8
Sie hasteten über die Straße zum Parkhaus, wo Rhodes auf den Crown Vic wies, der rückwärts eingeparkt neben dem Pförtnerhäuschen stand. Der Wagen sah aus, als hätte die Werkstatt ihn zurückgebracht, bevor sämtliche Reparaturen erledigt waren. Die Karosserie war zwar grundiert, aber noch nicht lackiert worden und hatte deshalb die stumpfgraue Farbe eines Pistolenlaufs.
»Ich fahre«, rief er. »Auf dem Rückweg bist du dran.«
Sie sprangen in den Wagen. Rhodes ließ den Motor an. Nachdem er das Blaulicht eingeschaltet hatte, raste er auf die Straße hinaus und über eine rote Ampel. Zehn Minuten später fuhren sie mit hundertzwanzig Sachen über den Santa Monica Freeway und schlängelten sich, die tief stehende Wintersonne in der Windschutzscheibe, im Zickzackkurs durch den dichten Verkehr.
Lena klappte den Sonnenschutz herunter. Während sie zusah, wie die Stadt in Hochgeschwindigkeit an ihr vorbeiglitt, betrachtete sie Rhodes. Seit ihrem Aufbruch aus dem Parker Center hatte er kein Wort gesagt. Allerdings merkte sie ihm an, dass ihn etwas beschäftigte, und sie erkannte Trauer in seinem Blick. Rhodes war Detective und hatte zehn Jahre mehr Berufserfahrung als sie. Außerdem war er ein Freund. Unter anderen Umständen wäre aus ihnen vielleicht sogar ein Paar geworden.
»Hast du etwas?«, fragte sie.
Er drehte sich zu ihr um.
»Als ich vorhin ankam, warst du am Telefon. Deine Schwester?«
Er nickte. »Der Termin steht fest. Am Montag wird sie operiert.«
»Fährst du hin?«
»Morgen Abend«, antwortete er. »Ich telefoniere schon den ganzen Vormittag mit ihr. Bei dir zu Hause habe ich eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Du hast ihn wohl noch nicht abgehört.«
Er lächelte sie an und wandte sich dann wieder der Straße zu. Lena wusste, dass er nur noch seine Schwester hatte. Seine Eltern waren tot, und andere Geschwister gab es nicht. Wie Lena würde Rhodes als Einziger übrig bleiben, falls seine Schwester es nicht überlebte.
»Was hat sie gesagt?«
Er zuckte mit den Achseln. »Sie hat von Bienen gesprochen.«
»Von Bienen?«
»Honigbienen«, erwiderte er. »Die Brummer, die in der Luft herumfliegen.«
»Verstanden. Und warum interessiert sie sich für Bienen?«
»Sie hat mir erzählt, dass derzeit ein Bienensterben stattfindet. Ihre Farm sei nicht betroffen, weil sie grünen Salat anbauen. Aber ihr Nachbar züchtet Orangen. Wenn alle Bienen tot sind, werden die Bäume nicht mehr bestäubt. Sie macht sich weniger Sorgen wegen ihrer Operation am Montag als darum, dass ihr Nachbar seine Farm verlieren könnte. Kinder könnten aufwachsen, ohne je eine Orange zu Gesicht zu bekommen. Wahrscheinlich liebe ich sie deshalb so sehr.«
Wieder breitete sich ein Lächeln – warm und wehmütig – auf seinem Gesicht aus. Dann konzentrierte er sich erneut auf den Verkehr, nahm die Ausfahrt Lincoln Boulevard, bog an der Ocean Park Avenue rechts und danach an der Main Street links ab. Inzwischen hatten sie Venice Beach erreicht und befanden sich zwei Häuserblocks entfernt vom Strand. Als sie endlich in der Navy Street waren, schaltete Rhodes das Blaulicht ab und ließ den Wagen langsam die schmale Straße entlangrollen. Jennifer McBride hatte in einer Wohnung in der Mitte des zweiten Häuserblocks rechts gelebt, und zwar in einem zweistöckigen Backsteingebäude, das die Atmosphäre eines Wohnheims für sozial Gestrandete verbreitete.
Rhodes stoppte vor dem Eingang. Beim Aussteigen musterte Lena das Haus und wurde plötzlich von Beklommenheit ergriffen. Sie betrachtete die anderen Mietshäuser, die dicht am Gehweg standen. Am Ende der Straße war das Meer zu sehen. Eine einsame Palme schwankte in der kühlen Brise.
