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»Er hat was mit ihr«, stellte Rhodes fest.
Lena nickte. Es war ihr in dem Moment aufgefallen, als Dietrich Fontaine um den Schreibtisch gefolgt war und sie die Sonnenbräune der beiden bemerkt hatte. Dietrich hielt nicht ihrem Arbeitgeber die Stange, sondern verteidigte ihren Geliebten. Selbst, nachdem sie von McBride erfahren hatte.
Als Rhodes die Hand hob, warf Lena ihm den Autoschlüssel zu. Beim Einsteigen wurde ihr klar, wie schwierig es werden würde, Fontaines zweifelhaftes Verhalten zu deuten. Sie hatte ihm kein Wort geglaubt. Obwohl Fontaine das Mordopfer gekannt hatte, hatte er ihnen frech ins Gesicht gelogen. Allerdings hatte er – abgesehen von Dietrich – noch eine ganze Reihe weiterer Gründe, sein Verhältnis mit einer jungen Prostituierten geheim zu halten. Immerhin war er Kinderarzt, und McBride war eine junge Frau gewesen. Sie hatte sogar noch jünger gewirkt, als sie eigentlich war. Unschuldig.
Die Motive für seine Heimlichtuerei erschienen ihr plötzlich unglaublich bedrückend.
Rhodes fädelte sich in den dichten Verkehr ein, der den Wilshire Boulevard entlangkroch. Lena betrachtete das Meer aus Bremslichtern. Für die zwanzig Kilometer in die Innenstadt würden sie vermutlich zwei Stunden brauchen. Als ihr Mobiltelefon vibrierte, stellte sie fest, dass es Lieutenant Barrera war, und klappte es auf.
»Wo sind Sie?«, fragte er.
Lena schaltete den Raumlautsprecher an, damit Rhodes mithören konnte, und schilderte Barrera dann in groben Zügen, was sie in McBrides Wohnung gefunden und mit wem sie in Beverly Hills gesprochen hatten.
»Also in L.A.«, erwiderte er. »Klingt ganz nach einem Anfang.«
Lena zwang sich vergeblich zu einem Lächeln. »Was ist mit dem Video?«
»Die Kriminaltechnik arbeitet daran, aber sein Gesicht ist noch immer kaum zu erkennen. Wir haben alles nach Fingerabdrücken abgesucht. McBrides Führerschein und den USB-Stick – nicht einmal ein Schmierer. Säuberlich abgewischt.«
»Und der Umschlag?«
»Wieder Fehlanzeige«, antwortete Barrera. »Außerdem haben wir Probleme, den Kurierdienst ausfindig zu machen. Sanchez konnte sich früher von Gericht loseisen und hat einige Anrufe erledigt. Der Auftrag ist bei keinem Kurierdienst in der Stadt vermerkt. Außerdem haben die Kollegen am Empfang sich keine Quittung geben lassen.«
»Was ist mit dem Kurierfahrer?«, erkundigte sich Rhodes.
»Ein junger Bursche, der eine Lederjacke und eine Kappe mit dem Emblem der Dodgers trug. An mehr erinnern sie sich nicht. Er hat keine Unterschrift von ihnen verlangt. Und da wäre noch etwas. Ich habe McBrides Namen mit den Datenbanken abgeglichen, Lena. Keine Vorstrafen oder Auffälligkeiten. Ihre einzige lebende Angehörige ist ihre Mutter, Pamela McBride.«
»Haben Sie die Adresse?«
»Sie wohnt in Van Nuys«, antwortete er. »Odessa Avenue. Gleich nördlich vom Flughafen und östlich der Northridge-Militärakademie.«
»Wir müssen noch heute Abend mit ihr reden«, meinte Lena. »Ich möchte nicht, dass sie es aus den Nachrichten erfährt.«
»Einverstanden«, erwiderte Barrera. »Und zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über den Polizeichef. Ich habe alles geregelt.«
»Und Klinger?«
»Der kann mich mal im Mondschein besuchen. Tun Sie einfach Ihre Pflicht, aber erlauben Sie sich keinen Fehler.«
Lena notierte sich Pamela McBrides Adresse, die Barrera ihr diktierte. Während Rhodes wendete und zurück in Richtung Valley fuhr, steckte sie das Telefon weg und unterdrückte ein angespanntes Gähnen. Allmählich forderte der anstrengende Tag, der gleich mit einer Autopsie begonnen hatte, seinen Tribut. Außerdem hatte sie fast nichts im Magen. Und zu allem Überfluss würde dieser Tag mit der schwierigen Aufgabe enden, einer Mutter vom Tod ihres Kindes berichten zu müssen. Jennifer McBrides Mutter würde erfahren, dass ihr einziges Kind nicht mehr lebte.
