

»Ich schaue gerade ihre monatlichen Kontoauszüge durch«, erwiderte er. »Und ich glaube, ich bin da auf etwas gestoßen.«

»Zeig mal her.«

Obwohl Steve Avadar stellvertretender Vorstandsvorsitzender und für Ermittlungen in Betrugsfällen sowie für Risikomanagement zuständig war, sah er heute ganz und gar nicht aus wie ein mächtiger Wirtschaftsboss. Sein dunkelbraunes Haar war länger, als Lena es in Erinnerung hatte. Außerdem hatte er seinen üblichen Anzug mit Jeans und einem Fleecepulli vertauscht. Doch seine jungenhafte, sportlichlässige und lockere Art konnte täuschen, denn er besaß einen messerscharfen Verstand. Und als er die Kontoauszüge in chronologischer Reihenfolge vor ihr ausbreitete, merkte sie, dass sich nicht Sorge, sondern Jagdfieber in seinem Gesicht malte – die Neugier, was sie wohl finden würden, wenn sie den nächsten Stein umdrehten.

»Also, Lena, heute ist unser Glückstag. Wir haben hier dreizehn Auszüge. Die Frau, die sich Jennifer McBride nannte, hat vor dreizehn Monaten ein Girokonto eröffnet und zehntausend Dollar in bar eingezahlt. Im ersten Monat gab es keine Kontobewegung. Das Geld lag einfach da. Aber im zweiten Monat änderte sich ihre Adresse, und es kam zu Einzahlungen und Abhebungen.«

Lena studierte die Adresse auf den ersten beiden Auszügen. Obwohl Stadtteil und Postleitzahl auf ein an Santa Monica und Venice Beach angrenzendes Gebiet hinwiesen, handelte es sich bei dem angegebenen Häuserblock zwischen Lincoln Avenue und Ocean Park Boulevard nicht um eine Wohngegend. Lena war schon häufig an dieser großen Kreuzung vorbeigekommen und erinnerte sich, dass Mail Boxes Etc, ein Unternehmen, das Postfächer vermietete, dort eine Filiale betrieb. Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Damals war Jane Doe offenbar gerade im Begriff gewesen, in eine fremde Identität zu schlüpfen und Jennifer McBride zu werden. Und dazu brauchte sie zuallererst eine Postadresse, und zwar eine zuverlässige, wohin sie sich ihre Briefe schicken lassen konnte. Erst später hatte sie die von dort aus zu Fuß erreichbare Wohnung in der Navy Street gemietet.

Avadar wies auf die Kontoauszüge. »Ich habe ihre Schecks durchgearbeitet. Nichts Auffälliges«, stellte er fest. »Miete, Stadtwerke, Kabelfirma, Rechnungen für das Festnetz und ihr Mobiltelefon. Alles ganz alltäglich. Mit ihrer Kreditkarte ist es das Gleiche. Benzin, Lebensmittel und Restaurantbesuche. Habt ihr ihr Scheckbuch sichergestellt?«

Lena schüttelte den Kopf und erklärte ihm, was sich ihrer Ansicht nach zur Tatzeit in der Handtasche des Opfers befunden hatte.

Avadar überlegte. »Also hatte sie möglicherweise ein Adressbuch oder einen Notizblock bei sich, in dem die PIN-Nummer stand.«

»Wahrscheinlich hat sie sich eine ganze Menge Dinge aufschreiben müssen. Schließlich hat sie ein ganzes Jahr lang ein Doppelleben geführt. Eine Verwechslung hätte verhängnisvoll enden können, weshalb es der pure Leichtsinn gewesen wäre, sich nur auf ihr Gedächtnis zu verlassen. Dazu war sie viel zu schlau.«

»Aber nicht schlau genug, um ihrem Mörder aus dem Weg zu gehen.«

Eine Weile hingen Avadars Worte in der Luft. Dann räusperte er sich und ergriff, diesmal mit ruhigerer Stimme, wieder das Wort.

»Derjenige, der die Abhebungen an den Automaten getätigt hat, kannte die PIN-Nummer von Anfang an, Lena. Schon beim ersten Mal ist ihm kein Fehler unterlaufen. Es gab keinen zweiten oder dritten Versuch. Die Person hat einfach die Karte in den Schlitz gesteckt, die Zauberzahl eingegeben und sich das Geld geholt.«

»Wir wollen uns ihre Einzahlungen ansehen«, schlug Lena vor.

»Weißt du, was sie beruflich gemacht hat?«

Lena zögerte und beschloss, die Frage nur im äußersten Notfall zu beantworten. »Warum?«, gab sie zurück.