»Sind Sie wirklich sicher, dass Sie hier parken möchten?«
Lena hörte zwar eine Stimme, aber der Gehweg war menschenleer. Es war eine Männerstimme gewesen, so barsch, dass es beinahe schon unhöflich klang. Allerdings verzerrte der Wind die Richtung, aus der sie kam. Rhodes trat hinter Lena und wies auf ein Fenster im Parterre. Es war zwar offen, doch da ein rostiges Fliegengitter den Blick ins Innere versperrte, konnten sie niemanden erkennen.
»Gibt es ein Problem?«, fragte Rhodes.
»Sie können sicher Verkehrsschilder lesen«, entgegnete der Mann. »Hier ist absolutes Parkverbot.«
»Wir sind von der Polizei.«
»Da lachen ja die Hühner. In so einer Rostlaube. Da hat sich die Stadt aber nicht lumpen lassen.«
Lena und Rhodes traten näher an das Fenster heran. Der Mann versteckte sich zwar weiterhin hinter dem Fliegengitter, doch Lena konnte das Licht eines großen Fernsehers im Wohnzimmer ausmachen. Es lief ein Zeichentrickfilm.
»Wie heißen Sie?«, stieß Rhodes mit zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Ich bin die hübsche Rita, die nette Politesse vom Dienst.«
»Damit meinte ich den Namen, der auf Ihrem Führerschein steht.«
»Ted Jones. Und Ihr Name, Kumpel?«
»Kommen Sie näher, damit wir Sie sehen können, Mr. Jones.«
Rhodes hielt ihm den aufgeklappten Dienstausweis hin. Nach einer Weile näherte sich der Mann dem Fenster, und in Lenas Magen begann sich ein mulmiges Gefühl zu regen. Jones war eine Elendsgestalt und alles andere als hübsch. Ein kleiner, zwergenhafter Mann von etwa vierzig Jahren, der sich heute offenbar die Mühe gespart hatte, sich anzuziehen. Er war nur mit einer Boxershorts und einem alten ärmellosen T-Shirt bekleidet und erweckte ganz den Eindruck, als hätte er seit einer Woche nicht mehr geduscht oder die Wäsche gewechselt. Sein Haar war zwar schütter, doch dichte fettige schwarze Locken fielen ihm über die Ohren. Auch Arme und Rücken waren stark behaart. Allerdings waren es seine Augen, die Lena am meisten zu schaffen machten. Etwas stimmte nicht mit ihnen. Die Iris sah aus wie ausgewaschen und erinnerte an eine vereinzelte Welle, die an den Strand schwappt und im trockenen Sand versickert. Sosehr sie auch versuchte, die Farbe auszumachen, konnte sie sie nicht bestimmen.
Nachdem sie einen Blick mit Rhodes gewechselt hatte, räusperte sie sich.
»Sind Sie der Hausverwalter?«, erkundigte sie sich.
»Nein, mir gehört die Bude.«
»Verbringen Sie viel Zeit an diesem Fenster?«
»Was soll denn dieses Fragespielchen, junge Frau?«
»Wir würden uns gerne in Jennifer McBrides Wohnung umschauen«, erwiderte sie.
»Warum läuten Sie dann nicht bei ihr? Bestimmt macht sie auf.«
Lena trat näher ans Fenster heran. »Wir sind von der Abteilung für Raub und Tötungsdelikte«, antwortete sie. »Jennifer McBride ist nicht zu Hause. Und jetzt ziehen Sie sich an, und öffnen Sie die Tür.«
Jones rührte sich nicht von der Stelle und starrte sie aus seinen merkwürdigen Augen an. Lena bemerkte, dass sein Blick zu ihrer Taille hinunterwanderte. Er hatte die Waffe entdeckt. Endlich schien ihm der Grund ihres Besuchs klarzuwerden, denn er schnappte erschrocken nach Luft.
»Sie ist tot!«
»Offnen Sie die Tür«, wiederholte Lena.
»Einen Moment.«
Jones verschwand im Zimmer. Als der Türöffner surrte, schob Lena die Tür auf. Sie standen in einer kleinen Vorhalle. Der Teppich war fadenscheinig, das ganze Haus wirkte schäbig und heruntergekommen. Während sie die Treppe betrachtete, ging die Tür von Wohnung A auf, und Jones kam heraus. Inzwischen trug er zerschlissene Jeans und eine Brille und hatte einen klimpernden Schlüsselbund in der Hand.
»Folgen Sie mir«, sagte er.
Auf dem Weg in den ersten Stock hinauf knarzten die Stufen unter ihren Füßen. Auf dem Treppenabsatz angekommen, marschierte Jones voraus den Flur entlang zur Wohnung 1B und steckte den Schlüssel ins Schloss.