Sie grübelte über Fontaine und den Schutzwall nach, den er um sich herum errichtet hatte. Dabei fragte sie sich, ob seine Assistentin nichts als bloße Requisite war. Es war ein schöner Schein, hinter dem sich vermutlich alle möglichen Perversionen verbargen. Der Mann war schuldig, das spürte sie bis ins Mark. Dann fielen ihr die Zigaretten in Rhodes’ Handschuhfach ein. Bis sie eine Stunde später endlich in der Odessa Avenue ankamen, musste sie noch zwei-oder dreimal an die verdammten Glimmstängel denken.
Das Haus, ein kleiner Bungalow im kalifornischen Stil, stand in der Mitte des Häuserblocks und sah aus wie einem Fertighauskatalog aus den frühen Neunzigerjahren entstiegen, sodass man es nur noch von einem Handwerker vor Ort hatte zusammenbauen lassen müssen. Man merkte dem Baustil die Einflüsse des kunstgewerblichen Trends an, der sich damals in den gesamten Vereinigten Staaten großer Beliebtheit erfreut hatte: schlichte Formen, ansprechend gestaltet und mit einen Vorgarten zu beiden Seiten der Vortreppe.
Nachdem Rhodes am Straßenrand gehalten hatte, musterten sie die Fenster. Lena sah durch die Leinenvorhänge einen Fernseher flackern. McBrides Mutter war also zu Hause.
»Bringen wir es hinter uns«, seufzte sie.
»Soll ich es ihr sagen?«
»Ich übernehme das«, erwiderte sie.
Beim Aussteigen wechselten sie einen Blick und beobachteten dann eine Privatmaschine, die im Anflug auf den Regionalflughafen einen Häuserblock südlich beinahe die Baumwipfel streifte. Als sie die Treppe hinaufgingen, bemerkte Lena den unbenutzten Schaukelstuhl auf der Veranda. Sie klopfte an, holte tief Luft und musste wieder an das Zigarettenpäckchen denken.
Eine Weile verstrich. Dann öffnete sich endlich die Tür. Lena las Leid in den Augen der Frau und wusste auf Anhieb, dass Pamela McBride sie erwartet hatte.
»Bitte«, forderte die Frau sie auf. »Es ist kalt draußen. Kommen Sie herein.«
Erst als Lena das warme Haus betrat, wurde sie sich der Außentemperaturen bewusst. In der Küche brannte zwar kein Licht, aber der Duft des Abendessens lag noch in der Luft, eine cremige Tomatensauce, die vermutlich den Großteil des Nachmittags auf dem Herd geköchelt hatte.
Sie drehte sich zum Wohnzimmer um. McBrides Mutter bat sie, Platz zu nehmen, und bot ihnen ein warmes Getränk an. Lena bedankte sich, schüttelte jedoch den Kopf. Als sie sich setzte, bemerkte sie die Kerze auf dem Kaminsims.
»Ich zünde sie jeden Abend an«, erklärte die Frau. »In der Hoffnung, dass alles wieder gut wird und dass Jennifer nach Hause kommt.«
Sie ließ sich auf dem Sofa nieder und schaltete den Fernseher mit der Fernbedienung ab. Während Lena ihr Gesicht betrachtete, kam sie zu dem Schluss, dass die Alterungsspuren ihren Grund in Verzweiflung und Erschöpfung hatten, nicht in der vergangenen Zeit. Obwohl McBrides Mutter höchstens fünfundvierzig Jahre alt sein konnte, wirkte sie eher wie sechzig. Sie war zierlich gebaut und hatte zarte Gesichtszüge. Bekleidet war sie mit einer Kordhose und einem schwarzen Pulli mit V-Ausschnitt.
»Standen Sie sich sehr nah?«, erkundigte sich Lena.
Die Frau lächelte wehmütig und schien gedanklich in der Vergangenheit zu weilen. »Früher einmal. Ganz bestimmt. Es war eine wunderschöne Zeit.«
»Und wann hat sich das geändert?«
»Als sie etwa fünfzehn wurde. Damals wurde mein kleines Mädchen zu einer Frau.«
Lena konzentrierte sich auf ihre Atmung und versuchte, locker zu bleiben. Sie merkte Pamela McBride an, dass sie den Grund ihres Besuchs erahnte. Allerdings war die Frau offenbar in gesprächiger Stimmung, und Lena wollte so viel wie möglich über ihre Tochter erfahren, bevor sie ihr die Hiobsbotschaft überbrachte. Denn dann würde die Mutter vermutlich nicht mehr in der Stimmung sein zu reden, und jede Hintergrundinformation, die sie ihr bis dahin entlocken konnte, brachte sie einer Aufklärung des Falls vielleicht näher.