»Reine Neugier. Es gingen nämlich keine regelmäßigen Gehaltszahlungen ein. Schau dir den dritten Auszug an. Sechs Einzahlungen. Jedes Mal vier-oder fünfhundert Dollar, immer in bar.«

»Wie kommt man auf diese Weise zu fünfzigtausend Dollar?«

»Gar nicht. Die Auszüge sind nahezu identisch. Kleine Bareinzahlungen, die sich zu etwa zweitausendfünfhundert Dollar monatlich summieren. Also gerade genug, um ihre Rechnungen zu begleichen. Die fünfzig Riesen wurden erst am letzten Freitag gutgeschrieben, sechs Tage bevor sie ermordet wurde. Die Einzahlung wird erst nächsten Monat auf ihrem Auszug erscheinen. Sie ist auf einen Batzen erfolgt.«

»Bar?«

Avadar schüttelte den Kopf. »Nein, das wäre uns aufgefallen«, meinte er. »Es handelte sich um einen Scheck von Western Union. Ich wage mal die kühne Vermutung, dass der edle Spender die Herkunft des Geldes verschleiern wollte.«

»Nämlich, dass die fünfzigtausend ursprünglich auch Bargeld waren.«

»Für so eine Einzahlung braucht man nur einen Ausweis vorzuzeigen und ein Formular auszufüllen, Lena.«

»Und daraufhin hat Western Union einen Scheck ausgestellt, den das Opfer sich dann auf seinem Konto hat gutschreiben lassen.«

»Richtig«, erwiderte er. »Ich gehe mal nachschauen, wie weit die mit dem Video sind.«

Lena blickte ihm nach und setzte sich dann auf den Bürostuhl. Sie war auf genau das gestoßen, was sie vorzufinden gehofft und erwartet und Rhodes am Vorabend am Telefon verschwiegen hatte, weil sie sich ihres Verdachts nicht sicher gewesen war. Nun hatte sie eine Erklärung dafür, wie Joseph Fontaine, ein Arzt aus Beverly Hills, in die Angelegenheit verwickelt war und warum er den ermittelnden Detectives gegenüber abgestritten hatte, das Opfer zu kennen.

Lena beugte sich wieder über die Kontoauszüge und studierte die kleinen Bareinzahlungen am Ende jeder Woche.

Jane Doe konnte drei gute Gründe gehabt haben, McBrides Identität zu stehlen. Möglichkeit Nummer eins: Sie war in Los Angeles aufgewachsen und wollte die Tatsache verschleiern, dass sie Sexanzeigen in einer Lokalzeitung aufgab und als Prostituierte arbeitete. Möglichkeit Nummer zwei: Sie war tatsächlich ein Phantom, ein Mensch also, der sich einen Spaß daraus macht, in fremde Identitäten zu schlüpfen, und sich verdrückte, wenn ihm jemand auf die Schliche kam. Die kärgliche und leicht zu transportierende Ausstattung ihrer Wohnung wäre ein Hinweis darauf gewesen. Und dann natürlich Nummer drei, die ultimative Lösung: Theorien Nummer eins und zwei trafen beide zu, und Jane Doe hatte Fontaine erpresst. Vermutlich hatte sie dem Kinderarzt aus Beverly Hills gedroht, ihr Verhältnis überall herumzuposaunen, falls er nicht zahlte. In seiner Angst, seine Kinderarztpraxis aufgeben zu müssen, hatte Fontaine sich vermutlich mit einer kleinen ersten Rate Zeit erkauft und dann zugeschlagen. Das hieß, er hatte entweder jemanden damit beauftragt, die Frau zu töten, oder sie selbst ermordet.

Avadar kam mit vier unbeschrifteten DVDs zurück.

»Hier sind sie«, verkündete er. »Nachdem wir sie uns angeschaut haben, brenne ich sie dir alle auf eine Scheibe.«

Er kopierte die Videodateien von den DVDs auf die Festplatte seines Computers. Als er fertig war, umrundete Lena den Schreibtisch, um besser sehen zu können. Auf dem Bildschirm erschienen vier Dateien, alle mit dem Aufnahmedatum gekennzeichnet. Avadar markierte sie und drückte auf Play, sodass die Filme ohne Unterbrechung nacheinander abliefen. Trotz der verschwommenen Aufnahmen war deutlich zu erkennen, dass es stets ein und dieselbe Person gewesen war, die unberechtigt fünfhundert Dollar am Geldautomaten abgehoben hatte.

Allerdings war Lena in Gedanken nicht mehr bei dem Geld.

Stattdessen ließ sie ihr Telefonat mit Lieutenant Barrera Revue passieren, und zwar das, das sie nach dem Besuch bei Fontaine am gestrigen Abend mit ihm geführt hatte. Er hatte ihr eine kurze Beschreibung des Kuriers gegeben, der mit dem Päckchen des Zeugen ins Parker Center spaziert war. Ein junger Mann, in Lederjacke und einer Kappe mit dem Emblem der Dodgers, der von den Kollegen am Empfang weder eine Unterschrift verlangt noch ihnen eine Quittung ausgehändigt hatte.

Lena musterte den Bildschirm und beobachtete, wie ihr Zeuge die Tastatur betätigte und das Geld entnahm. Er hielt den Kopf gesenkt. Sein Gesicht wurde zum Teil vom Schirm der Kappe verdeckt. Er wusste eindeutig, wo die Kamera hing und dass er sich gerade strafbar machte. Aber trotz der Kappe erkannte Lena an seinem Mund und seinem Kinn, dass er noch jung sein musste. Er war höchstens achtzehn oder neunzehn, und außerdem hatte er langes, dunkles Haar. Sie war sicher, dass der Kurierfahrer ihr Zeuge war.

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