»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«, fragte Lena.
»Vor ein paar Tagen, glaube ich.«
»Am Mittwoch?«
Jones nickte. »Sie wollte zum Strand. Muss so gegen drei Uhr nachmittags gewesen sein.«
»Wie gut kannten Sie sie?«
»Sie hat pünktlich ihre Miete bezahlt.«
»Hatte sie viele Freunde?«
Er drehte sich um und musterte sie durch seine Brille. Die Gläser waren zwar zerkratzt und von Fingerabdrücken verschmiert, vergrößerten aber trotzdem seine seltsamen Augen.
»Mir ist nie jemand aufgefallen«, erwiderte er und öffnete die Tür. »Was soll ich jetzt machen? In zwei Wochen ist die Miete fällig. Wer ersetzt mir den Schaden?«
Plötzlich nahm Lena den Körpergeruch des Mannes wahr.
»Wir geben Ihnen Bescheid«, entgegnete sie. »Außerdem brauchen wir den Schlüssel.«
»Ich überlege, ob ich ihren Mist zusammenpacken und in den Keller schaffen soll. Diese Wohnung könnte ich in einer Stunde neu vermieten. Schließlich sind wir in Strandnähe, und ich habe eine Warteliste.«
Rhodes drehte sich drohend zu ihm um. »Sie werden nichts dergleichen tun, Jones. Ohne unsere Erlaubnis werden Sie nicht einmal einen Fuß in diese Wohnung setzen.«
»Aber das Haus gehört mir. Ich will mein Geld, verdammt.«
»Schieben Sie sich Ihr Geld sonst wohin«, gab Rhodes zurück.
Er machte einen Schritt auf Jones zu. Lena merkte ihm an, dass er die Gefährlichkeit des kleinen Widerlings abschätzte und sich bemühte, seine Gefühle im Zaum zu halten. Wie verschieden die beiden Männer waren, stach einem auf den ersten Blick ins Auge. Rhodes überragte Jones um mindestens dreißig Zentimeter. Außerdem trug er einen hellbraunen Anzug, ein gestärktes weißes Hemd und eine gemusterte Krawatte. Er strahlte etwas Bedrohliches und gleichzeitig Herrisches aus. Sein Tonfall war ruhig und dennoch unheilverkündend.
»Wie lange hat sie hier gewohnt?«, erkundigte er sich.
Jones schwieg eine Weile. Seine Augen huschten unstet hin und her. »Etwa ein Jahr«, antwortete er schließlich.
»Überprüfen Sie Ihre Mieter auf ihre Kreditwürdigkeit?«
»Ohne Überprüfung zieht hier keiner ein.«
»Dann geben Sie uns den Schlüssel, und holen Sie McBrides Unterlagen. Warten Sie unten auf uns.«
Jones wollte widersprechen, überlegte es sich nach einem Blick auf Rhodes aber anders. Stattdessen nahm er den Schlüssel vom Ring und reichte ihn Lena. Als er endlich verschwunden war, betraten Lena und Rhodes die Wohnung und schlossen die Tür hinter sich.
Rhodes sah Lena wortlos an. Aber Erklärungen wären in diesem Fall auch überflüssig gewesen. Jones war Abschaum, ein Mensch, der sich an Schwächeren schadlos hielt. Von seiner Sorte gab es in Venice Beach mehr als genug. Während sich Stille über die Wohnung senkte, steckte Lena den Schlüssel ein und versuchte, sich Jennifer McBrides Präsenz zu vergegenwärtigen.
Sie standen im Flur, von dem aus man die ganze Wohnung im Blick hatte. Durch eine Glastür konnte sie Wohnzimmer und Kochnische erkennen. Rechts von ihr befanden sich Schlafzimmer und Bad. Als sie sich umdrehte, bemerkte sie einen Tisch an der Wohnungstür. In einem Korb neben einer Lampe lag die ungeöffnete Post von ein bis zwei Tagen sowie eine in der Mitte gefaltete Ausgabe der L.A. Weekly. Lena drehte sich in Richtung Wohnzimmer, um sich ein Bild vom Grundriss der insgesamt höchstens vierzig Quadratmeter großen Wohnung zu machen. Eine kleine Zweizimmerwohnung in Strandnähe. Allerdings war sie – im Gegensatz zu dem heruntergekommenen Gebäude selbst – sauber und frisch gestrichen und verströmte eine friedliche Atmosphäre. Die Wohnung strahlte dieselbe Unschuld aus, die sie auch in den Augen des Opfers gelesen hatte.