»Was ist mit Ihrem Mann?«, fragte sie.
»Ich habe Jennifer allein großgezogen. Ihr Vater hat uns verlassen, als sie noch keine fünf Jahre alt war. Ich glaube, sie konnte sich nicht mehr an ihn erinnern und wusste nur, was ich ihr von ihm erzählt habe. Da ich selbst kaum im Bilde war, habe ich mich bemüht, ihn positiv darzustellen. Ihr zuliebe und auch um meiner selbst willen.«
»Haben Sie sich je wieder mit Ihrer Tochter versöhnt?«
Die Frau beugte sich erwartungsvoll vor und machte inzwischen einen sichtlich angespannten Eindruck. »Nach ihrem Auszug entspannte sich die Lage ein wenig. Sie fand eine gute Stelle, aber es wurde nie mehr so wie früher. Ständig hatte ich den Verdacht, dass sie mir nicht alles erzählte und Geheimnisse vor mir hatte. Sie wissen ja, wie Kinder so sein können.«
Lena versuchte, nicht daran zu denken, wie Jennifer McBride ihren Lebensunterhalt verdient hatte. Nicht an den Inhalt ihrer Reisetasche und die Männer, die sie in ihren Hotelzimmern erwarteten. Dennoch musste sie die Frage stellen. Es gehörte nun einmal zu ihrem Beruf.
»In welcher Branche war Ihre Tochter denn tätig?«
Die Frau holte tief Luft und atmete erschaudernd wieder aus. »Sie behauptete, es hätte etwas mit Werbung zu tun. Ich sah, dass sie viel verdiente, das erkannte man schon an der Höhe ihrer Miete. Für viel mehr reichte das Geld nicht. Allerdings schien sie Freude an ihrer Arbeit zu haben, und das war für mich das Wichtigste. Sie wirkte zufrieden.«
»Haben Sie sich oft getroffen?«
»Etwa einmal in der Woche. Normalerweise sonntags zum Abendessen.«
»Hat sie je jemanden mitgebracht?«
»Sie meinen, ob sie einen Freund hatte?«
Lena nickte.
»Nein, hat sie nicht. Ich fand das immer merkwürdig. Bei einem Mädchen mit ihrem Aussehen müssten die jungen Männer doch um den Block Schlange stehen. Aber sie hat nie einen Freund erwähnt.«
Die Stimme der Frau erstarb, und es wurde so still im Zimmer, dass Lena glaubte, die Kerze auf dem Kaminsims brennen zu hören. Sie fing Rhodes’ Blick und sein fast unmerkliches Nicken auf. Nun war der Zeitpunkt da, es ihr zu sagen. Es gab kein Zurück mehr. Lena versuchte, sich die passenden Worte zurechtzulegen. Es musste doch einen Weg geben, es so auszudrücken, dass es sich nicht wie ein Magenschwinger anfühlte. Allerdings sah sie nach einer Weile ein, dass es sinnlos war. Sie konnte die Frau nicht vor der Wahrheit schützen.
»Es tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen«, begann sie. »Aber Ihre Tochter Jennifer ist ermordet worden. Sie ist tot.«
Eine Weile verharrte die Frau stumm und wortlos und starrte Lena nur eindringlich an. Dann lief ihr eine Träne die Wange hinunter. Im nächsten Moment noch eine.
»Können wir irgendetwas für Sie tun?«, fügte Lena hinzu. »Irgendetwas.«
McBrides Mutter wandte sich ab. »Es muss eine Verwechslung sein«, flüsterte sie.
»Tut mir leid, doch ein Irrtum ist ausgeschlossen. Es geschah Mittwochnacht. Ihr Ausweis fehlte. Deshalb hat es so lange gedauert, bis wir zu Ihnen gekommen sind.«
»Ich weiß schon seit zwei Jahren, dass sie tot ist«, sagte die Frau.
Lenas Blick fuhr zu Rhodes hinüber und richtete sich dann wieder auf Jennifers Mutter.
»Was soll das heißen, dass Sie es schon seit zwei Jahren wissen?«
Die Frau begann zu zittern, ihre Stimme war kaum zu hören. »Vor zwei Jahren wurde in North Hollywood ein Bankraub verübt. Drei Männer mit Skimasken. Jennifer war in der Bank. Ich dachte, Sie wären hier, um mir zu erzählen, dass Sie die Kerle endlich geschnappt hätten. Die drei Männer, die Jennifer erschossen haben.«