Lena bemühte sich, diesen Eindruck festzuhalten, während sie Handschuhe anzog und Rhodes ins Wohnzimmer folgte. Sie betrachtete den Parkettboden, das Sofa und die Sessel. Der Fernseher schien zwar neu zu sein, doch die restliche Möblierung stammte offenbar aus Gebrauchtwarenläden oder vom Flohmarkt.
»Sie hat bescheiden gelebt«, stellte Rhodes fest. »Vermutlich hatte sie nicht viel Geld.«
Als Lena sich umwandte, fielen ihr die Einbauregale an der Wand auf. Das oberste war leer, auf den beiden untersten drängten sich mindestens fünfzig Taschenbücher.
»Und sie hat viel gelesen«, merkte Lena an.
Sie trat näher heran, musterte die Titel und erkannte die meisten Autoren. Bei sämtlichen Büchern handelte es sich um im vergangenen Jahr erschienene Kriminalromane.
Sie warf einen Blick auf Rhodes, der zu dem großen Fenster jenseits des Sofas ging. Die zugezogenen Vorhänge bestanden aus zarter Spitze, durch die ein weiches, harmonisches Licht in den Raum schien. Als Rhodes sie öffnete, erkannte Lena eine Feuerleiter und dahinter eine Backsteinmauer und verstand, warum die Vorhänge geschlossen gewesen waren.
Sie durchquerte das Zimmer und bemerkte einen Aschenbecher draußen auf dem Fensterbrett. Das Nachbargebäude war so nah, dass die Feuerleiter es beinahe berührte. Lena blickte die rostigen Stufen hinunter bis zum Parterre und der engen Gasse, die zwischen den beiden Häusern verlief. Dann schaute sie die Backsteinmauer auf der anderen Seite hinauf und stellte fest, dass sich dort ein Fenster befand, das ihr bis jetzt wegen des Winkels entgangen war. Ein Mann stand dort. Offenbar auch ein Verlierer wie Jones, nur dass er eine Wollmütze trug und ein Fernglas in der Hand hatte. Allem Anschein nach ein Spanner.
»Hübsche Aussicht«, spöttelte Rhodes.
»Der Kerl beobachtet uns. Glaubst du, er wartet darauf, dass Jennifer McBride zurückkommt?«
»Sie kommt aber nicht zurück«, entgegnete er. »Außerdem sind wir hier in Venice Beach. Lass uns weitermachen.«
Sie gingen in die Küche. Während Rhodes die Schränke und Schubladen durchsah, überprüfte Lena den Kühlschrank und den Rest in der Kaffeekanne. Da sie keinen Schimmel an der Oberfläche entdecken konnte, musste sie an Art Madinas Worte denken. Der Pathologe hatte ihr zwar keinen genauen Todeszeitpunkt nennen können, vermutete jedoch, dass sich der Mord in der Nacht vor dem Auffinden der Leiche ereignet hatte. Wenn man dazu noch Jones’ Aussage in Betracht zog, hatte Lena nun hinreichend Bestätigung für Madinas Theorie.
Jennifer McBride war Mittwochnacht ermordet worden.
Rhodes folgte ihr aus der Küche. Methodisch und schweigend durchsuchten sie die kleine Wohnung. Sie hoben Sofapolster an, durchkämmten den Wandschrank im Flur und öffneten die Post, wobei sie auf eine Stromrechnung und die Broschüre einer Kreditkartenfirma stießen, die in Werbespots im Fernsehen versuchte, den Leuten überteuerte Darlehen anzudrehen. Im Bad stellte Lena fest, dass der Duschvorhang an der Wand befestigt war, und hielt Ausschau nach Blutflecken auf den Fliesen. Als sie sich vor die Wanne kniete, bemerkte sie einen dünnen Film aus Seifenresten und fuhr mit dem behandschuhten Finger darüber. Die Duftnote stimmte mit der der Seife überein, die in der in die Wand eingelassenen Seifenschale lag. Sie stammte eindeutig nicht von einem Putzmittel, das zum Saubermachen nach dem Zerstückeln einer Leiche verwendet worden war.
Nachdem Rhodes die Hausapotheke geschlossen hatte, betraten sie das Schlafzimmer. Auf der rechten Seite befand sich ein Fenster. Die Vorhänge waren offen. Von hier aus hatte man nicht Aussicht auf eine Backsteinmauer oder das Fenster eines heruntergekommenen Spanners. Nein, Lena konnte tatsächlich den Pazifik sehen. Ein Wohnblock in einiger Entfernung verdarb das Panorama zwar ein wenig, doch das Bett war genau im richtigen Winkel aufgestellt, sodass McBride morgens beim Aufwachen Blick auf den Strand gehabt hatte.
Während Rhodes die Schubladen durchwühlte, wich Lena einen Schritt zurück und ließ den Raum auf sich wirken. Auf dem Nachttisch stand die Ladestation eines iPod. Neben dem Radiowecker lagen ein weiteres Taschenbuch und ein schnurloses Telefon. Im Schrank befand sich ausschließlich Kleidung.
Jennifer McBride war auf einem Parkplatz entführt und irgendwohin verschleppt worden, bevor der Täter sie ermordet und ihre Leiche in Hollywood entsorgt hatte. Diese Wohnung war eindeutig nicht der Tatort.
Lena beobachtete, wie Rhodes die unterste Schublade in Augenschein nahm. Dabei dachte sie über die bisherigen Ergebnisse nach und kämpfte gegen die Enttäuschung an. Bis jetzt waren sie noch kaum weitergekommen. Jennifer McBride mochte zwar erst fünfundzwanzig Jahre alt gewesen sein, aber sie hatte nur eine einzige Garnitur Bettwäsche besessen. Eine einzige Garnitur Handtücher. Ihre Küche war mit einem Minimum an Gerätschaften ausgestattet, die gerade zur Zubereitung einer Mahlzeit genügten. Sie hatte keinen CD-Spieler oder Lautsprecher und benützte einen iPod. Außerdem las sie keine gebundenen Bücher, sondern ausschließlich Taschenbücher, und zwar etwa eines pro Woche.
Auch wenn sie Geldsorgen gehabt hatte, steckte offenbar noch etwas anderes dahinter. Lena überlegte angestrengt, bis ihr endlich ein Licht aufging.
Alles in dieser Wohnung war transportabel.
Mit Ausnahme der Gebrauchtmöbel, die vermutlich nur ein paar Hundert Dollar wert waren, passte McBrides gesamte Habe in den Kofferraum eines Kleinwagens.
Aber da war noch eine weitere Ungereimtheit, die Lena einfach nicht zu fassen bekam.
Noch einmal ließ sie den Blick durch den Raum schweifen, bis er am Nachtkästchen hängen blieb. Neben der Lampe und dem Telefon stand eine Schneekugel, die ihr vorhin nicht aufgefallen war.
»Ist was?«, fragte Rhodes.
Lena antwortete nicht, um nicht den roten Faden zu verlieren. Stattdessen umrundete sie das Bett und griff nach der Schneekugel. In der schweren Glaskuppel befand sich eine detailgetreue Nachbildung von Las Vegas. Als sie die Kugel schüttelte, wurden das Bellagio Hotel und Caesar’s Palace von dichtem Schneegestöber umweht. Dann senkte sich der Schnee wieder auf die in leuchtendem Gold lackierten Straßen.
Als sie Rhodes musterte, nahm der Gedanke endlich Gestalt an.
Der gesamte Wohnungsinhalt war leicht wegzuschaffen. Doch noch wichtiger war, dass sämtliche persönlichen Gegenstände fehlten. Bei ihrer ersten Durchsuchung der Wohnung hatten sie keinerlei Hinweise auf das Privatleben des Opfers entdeckt.
Kein einziges Foto. Keinen Brief oder eine Postkarte von einem Freund. Keine Spuren aus der Vergangenheit der Toten. Was war ihr wichtig gewesen? Wen hatte sie geliebt? Es gab nur die Bücher, die sie seit ihrem Einzug gelesen hatte, und diese Schneekugel.
Auf dem Nachttisch läutete das Telefon. Als Lena einen Blick darauf warf, stellte sie fest, dass das Lämpchen des Anrufbeantworters blinkte. Nach zweimal Klingeln sprang der Anrufbeantworter an, und es wurde still. Dreißig Sekunden später leuchtete das Lämpchen wieder auf, und die Stimme des Anrufers hallte durch den Raum. Es war eine Männerstimme, die alt und ausgesprochen verlegen klang.
»Hier spricht Jim … äh … Dolson«, sagte der Mann. »Ich versuche, Jennifer zu erreichen. Ich bin gerade aus Cincinnati auf Besuch und … äh … habe Ihre Anzeige in der L.A. Weekly gesehen. Ich wäre sehr an einer medizinischen Massage interessiert, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich bin noch ein paar Tage in der Stadt. Falls Sie kurzfristig Zeit haben, rufen Sie mich bitte zurück. Ich wohne im Plaza in Century City.«
Das Telefon klickte. Das Freizeichen ertönte. Und die Unschuld war schlagartig verflogen.